Wir schreiben das Jahr 2039. Seit 15 Jahren können Kinder in Deutschland bis zu vier Eltern haben, zwei Bioeltern plus zwei sogenannte Bonuseltern mit eingeschränktem Sorgerecht. „Ich bin ein Fan von dem Begriff Bonuseltern, weil ich ihn positiver finde“, hatte 2022 die damalige Familienministerin Anne Spiegel von den Grünen erklärt. Positiver als etwa der Begriff Stiefmutter aus den Märchen!
Vielleicht lag es an diesem sprachlichen Trick: Das neue Gesetz wurde ein Riesenerfolg. Die Produktion von bedruckten Tassen „Der beste Bonuspapa der Welt“ und „Die beste Bonusmama der Welt“ stieg rasant. Die Bioeltern-Varianten waren ebenfalls begehrt. Für eine gewisse Zeitspanne lag die Nachfrage nach Bioeltern- und Bonuseltern-Tassen sogar gleichauf. Aber 2032 boomten Bonuseltern-Tassen erneut, während der Markt für Bioeltern-Tassen kollabierte. Zugleich berichteten Lehrkräfte über Mobbingvorfälle gegenüber Kindern, die ohne Bonuseltern aufwachsen mussten.
2033 erregte etwa ein Fall in Krefeld großes Medienaufsehen. Wie viele Kinder damals lebten der achtjährige Joshua und sein sechsjähriger Bruder Keanu eine Woche bei Biomutter und Bonusvater und die andere bei Biovater und Bonusmutter. Drei Bonusgeschwister wechselten ebenfalls wöchentlich in die Gegenrichtung. „Wieso eigentlich“, soll sich Joshua während einer Mathestunde gefragt haben, „wird uns Kindern ohne jede Not immer ein Bonuselternteil vorenthalten? Das ist doch fies.“
Doch Joshua hatte eine „geniale Verbesserungsidee“, die die Brüder noch am Nachmittag den vier Eltern unterbreiteten: „Wenn jeweils Bonus- und Bioeltern zusammenziehen und ihre Kinder tauschen, dann haben wir alle einen Bonus. Ist das nicht super?“ Die überrumpelten Bio- und Bonuseltern ließen sich darauf ein. Zwei Jahre lief dieses Modell reibungslos, alle waren glücklich. Joshua und Keanu erzählten stolz in der Schule: „Wir sind 100 Prozent Bonuskinder!“ Worauf Kinder, die 100 Prozent Biokinder waren, manchmal in Tränen ausbrachen.
Eines Tages aber kam Keanu – so berichteten die Medien – weinend zu Joshua. Man habe ihn übelst verspottet, weil er mit einem Biobruder zusammenwohne, nämlich Joshua. Der tröstete Keanu, während er gleichzeitig überlegte, wie er ihn durch eine Bonusvariante austauschen könnte. Das gelang. Von da an wuchs Joshua in einer Familie auf, in der es ausschließlich Bonusbeziehungen gab. Das Modell wurde hierzulande bald tonangebend. Seit 2036 gilt Deutschland daher als das progressivste Land der Welt.
Vergessen wird dabei, dass bereits 7000 v. u. Z. in Çatalhöyük, der ersten menschlichen Großsiedlung, die Menschen in Haushaltsgemeinschaften selten genetisch verwandt waren. Das zumindest behaupteten 2022 die beiden Davids Graeber und Wengrow in ihrem Bestseller Anfänge. Seit 2037 stören zudem seltsame Statistiken die Idylle. Offenbar versterben immer mehr Menschen, kurz nachdem sie Biomutter oder Biovater geworden sind. Treppenstürze, Autounfälle, jemand erstickt an einer Fischgräte oder wird von einem Blumentopf erschlagen: Derartige Unfälle häuften sich so sehr, dass 2038 eine Arbeitsgruppe zur Aufklärung dieses Phänomens eingesetzt wurde.
Und gestern, liebe Leser aus dem Jahr 2039, kam endlich die Wahrheit ans Licht. Die Polizei beschlagnahmte 437 Computer einer Firma, die sogenannte Bioelternbonifizierungen anbot. Bioeltern bezahlten bis zu 50.000 Euro für einen gefälschten Totenschein sowie eine neue Identität, um von ihren eigenen Kindern für Bonuseltern gehalten zu werden. Unfassbar, was Leute tun, nur um mit einem Bonus ausgezeichnet zu werden.
Kommentare 8
Anne kann eben alles! Karriere, vier Kinder und einen BioBonusMann, im SchottenRock!
lustig, naja boni verzogen im aufsichtsrat und als besserbürgerin in politik, corona bonus, solaranlagen bonus ua. aber zum kern, in altirland wuchs man in einer gastfamilie auf. ich habs überall besser gehabt als bei meinen eltern. meine großmutter liebte ihre ziehmutter, ihre mutter zwang sie dort weg zum arbeitseinsatz in deren florierendem geschäft. in der großbürgerlichen whg wurde ein klappbett im flur aufgestellt.
Im Jahr 2039 werden die Lebenden komplett andere Probleme haben.
Bioeltern ohne zusätzliche Bonuseltern sind uncool? Was für ein Quatsch!
Bioeltern können gut oder schlecht sein für die Kinder, Bonuseltern auch.
Normale Familien können gut oder schlecht funktionieren, Patchworkfamilien auch. Letztere haben natürlich besonders hohe Hürden zu überwinden, alle Beteiligten müssen das wollen.
Jenseits der Zeitgeist-Utopien aus diesem Text, sieht es in der Realität so aus, dass sich sehr viele Bioeltern trennen, die Kinder oft bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen - häufig mit Armutsproblemen. Daran kann ich zunächst mal viel Negatives erkennen! Es wäre zu ergründen, wie man das verbessern kann, damit mehr harmonische Beziehungen entstehen können, die dann auch halten. (Ohne deswegen Menschen veruteilen zu wollen, die sich trennen - ganz im Gegenteil!)
Aus meiner Sicht sind der Hauptgrund für das Scheitern vieler Beziehungen und die Vereinzelung der Menschen, der Stress, der den Menschen im Hamsterrad des Kapitalismus auferlegt wird - und die Angst vor dem Absturz bei Nichtfunktionieren.
Klasse Glosse!
Die Altvorderen auf der Insel trieben es ganz dolle:
It takes a village to raise a child.
Naja, das Thema wird uns (leider) noch eine Weile beschäftigen.
Die Produktion hat sich der Kapitalismus bereits zu einem überwältigend hohen Prozentsatz gesichert, demnächst bemächtigt er sich auch der Reproduktion.
Wo steht denn geschrieben, dass man jederzeit in gegenseitigem Einvernehmen zum Fick schreiten dürfe und dann gegebenenfalls ein gemeinsames Produkt sein eigen nennen darf? Wer nimmt dafür Lizenzgebühren? Wo bleibt die Privatisierung? Ein Skandal! Reine Wildnis.
Sobald der ursprüngliche Familienverbund erst einmal aus den Angeln gehoben wurde, fallen die nächsten Bindungen wie Dominosteine. Bindungen, Abhängigkeiten .... nein, frei wollen wir sein. Freie Kälber wählen ihre Schlächter ... quatsch, niemand hat die Absicht, eine frei verfügbare Demokratie zu opfern.
Vielleicht sollten wir die Aufzucht der Kinderinnen und Kinder einfach KI-Robotern anvertrauen. Elternschaft könnte sich dann aufs Poppen und Geldanschaffen beschränken (Austragung im Brutkasten), und die KI-Roboter können die Kinderinnen und Kinder in absoluter Gleichförmigkeit aufziehen, so dass niekind jemals wieder weinen müsste, weil das Kind nebenan eine rote Puppe und kind selbst nur eine blaue Puppe hätte. Weinen und Traurigkeit könnten endlich verboten werden, positive Fröhlichkeit hätte endgültig gewonnen, das positiv-verbindliche Lächeln könnte zusätzlich von Biohackern noch genetisch festgezurrt werden.
Das Ganze hätte den weiteren Vorteil, dass sich die menschliche Spezies vollständig in eine Ansammlung monadischer Soziopathen umwandeln könnte, die sich lustvoll selbstermächtig schon nach einer kurzen Zeitspanne des Lebens mit nicht ausagierten Aggressionen gegenseitig an die Kehle gingen, wodurch der Planet schon bald die wohlverdiente Ruhepause erhielte, welche die Abwesenheit "intelligenter" Wesen mit sich brächte. Und die Evolution vielleicht auch Zeit hätte, um darüber nachzudenken, wie die abermalige Entwicklung "intelligenter" Wesen verhindert werden könnte.
"[...] so dass niekind jemals wieder weinen müsste, weil das Kind nebenan eine rote Puppe und kind selbst nur eine blaue Puppe hätte."
Insgesamt ein Kommentar, der es in sich hat...
Kleine Korrektur, auf die Feinheiten kommt es schließlich an: Die Puppen sind durchgehend in ROSA oder HELLBLAU gestaltet (DIN 0815).