Lässt sich Gefährlichkeit messen?

Sicherungsverwahrung Ein neuer Gesetzentwurf soll Klarheit in die vielmals kritisierte „Haft nach der Haft“ bringen. Experten zeigen Mängel auf
Gefährliche Straftäter bleiben unter Überwachung
Gefährliche Straftäter bleiben unter Überwachung

Foto: Oliver Berg / dpa / lnw

"Sex-Straftäter raus aus Chemnitz. Hau ab!“ Solche Parolen, aus denen Wut und Abscheu aufgebrachter Bürger sprechen, die sich gegen aus der Haft entlassene Straftäter richten, hat es in den vergangenen Monaten häufiger gegeben. Die Vorgeschichte: Im Mai 2011 beanstandete das Bundesverfassungsgericht die deutschen Regelungen zur Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig, weil nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Es folgte damit dem vorausgegangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der zentrale Kritikpunkt: Die Sicherungsverwahrung gleiche zu sehr der Haft und damit einer Strafe. Die aber hat der Täter zuvor bereits verbüßt. Die Verwahrung soll per Definition keine neuerliche Strafe sein, sondern in erster Linie die Bevölkerung vor einem gefährlichen Straftäter schützen. Ein kleiner Teil der rund 500 Verwahrten musste auf diese Urteile hin unvorbereitet entlassen werden – was zu den Protesten in den betroffenen Gemeinden führte.

Kaum überschaubar

Diese Situation soll sich nun ändern. Bis Mai 2013 muss die Bundesregierung nun die Regelungen reformieren. Seit Juli liegt ihr Gesetzentwurf vor. Kann er eine Wende bringen?

Nach der geplanten Neuregelung untergliedert sich die Sicherungsverwahrung künftig in eine kaum überschaubare Fülle. Da wäre die „vorbehaltene“, die „nachträgliche“ und die „primäre“ Sicherungsverwahrung und dann die „Therapieunterbringung“, auch sie nichts weiter als eine kaschierte nachträgliche Sicherungsverwahrung. Zwar stehen den Verwahrten nun ein Anspruch auf Therapie, mehr Platz in der Zelle und andere Privilegien zu. Aber die eigentlich heiklen Fragen, nämlich wie ein Gewalttäter in Verwahrung gelangt und wie er daraus freikommt, hat man weitgehend ausgeklammert. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht sogar die Frage aufgeworfen, ob der Gesetzgeber überhaupt an der Sicherungsverwahrung festhalten wolle. Wissenschaftler üben nun deutliche Kritik an der Halbherzigkeit der geplanten Neuregelung. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) beschwerte sich im September sogar bei den Gesundheitsministern der Bundesländer. Denn in die nachträgliche Verwahrung können künftig weiterhin Täter gelangen, wenn sie „eine psychische Störung“ haben.

Der Begriff der psychischen Störung „ist so vage, dass wir eine Flut von gesunden Straftätern mit angeblicher Störung in der Sicherungsverwahrung fürchten. Denen können wir nicht helfen, weil sie nicht krank sind“, erklärt der Vorsitzende der DGPPN Peter Falkai. Umgekehrt würden dadurch Kranke stigmatisiert. Wenn eine Schizophrenie Grund genug ist, einen Straftäter von der Gesellschaft auszuschließen, wachsen die Berührungsängste vor Schizophrenen im Allgemeinen.

Tatsächlich stellten Gutachter in Bayern bei vier Inhaftierten einmal eine Schizophrenie, zweimal eine Psychose und einmal eine Störung der sexuellen Neigung fest – darunter Fetischismus. Alle vier kamen in die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Auch eine gestörte Persönlichkeit taugt künftig als Argument fürs Wegschließen, kann man der Begründung des Gesetzentwurfes entnehmen. Aktuell begutachtet man den „Vanessa-Mörder“ in Bayern auf eine mögliche psychische Störung hin. Bei dem nun 29-Jährigen seien während der zehnjährigen Haft Tötungsfantasien offenbar geworden – in Briefen und Gesprächen, berichtet Psychologe Johann Endres vom kriminologischen Dienst des bayerischen Justizvollzugs in Erlangen. Die Gedankenwelt des Mannes bewertet Endres als triftigen Grund für eine Sicherungsverwahrung. Sein Wort hat Gewicht, denn er ist immerhin Gutachter für Fälle wie den Vanessa-Mörder.

Pseudo-Gutachten

Die andere Säule, auf die sich die Verwahrung seit langem stützt, sind Gefährlichkeitsprognosen. Auch ihr Status bleibt im Gesetzentwurf unangetastet. Gutachter leiten aus der Biografie, aus Persönlichkeitsmerkmalen und Befragungen ab, wie wahrscheinlich ein Rückfall ist. Wird ein Gewalt- oder Sexualstraftäter als gefährlich eingeschätzt, kann sich das Gericht zu einer Verwahrung entschließen. Endres, selbst Gutachter, hält die Prognosen für „sehr verlässlich“. „Anhand von Merkmalslisten und von Risikofaktoren etwa Pädophilie, Persönlichkeitsstörungen und einer Suchtproblematik kann man das gut einschätzen.“

Doch Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie in Tübingen, widerspricht: „Viele Gutachten überschätzen die Gefährlichkeit.“ Nach einer seiner Studien wurden von 22 Verwahrten mit schlechter Prognose später nur zwei schwer rückfällig. Der eine beging einen Raubüberfall, der andere Brandstiftung. „Viele werden zu Unrecht auf Dauer inhaftiert“, urteilen die Bochumer Kriminologen Thomas Feltes und Michael Alex. Sie stützen sich auf eine eigene Untersuchung: Von 67 nachträglich Sicherungsverwahrten mussten sich 23 erneut vor Gericht verantworten. Drei wegen schwerer Taten, wie sie die Verwahrung verhindern soll.

Von den rund 70 Männern, die seit 2010 vorzeitig aus der Verwahrung entlassen wurden, sind bisher zwei rückfällig geworden. Ein 55-Jähriger kam wegen Raubes und Körperverletzung für dreieinhalb Jahre erneut in Haft und wird anschließend wieder sicherungsverwahrt. In Dortmund wurde im vergangenen Jahr ein 49-Jähriger festgenommen, der nach dem Ende der Polizeiüberwachung eine Siebenjährige missbraucht hat. Ein dritter steht unter Verdacht, trotz elektronischer Fußfessel ein Mädchen sexuell belästigt zu haben.

Unstreitig geht von einigen Tätern eine Gefahr aus. Doch der Mehrzahl wird den Studien und Erfahrungen zufolge ein zu hohes Risiko unterstellt. „Aus Furcht, bei einem Rückfall an den Pranger gestellt zu werden, halten die meisten Gutachter und Gerichte die Täter für gefährlicher als sie sind“, glaubt Kinzig.

Die Erfahrungen des Freiburger Bewährungshelfers Peter Asprion deuten jedoch noch auf ein anderes gravierendes Problem hin: Sechs aus der Sicherungsverwahrung Entlassene betreute er in den vergangenen Monaten persönlich. „Teils glichen sich die Gutachten aufs Wort und oft ist der Erstautor auch derjenige, der weitere Gutachten in den Folgejahren verfasst.“ Dabei gilt die Zweitbegutachtung in der Wissenschaft als das Maß aller Dinge, und das Plagiat ist höchst verpönt. Doch bei den Gefährlichkeitsprognosen scheint weder das Abschreiben noch die Einzelmeinung tabu zu sein. Darauf deutet auch ein Fall hin, über den die Süddeutsche Zeitung berichtete. Der Würzburger Psychiater Pantelis Adorf begutachtete jüngst den Vanessa-Mörder. Vor Gericht musste er jedoch einräumen, weite Teile seiner Einschätzung von anderen Wissenschaftlern übernommen zu haben, ohne dass diese Passagen in irgendeinem Bezug zum Täter standen.

Keine Fairness

„Man kann nicht einmal sagen, ob mit dem neuen Gesetzentwurf nun weniger oder mehr Menschen als bisher sicherungsverwahrt werden“, analysiert Kinzig. Der vage Begriff der psychischen Störung und das flexible Instrument der Gefährlichkeitsprognose eröffnen Gutachtern, Richtern und den Bundesländern Spielräume, die Täter entweder von der Gesellschaft fernzuhalten oder eben nicht. Fairness und Gleichbehandlung kann man im Räderwerk der Verwahrung auch künftig nicht unbedingt erwarten. Darauf weist schon die Erfahrung mit dem Therapieunterbringungsgesetz von 2011 hin. Dem zufolge rechtfertigt eine psychische Störung erstmals das Wegsperren. Nirgendwo sind so viele Personen therapieuntergebracht wie in Bayern, legt Asprion in seinem Buch Gefährliche Freiheit? dar. Die bayerischen Täter sind aber weder psychisch gestörter noch rückfälliger als anderswo.

Kinzig befürchtet gar, dass die Neuregelung in Teilen spätestens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gekippt wird. Kinzig warnt: „Möglicherweise müssen dann wieder Menschen unvorbereitet in die Freiheit entlassen werden. Und die Angst in der Bevölkerung wird erneut hochkochen.“

Susanne Donner berichtete im Freitag zuletzt über Sexualwissenschaft in der Krise

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