Es herrschte Ratlosigkeit in den Medien, als die schwedische Akademie ihren diesjährigen Literaturnobelpreisträger verkündete: Gao Xingjian, Chinese, geb. 1940, Dramatiker, Romancier, Übersetzer und Tuschmaler. "Eine politische Wahl", so hieß es allenthalben, denn Gao hat einen französischen Pass und lebt seit 1987 in Paris. Die Machthaber in Peking erfahren derzeit viel unliebsame Aufmerksamkeit aus dem Westen. Erst sprach der Papst pünktlich zum Jahrestag der Gründung der Volksrepublik christliche Märtyrer in China heilig, dann kürte das Nobelpreiskomitee einen chinesischen Autor, den man in Pekings offiziellen Stellen nicht mehr kennen will. Die Kulturabteilung der chinesischen Botschaft in Paris wird mit der Frage zitiert: "C'est un Chinois?"
Ein Signal also an alle chinesischen Dissidenten? Doch Gao möchte diesen Begriff nicht auf sich angewendet wissen. Er sieht sich nicht als politischer Aktivist, sondern als Kunstschaffender. So war es auch nicht oppositionelle Agitation, sondern das Experimentieren mit neuen künstlerischen Ausdrucksformen, das ihm in den achtziger Jahren den nachhaltigen Unwillen des Regimes eintrug. Dass er in der Volksrepublik ein Unbekannter sei, kann wohl für die Kulturbürokratie, nicht aber für einschlägige Fachkreise gelten. Vergangenes Jahr wurde sein Drama Ba yue xue (Augustschnee) in der Zeitschrift Jinri xianfeng (Avantgarde heute, 7/1999), herausgegeben vom ehemaligen Kulturminister Wang Meng an der Sozialwissenschaftlichen Akademie Tianjin, Auflage 7000 Exemplare) als eine neue Form des chinesischen Theaters gefeiert, die Gao durch die Einführung zen-buddhistischer Elemente in das Drama geschaffen habe, und sein Stück Bi'an (Am anderen Ufer) war 1995 trotz offiziellem Aufführungsverbot Gegenstand eines Workshops an einer Pekinger Schauspielschule gewesen. Also sicherlich kein Mainstream-Autor in dem sich mittlerweile kommerzialisierenden chinesischen Literaturbetrieb, wohl aber ein auch in seiner Heimat nach wie vor geschätzter Vorreiter auf seinem Spezialgebiet, dem Drama.
Von einer "politischen Wahl" ist ja immer auch dann gern die Rede, wenn literarische Kriterien zur Bewertung des Geehrten fehlen. Die Kulturredaktionen der deutschen Medien taten sich in dieser Hinsicht ganz besonders schwer, denn es gab von dem Ausgezeichneten auf Deutsch so gut wie nichts zu lesen (einzig - inzwischen auch nicht mehr - lieferbarer Titel: Sascha Hartmann, JA oder/und NEIN. edition cathay, Projekt Verlag Dortmund). Die wenigen übersetzten Texte (drei seiner frühen Theaterstücke sind im Ein-Mann Verlag Norbert Brockmeyer, Bochum, erschienen, das Drama Die Busstation zusätzlich in einem Sammelband des Henschel Verlags Berlin) kümmerten unbeachtet in den Nischen der sinologischen Fachliteratur dahin und sind auf dem Buchmarkt längst nicht mehr präsent. Das ist symptomatisch für den Umgang der großen deutschen Publikumsverlage mit der chinesischen Gegenwartsliteratur. Doch wen wundert das in einer selbstgenügsamen Kulturlandschaft, in der Kritiker damit kokettieren, noch nie ein chinesisches Buch gelesen zu haben. In Frankreich dagegen ist Gaos Roman Lingshan (Berg der Seele) bereits in 10.000 Exemplaren verkauft; eine englische Übersetzung des umfangreichen Werkes liegt seit Sommer diesen Jahres vor.
Während die Tagespresse nun mutmaßt, auf welch verschlungenen Wegen die Entscheidung der Stockholmer Jury wohl zustande gekommen ist, lohnt ein eingehenderer Blick auf Werdegang und Werk des Autors Gao Xingjian. Die allgemeine Ratlosigkeit drückt sich schon darin aus, dass derzeit in der Presse die drei südostchinesischen Provinzen Jiangsu, Zhejiang und Jiangxi als Geburtsregionen des Literaturnobelpreisträgers zur Auswahl stehen, was immerhin Spielräume von vielen hundert Kilometern zulässt. Letzteres, nämlich Jiangxi, ist richtig. Einigkeit herrscht immerhin über das Geburtsdatum am 1. 4. 1940. Gao zählt damit zur Generation derjenigen, die ihre Ausbildung noch vor Beginn der sogenannten Kulturrevolution (1966-76) abschließen konnten. Im seinem Fall war dies ein fünfjähriges Studium des Französischen am Pekinger Fremdspracheninstitut (1957-62). Wie alle Intellektuellen schickte man ihn im Rahmen der Umerziehungskampagnen aufs Land, wo er von den Bauern und Werktätigen lernen sollte. Zuvor verbrannte er einen Koffer voller Manuskripte, darunter mehrere Dramen und einen Roman, deren Entdeckung seine Situation nur verschlimmert hätte.
Nach der Rehabilitation arbeitete Gao seit 1978 als Redakteur bei der Zeitschrift China im Aufbau und wurde später als Dolmetscher und Übersetzer beim Allchinesischen Schriftstellerverband angestellt. Seine Sprachkenntnisse verschafften ihm die Möglichkeit zu Reisen ins Ausland und den Zugang zu einer Literatur, die ihm in Peking nicht zugänglich gewesen wäre. Gleichzeitig leistete er als literarischer Übersetzer seinen Beitrag zur Vermittlung dieser Literatur in seine Muttersprache, indem er unter anderem Ionescos Die kahle Sängerin ins Chinesische übertrug. In diese Zeit fallen erste Publikationen, die ihm die Aufnahme in den Schriftstellerverband eintrugen. Man rechnet Gao der sogenannten "skeptischen Generation" der chinesischen Gegenwartsliteratur zu, die der Sinn- und Existenzkrise der Kulturrevolution vielfältigen, literarischen Ausdruck zu verleihen suchten. Während in der "Narbenliteratur" die bitteren Erfahrungen der Intellektuellen mit ihrem Staat aufgearbeitet wurden und die Lyriker der als "obskur" abgestempelten Gruppe um Bei Dao, Gu Cheng und Shu Ting dem Regime mit grimmigem Pessimismus das Recht auf die Darstellung der eigenen Weltsicht abtrotzten, trat Gao 1981 mit einem Essay zum literarischen Handwerk an die Öffentlichkeit (Versuch zur Technik des modernen Erzählens).
Welche politische Brisanz dem Experimentieren mit neuen Stilmitteln und Gattungen damals innewohnte, zeigt die staatlicherseits eingeleitete "Kampagne gegen geistige Verschmutzung", die sich gegen die modernistischen Tendenzen jener "Weichlinge und Westverehrer" wandte und in einem zentralistisch gelenkten Publikationswesen massive Repressalien zur Folge hatte. Gao, der seit 1981 als Dramaturg und Stückeschreiber am Pekinger Volkskunsttheater arbeitete, hat diese formalen Neuerungen vor allem auf der Bühne umgesetzt. In seinem Rückblick Mein Verhältnis zu Brecht schreibt er: "Ich glaube, wenn ein Künstler wirklich etwas leisten will, muss er sich zuerst ein Spezialwissen über die Kunstgattung aneignen, aber sein eigenes künstlerisches Schaffen darf keine Nachahmung auf der Grundlage seines neuen Wissens sein. Brecht bietet uns ein solches noch nie dagewesenes Drama. Durch ihn habe ich verstanden, dass ein Drama auch epischer Natur sein kann." Also erzählte Gao mit kargsten Requisiten und typisierten Figuren auf der Bühne in einer Weise Geschichten, die für das in China ohnehin erst junge Sprechtheater absolut revolutionär war. Dabei ging es um die gesellschaftlichen Ursachen für die Irrwege Jugendlicher (Das Notsignal, uraufgeführt in Peking 1982), oder um das schwindende Vertrauen einer Gruppe erfolglos Wartender in das Busunternehmen, sprich den Staat (Die Busstation, uraufgeführt in Peking 1983).
Die Busstation, ein oft mit Becketts Warten auf Godot verglichenes Stück, wurde Gaos literarischer Durchbruch, machte ihn aber zugleich zur Zielscheibe massiver Kritik. Die darin abgebildete Absurdität und der Sinnverlust menschlichen Daseins könne, so die offizielle Kritikermeinung, allenfalls in den bürgerlich-dekadenten Gesellschaften des Westens angetroffen werden, nicht aber im sozialistischen China, und sei "das Schädlichste, das seit Errichtung der Volksrepublik geschrieben wurde". Die Wartenden an der Busstation finden sich nämlich, ganz und gar nicht im Beckettschen Sinne, am Ende zu einem gemeinsamen Aufbruch in ein selbstbestimmtes Handeln zusammen: DER BRILLENTRÄGER: ... Wir haben uns unsere Blindheit selbst zuzuschreiben und somit auch die Warterei. Gehen wir, alles weitere Warten ist sinnlos." und am Ende des Stücks: "... Die Zeit ist keine Haltestelle ... Auch das Leben nicht [...] Los!" Um sich den Folgen der Kritikkampagne zu entziehen, ging Gao für ein halbes Jahr in die Wälder. Er durchwanderte die Gegend um den Yangzi-Fluss, beschäftigte sich mit dort noch lebendigen und von den kommunistischen Machthabern als Aberglauben verteufelten daoistisch-schamanistischen Traditionen und begab sich damit, wie viele seiner Schriftstellerkollegen Mitte der achtziger Jahre, auf die "Suche nach den Wurzeln". Diese Erfahrungen gingen in das vom Autor als "mehrstimmiges Geschichtspoem" bezeichnete Stück Die Wilden (uraufgeführt in Peking 1985) ein, sowie in den Roman Lingshan, der in China begonnen und in Paris beendet wurde, wohin der Autor 1987 übersiedelte.
Gao Xingjian, der mittlerweile seine Werke zunächst auf Französisch und dann erst auf Chinesisch verfasst (publiziert werden letztere in der chinesischen Exilzeitschrift Jintian/Today und in der inzwischen demokratisch regierten Inselrepublik Taiwan) empfindet seine Situation, wie er in einem Interview für den Bayerischen Rundfunk betonte, nicht als Exil. Er habe keinen "China-Komplex" wie manche seiner Kollegen im Ausland, betont er, also keine Angst vor dem Verlust seiner chinesischen Identität. Er habe ein neues Publikum gewonnen, das ihm für seine zum Teil aus chinesischen Traditionen schöpfenden Werke ein Echo biete. Ähnlich dem jüngeren Kollegen Ha Jin, der, ebenfalls 1987 ausgereist, heute in den USA erfolgreich für ein englischsprachiges Publikum schreibt (dt. Warten bei dtv premium), ist es Gao durch seine frühe Auseinandersetzung mit westlicher Sprache und Literatur gelungen, sich auf der Bühne der Weltliteratur Gehör zu verschaffen. Wenn die Schwedische Akademie in ihm auch einen Wegbereiter der westlichen Moderne in China ehrt, dann sollte dem nicht das Verdikt des Epigonalen anhaften. Man sollte vielmehr bedenken, dass Brecht seine Theorie des epischen Theaters unter dem Eindruck seiner Begegnung mit der Pekingoper entwickelt hat. Produktive Zirkelschlüsse dieser Art sind es, die eine neue künstlerische Formensprache hervorbringen. Zu hoffen ist, dass die Wahl der Juroren den Blick auch auf die chinesischsprachige Gegenwartsliteratur lenkt, die in der Volksrepublik und auf Taiwan geschrieben wird. Dort gäbe es eine Menge Interessantes zu entdecken. Sollte die chinesische Literatur im Jahr 2002 tatsächlich auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast sein, wie derzeit erwogen wird, so bliebe den deutschen Verlagen noch eine Galgenfrist, wenn sie nicht noch einmal mit leeren Händen dastehen wollen.
Susanne Ettl-Hornfeck ist Sinologin und literarische Übersetzerin und lebt in München.
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