Beinahe im Wochentakt lässt sich in wissenschaftlichen Berichten nachlesen, welche Folgen wachsende Arbeitsbelastung hat. Entgrenzung im Corona-Homeoffice, zunehmende Anforderungen im Betrieb und zusätzlicher Stress in der Verwaltung – das bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit von vielen Menschen. In Pandemiezeiten gerät, auch das zeigen Studien, auch noch eine gerechtere Verteilung der Sorgearbeiten zu Hause unter Druck.
Ausgerechnet vor diesem Hintergrund plant die sich anbahnende Ampelkoalition eine Aufweichung der Arbeitszeitregeln. Was da im Sondierungspapier mit Worthülsen wie „flexible Arbeitszeitmodelle“ und „Experimentierräume“ freundlich verkleidet wird, führt in Richtung gesellschaftspolitischer Rückschritt zu Lasten der Beschäftigten. Und dabei geht es nicht nur um die Gesundheit von Abertausenden Beschäftigten.
Es geht auch um Demokratie. Schon heute ist die Arbeitswelt für viele zu einer immer schneller rotierenden Stress-Maschine geworden, die immer mehr Zeit frisst. Überstunden, pausenloses Arbeiten und unregelmäßige Jobzeiten erhöhen nicht nur das Risiko von Erkrankungen. Studien haben gezeigt, dass hohes Arbeitspensum auch negative Folgen für das Sozialleben hat, das Gefühl, den Beruf mit dem Privatleben ausreichend vereinbaren zu können, schwindet.
Arbeit statt Leben
Arbeitszeit ist nicht nur Lebenszeit, ihre Dauer bestimmt auch das Maß der Verfügungsmacht, welche „Arbeitgeber“ auf die Gestaltung unserer privaten und gesellschaftlichen Belange haben. Ob ich noch rechtzeitig nach Hause komme, um mit meinem Sohn zu spielen; ob ich noch ausreichend Gelegenheit habe, mich auszuruhen, einem Hobby nachzugehen, mich der Familie und Freund:innen zu widmen – oder eben ob noch Zeit und Kraft für gesellschaftliches Engagement übrig ist, für Demokratie. Denn die will „gelebt werden“, wie es immer so schön heißt, und dafür braucht man Zeit.
Der im Ampel-Sondierungspapier aufgezeichnete Schritt in Richtung »Flexibilisierung« der Arbeitszeit würde die bestehenden Schutzvorschriften zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit schwächen. Dabei wären bestimmte gesellschaftliche Gruppen stärker betroffen als andere. Dieser Tage ist eine Studie erschienen, die zeigt, dass unter Corona-Bedingungen Frauen eher von gestiegener Arbeitsbelastung berichten. Im Osten sind nicht nur die Arbeitswege deutlich länger als im Westen, auch die Arbeitszeit liegt dort im Durchschnitt mit 38,6 Stunden pro Woche heute immer noch höher als die im Westen im Jahr 1990, wo es damals 38,4 Stunden waren. Wer in Betrieben ohne Tarifvertrag angestellt ist, hat im Schnitt fast eine Stunde länger pro Woche zu arbeiten. Wo Personalmangel herrscht, zum Beispiel, weil öffentliche Daseinsvorsorge jahrelang kleingespart wurde, müssen dies Beschäftigte oft durch Überstunden ausgleichen – und das, so wie vielfach auch in der Privatwirtschaft, oft unbezahlt.
Gewerkschaften warnen vor den Ampel-Plänen nicht zuletzt deshalb, weil die Aufweichung von Arbeitszeit-Regeln gerade in Dienstleistungsbereichen durchschlagen würde, wo es eine schwächere Mitbestimmungsstruktur gibt – also auch ein erhöhtes Erpressungspotenzial von Beschäftigten. Wenn die Unternehmen dann die Möglichkeit in die Hand bekommen, leichter „flexible“ Arbeitszeitmodelle zu ihren Gunsten durchzusetzen, werden sich Belegschaften eher dafür entscheiden, wenn zugleich mit Jobabbau gedroht wird.
Aber was ist mit denen, die gern und freiwillig mehr oder „flexibler“ arbeiten wollen? Das zweifellos bestehende Bedürfnis nach mehr eigenständiger Kontrolle über die Verteilung der Arbeitszeit ist nachvollziehbar. Gegen Regeln, welche die Zeitsouveränität der Beschäftigten stärken, individuellen Stress mindern oder die Vereinbarkeit des Jobs mit zum Beispiel der Familie verbessern, ist auch gar nichts einzuwenden.
Weniger Freiheit durch Flexibilisierung
Aber „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit wie sie in den Ampel-Farben sich ankündigt, führt unter den gegebenen betrieblichen Machtverhältnissen im gesellschaftlichen Durchschnitt eben nicht zu zusätzlichen Freiheitsgraden für alle. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung hat gerade erst wieder auf die Forschung dazu verwiesen, die zeige, „dass die Freiwilligkeit und Leidenschaft nur auf eine kleine Gruppe der Beschäftigten zutrifft“, zudem schütze der eigene Wunsch nach mehr zeitflexiblem Arbeiten nicht davor, dass dies „vor allem auf Dauer ungesund und vereinbarkeitshinderlich ist“.
Und, so wäre hier noch zu ergänzen: Es ist auch eine demokratiepolitische Frage. In die Regeln zur Arbeitszeit eingeschrieben ist nämlich, wie groß der Möglichkeitsraum für demokratische Teilhabe der Einzelnen ist. Der Sozialphilosoph Axel Honneth hat unlängst gemahnt, dass „den wirtschaftlichen Voraussetzungen des politischen Prozesses zu wenig Beachtung“ geschenkt wird. Zu diesen Voraussetzungen gehören die politisch gestaltbaren Eigenschaften von Arbeitsverhältnissen, Regeln und Grenzen – gerade auch, was den Zeitfaktor angeht. Denn es braucht Zeit, aufgeklärt an der demokratischen Willensbildung teilzunehmen. Zeit, sich zu informieren, Zeit mit anderen zu diskutieren, sich vor Ort einzubringen.
An diesen Möglichkeiten fehlt es vielen. Wenn wir also über das Verhältnis von Demokratie und Arbeit sprechen, dann geht es nicht nur um Fragen der betrieblichen Mitbestimmung, um Entscheidungsmöglichkeiten im Unternehmen, um sichere Jobs, sondern auch um die Regeln, die bestimmen, wie viel „Muße zur politischen Selbstverständigung“ neben der Lohnarbeit möglich bleibt, wie Honneth diese für Demokratie notwendige Zeit genannt hat. Davon braucht es mehr, nicht weniger – womit infolge der bisher bekannten Ampel-Pläne aber zu rechnen wäre.
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