„...und mit so viel Hoffnung“

Gastbeitrag Die Alexanderplatz-Demo vom 4. November 1989 hat im offiziellen Geschichtsbild keinen sehr großen Platz. Was der Tag für sie bedeutet, beschreibt Susanne Hennig-Wellsow
Am 4. November 1989 strömten Hunderttausende zum Berliner Alexanderplatz. Im offiziellen Geschichtsbild hat der Tag keinen besonders großen Platz
Am 4. November 1989 strömten Hunderttausende zum Berliner Alexanderplatz. Im offiziellen Geschichtsbild hat der Tag keinen besonders großen Platz

Foto: imago images/Sven Simon

Für viele aus meiner Generation sind die unmittelbaren Ereignisse des politischen Aufbruchs vom Herbst 1989 in der DDR eher etwas aus Erzählungen der Älteren. Ich war zwölf, als die Zahl der Demonstrationen für demokratische Reformen von Tag zu Tag wuchs; als eine ganze Gesellschaft aufwachte und darüber diskutierte, wie es weitergehen soll. Natürlich hatte auch ich eine Ahnung davon, diese friedliche Revolution saß ja mit am Abendbrot-Tisch, alle redeten darüber, diese politische Elektrisierung im Alltag war für jede und jeden zu spüren.

Wirklich bewusst erlebt hat meine Generation eher die Zeit nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Die politische Lust auf etwas Neues, die fröhliche Neugier darüber, was offene Kritik, Demonstrationen und kritische Debatten alles in Bewegung setzen können, war da längst anderen Gedanken gewichen: Sorge um Arbeitsplätze der Eltern, das Gefühl mangelnder Sicherheit darüber, was nun kommt. Hatten die Älteren nicht von einem ganz anderen Aufbruch 1989 erzählt?

Im Rückblick gibt es zwei größere Erzählungen über die „Wiedervereinigung“: Die eine behauptet, es sei den Menschen in der DDR schon im Herbst 1989 bloß um D-Mark, Reisefreiheit und schwarz-rot-goldenen Einheitsdrang gegangen. Ein Blick, der das Ende der damaligen Geschichte für das Ganze nimmt und so den ganzen Eigensinn dieses Aufbruchs in der DDR in den Schatten verdrängt. Die andere Erzählung rückt kritisch die Folgen einer Einheitspolitik ins Zentrum – Stichwort: Treuhandanstalt, die einen Nachbau West verfolgte, der viele im Osten in soziale Nöte stürzte.

Unser Rückblick verändert sich

Wir haben aufgrund der Einschränkungen, die uns die Corona-Pandemie abverlangt, in diesem Herbst vergleichsweise wenig über das Geschehen vor 30 Jahren gesprochen. Dass wegen des Infektionsschutzes keine großen „Einheitsfeiern“ stattfinden konnten, entspricht aber vielleicht, wenn auch unfreiwillig, einer langsamen Veränderung: Unser Rückblick verändert sich. Es werden neue Fragen gestellt, es wird weniger Schwarz-Weiß gemalt, man hört heute mehr auf Zwischentöne.

Darin liegen, finde ich, gleich mehrere Chancen. Eine besteht darin, den damaligen Zweifeln und der Distanziertheit gegenüber dem „Drang nach Westen“ mehr Anerkennung zu verschaffen. Viele haben damals gegen die Zustände in der DDR protestiert und wollten deshalb noch lange nicht die Verhältnisse in der BRD. Aus Zwischentönen erfährt man auch, was es mit Menschen macht, wenn Hoffnungen binnen weniger Monate unter die Räder der Geschichte kommen, deren Zug das Gleis gewechselt hat. Was haben sich jene, die damals ein paar Jahre älter waren als ich, erträumt? Und was bedeutet es selbst für meine Generation, also die der kurz nach der Wende von 1989 erwachsen werdenden Kinder, dass Träume zerplatzten? Man sollte das schon verstehen wollen.

Dieser Tage jährt sich die große Demonstration auf dem Alexanderplatz, zu der am 4. November 1989 Hunderttausende strömten. Im offiziellen Geschichtsbild hat der Tag keinen besonders großen Platz, „Stiefkind der Erinnerung“ hat das einmal jemand genannt. Und richtig, es hatte ja zuvor entscheidendere Demonstrationen gegeben, etwa in Leipzig. Man kann auch nicht darüber hinwegsehen, dass an diesem 4. November 1989 etwas gefordert wurde, dass in der Bevölkerung von Tag zu Tag weniger Rückhalt fand: eine reformierte DDR.

Aber gerade deshalb ist es für mich so ein zentraler Tag des Aufbruches, weil man an ihm schon die Widersprüche sieht, die Schwierigkeiten, das, was nicht mehr oder noch nicht zusammenpasste. Fünf Tage später fiel die Mauer, aber wer konnte das ahnen? Das verleiht dem 4. November 1989 so einen besonderen Charakter: Es wurde noch einmal ausgesprochen, was schon bald für Jahre nicht mehr aussprechbar war: dass ein demokratischer, ökologischer, freiheitlicher Sozialismus möglich sei, einer, der die unterschiedlichsten Meinungen wie die Luft zum Atmen braucht, den Dialog und das offene Sprechen.

„Als habe einer die Fenster aufgestoßen“

„So viel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer und mit so viel Hoffnung“, so hat es an jenem Tag der großen Alexanderplatz-Demonstration die Schriftstellerin Christa Wolf formuliert. Und Stefan Heym sagte damals seinen berühmten Satz: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“

Der große Theatermacher Heiner Müller hat am 4. November 1989 stellvertretend einen „Aufruf der Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ verlesen: „Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken.“ Dafür ist er auf dem Alexanderplatz noch ausgebuht worden. Ein paar Monate später hätte ihm niemand mehr widersprochen.

Die Linken sollten dem 4. November 1989 mehr rückblickende Aufmerksamkeit schenken. Gerade weil es kein Datum kratzerfreier Geschichte ist, gerade weil diese Demonstration der Demokratie auch viele Widersprüche in sich trug. Und auch deshalb, weil darin etwas Unabgegoltenes liegt, eine immer noch bestehende Aufforderung, etwas, das uns immer noch antreibt.

Im Westen schrieb damals jemand in der linken Tageszeitung, die Progressiven in der BRD könnten „jetzt neidvoll auf die Möglichkeiten blicken, die es der östlichen Linken nun erlauben, die ›Civil Society‹, vielleicht sogar eine neue, zukunftsträchtige, demokratische ökologische und sozialistische Gesellschaftsform zu entwickeln“. 30 Jahre danach liegt es in unserer gemeinsamen Hand, ob aus dem „vielleicht“ ein „wirklich“ wird.

Susanne Hennig-Wellsow ist Landesvorsitzende der Partei Die Linke in Thüringen und Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag. Sie bewirbt sich gegenwärtig zusammen mit Janine Wissler um den Bundesvorsitz der Partei.

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