Porträt Gorch Pieken leitet das Militärhistorische Museum in Dresden. Er will die Deutschen dazu bringen, neu auf ihre Kriege zu blicken. Auch mit Keksen in Soldatenform
Gorch Pieken: „Mitleid ist ein Muskel, den man trainieren muss“
Foto: Sven Döring für der Freitag
Wenn alles funktioniert wie geplant, dann sind im Sommer vom Stein des Anstoßes nur noch ein paar Krümel übrig. Die Kekse sind dann nämlich gegessen, in jeder Hinsicht. Vorher aber wird Gorch Pieken noch viele Fragen beantworten. Und er wird sein neues Projekt wieder und wieder verteidigen müssen. Trotzdem freut er sich darauf: Rund 18.000 Kekse will der wissenschaftliche Leiter des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr (MHM) im Juni backen lassen, und zwar in Form von Soldaten des Ersten Weltkriegs. Die werden dann zu einer Mauer aufgeschichtet und können von den Museumsbesuchern gegessen werden.
„Das Backwerk versinnbildlicht die brüchige Konsistenz der Erinnerung und verweist gleichzeitig auf das historische und gegenwärtige Opfer v
ge Opfer von Soldaten, und die damit verbundene Verantwortung unserer Gesellschaft, die Sicherheit konsumiert“, sagt Pieken. „Auch weil wir Soldaten in Einsätze schicken, in denen sie physisch und psychisch aufgezehrt werden.“Das Keks-Denkmal ist ein Projekt des neuseeländischen Künstlers Kingsley Baird, für das MHM ist es Bestandteil seiner Aktivitäten zum Ersten Weltkrieg. Die Ausstellung 14. Menschen. Krieg wird im August eröffnet und basiert auf einer Kooperation des Museums mit einer Doku-Serie der ARD und arte. Die Reihe will die verschiedenen Aspekte des Ersten Weltkriegs anhand von 14 Biografien erzählen.Pieken ist der Mann, der die Deutschen dazu bringt, neu auf ihre Kriege zu blicken. Jeden Tag operiert er am kollektiven Gedächtnis des Landes herum, manchmal mit tiefen Schnitten, gelegentlich auch nur mit leichten Berührungen. Oder eben mit Gebäck: Für Pieken gehören zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg eben auch Kekse in Soldatenform. Diese werden in Neuseeland und Australien traditionell am Anzac Day gegessen, einem Gedenktag, der an die erste Militäraktion von australischen und neuseeländischen Truppen im Ersten Weltkrieg erinnert.In Dresden sind die Kekse dagegen für viele eine Zumutung. Kaum hatten die ersten Zeitungen über das Vorhaben berichtet, gab es giftige Leserbriefe, in denen gefragt wurde, für welchen Schwachsinn hier wieder Steuergeld rausgeworfen werde. Und auch im eigenen Haus führt Pieken seither heftige Diskussionen. Im Gegensatz zu jüngeren Soldaten finden vor allem ältere Offiziere das ganze Vorhaben despektierlich, sagt er. „Da ist dann auch mal die Rede von Kannibalismus und davon, dass es nicht anginge, Soldaten zu essen.“Nichts für Militaria-FansDas geht doch nicht – das ist so ein Satz, der Pieken verfolgt, seit er den Job in Dresden vor acht Jahren übernommen hat. Schon dass Architekt Daniel Libeskind für den Umbau des Königlich Sächsischen Arsenalgebäudes einen Metallkeil in die Neurenaissance-Fassade trieb, galt vielen Dresdnern als Provokation. Dass Pieken gründlich aufräumte in der alten Devotionalienschau, verübeln ihm eingefleischte Militaria-Fans bis heute und raten in ihren Internetforen eindringlich vom Besuch des Hauses ab. Damit würde man sich nur die guten Erinnerungen verderben. Und dass Pieken die Stadt, die sich zuallererst selbst als Kriegsopfer sieht, wieder und wieder dazu zwingt, sich auch mit der eigenen Schuld auseinanderzusetzen, werten viele, die es lieber gemütlich haben wollen in ihrem schönen Elbflorenz, als Provokation und klassischen Fall von: Das geht doch nicht! Der Unmut artikuliert sich vor allem über Leserbriefe in den Tageszeitungen und über Kommentare in den sozialen Netzwerken.Und jetzt auch noch die Kekse.Dass es dann doch geht, beweist Pieken immer wieder. Ein Haus wie das Militärhistorische Museum verstehe sich nicht als ein Haus der Sinnstiftung, sondern der Denkstiftung, sagt er. „Und auch als ein Forum der öffentlichen Auseinandersetzung über aktuelle sicherheits- und militärpolitische Fragen in historischer Perspektive. Und dazu gehören Diskussionen. Gute Ausstellungen sollten sich nicht auf die Präsentation von Objekten in Vitrinensärgen beschränken.“Man hat das hier lange gemacht. Und weil das MHM offiziell das Leitmuseum der Bundeswehr ist, haben viele erwartet, dass es auch nach dem Umbau vor allem um Glanz und Gloria des Militärs gehen würde. Dass hier große Panzer und Waffen ausgestellt würden und schicke Uniformen mit glänzenden Orden. All das findet sich in der Ausstellung – aber niemals als Selbstzweck. Pieken hat es geschafft, in der chronologisch angeordneten Dauerausstellung und in einem Themenparcours die Ausstellungsstücke niemals isoliert, sondern immer in größere Zusammenhänge zu stellen, die mehr über die Exponate verraten als ein Datenblatt und der erste Augenschein.Sein Haus erzählt eine Kulturgeschichte der Gewalt. Es zeigt, was Krieg mit den Menschen macht. Mit denen, die kämpfen. Und mit denen, die darauf warten, dass das Grauen aufhört. Mitleid ist für Pieken keine Schwäche – es ist unabdingbar, um sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Der Historiker ist davon überzeugt, dass Mitgefühl mit einem Muskel vergleichbar ist. Und wenn man den nicht regelmäßig trainiere, verkümmere er. Auf diese Überzeugung gründen alle Ausstellungen des Hauses. Als Bundeswehr-Anwerbeort taugt es daher nicht, es spricht eher die Nachdenklichen an und selbst Menschen, denen man kein einfaches Verhältnis zur Bundeswehr nachsagen kann. Linken-Chefin Katja Kipping jedenfalls war nach einem Besuch sichtlich überrascht und erkundigte sich, ob das MHM nicht eigentlich ein Friedensmuseum sei. Andere nennen es ein Antikriegsmuseum.Pieken selbst hält von diesen Labels nicht. Weil sie seiner Meinung nach zu kurz greifen. Das Haus sei weder ein Friedens- noch ein Kriegsmuseum. Um das Phänomen der Gewalt zu verstehen, müsse man alle Bereiche der Gesellschaft sehen, das Militär sei dabei nur der sichtbarste Ausdruck des Militärischen.Deshalb holt er immer wieder Ausstellungsstücke nach Dresden, mit denen keiner rechnet: den Ableger einer Bogenhanfpflanze etwa. Die hatte eine Dresdner Jüdin 1947 in New York als Erinnerung an ihren emigrierten und inzwischen verstorbenen Vater bekommen, nachdem sie die Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 und die Flucht aus Deutschland überlebt hatte. Oder das Puppenhaus eines britischen Mädchens, genauso verdunkelt wie die Wohnungen der damaligen Zeit. Oder eine Geruchsstation, in der Besucher einen Eindruck davon bekommen, wie es in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gerochen hat, nach einer Mischung aus Kot, Schweiß und Verwesung. Sie wurde eigens für das Museum von einer Geruchsdesignerin zusammengestellt.Historiker, Künstler, KuratorDie Bundeswehr hat ursprünglich vielleicht eine andere Vorstellung für ihr Leitmuseum gehabt. Aber dann hätte sie nicht Gorch Pieken nach Dresden holen dürfen. Der Historiker hat lange in New York und Amsterdam „einfach nur gelebt“, hat dann für ein Plattenlabel gearbeitet, Filme gedreht, Bücher geschrieben und ganz nebenbei promoviert. Er ist Historiker und Künstler, Kurator und PR-Spezialist mit Leidenschaft. Seine alten Kontakte pflegt er bis heute. Und die Fähigkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen und Objekte nicht nur mit dem Blick des Historikers, sondern des Generalisten zu erfassen, macht sein Herangehen an Militärgeschichte so anders. In einem Haus, in dem viele Mitarbeiter Uniform tragen, sitzt er in Jeans vor dem Computer. Von seinen langen Haaren, die er zum Pferdeschwanz gebunden trägt, wollte er sich eigentlich längst trennen. Und genießt doch immer wieder gern die Überraschung bei all jenen, die glauben, man könne ein Bundeswehrmuseum nur mit militärisch korrektem Haarschnitt leiten.Pazifist ist Pieken dennoch nicht. Er ist für mehr Einsätze der Bundeswehr, sowohl für friedenserhaltende wie auch für „friedenserzwingende“. Bei der Stabilisierung von Krisenregionen, der Unterstützung internationaler Hilfsdienste oder dem Wiederaufbau sei nicht auszuschließen, dass Soldaten töten, „aber ihre vorrangige Aufgabe ist es, das Töten zu verhindern“.Pieken betreibt seinen Job mit Leidenschaft: Gerade erst hat seine hochgelobte Ausstellung Schuhe von Toten. Dresden und die Shoa Besucherrekorde gebrochen. Die Geschichten vertriebener und ermordeter Dresdner Juden zu erzählen, ist Pieken wichtig. „Weil das sonst niemand macht. Aber wir können nicht zulassen, dass diese Schicksale einfach in Vergessenheit geraten.“ Monatelang hat er mit seinem Team nach Überlebenden und Angehörigen gesucht. Hat Namen aus dem „Buch der Erinnerung“ herausgesucht und mit Telefonbüchern aufs Geratewohl bei Familien angerufen, die eine Verbindung zu Dresdner Juden haben könnten. Wenn er jetzt durch den Ausstellungsraum in der zweiten Etage des Museums läuft, ist es, als bewege er sich inmitten der Erinnerungsstücke an Menschen, die er persönlich kennt.„Hier ist die Vitrine von Gisela“, sagt er und deutet nach rechts. „Und hier haben wir Hannelore, eine ganz tolle Frau.“ Inzwischen haben viele Hinterbliebene und Angehörige aus aller Welt das Museum besucht. Und sie alle haben die Ausstellung mit dem Gefühl verlassen, dass es hier jemanden gibt, dem die Menschen wichtig sind, um die es in den Schaukästen geht. Dass sie nach all dem Grauen, das ihnen und ihren Familien angetan wurde, hier zu neuer Würde finden.Die Überzeugung, dass Menschen Verantwortung auch für das haben, was ihre Vorfahren taten, die Ableitung einer Verpflichtung daraus und diese Fähigkeit, die gegen Widerstände durchzukämpfen, kurz: Ein eisernes Rückgrat zu haben, wenn es um moralische Verpflichtungen geht. Das ist, wenn überhaupt, das einzig Militärische an Gorch Pieken.Trotzdem oder gerade deswegen haben in der Bundeswehr einige immer wieder Vorbehalte gegen seine Arbeit. Als das Museum im vergangenen Jahr die Ausstellung Rechtsextreme Gewalt in Deutschland eröffnete und Fotos des amerikanischen Fotografen Sean Gallup von Neonazis und ihren Opfern zeigte, wurde sofort die Frage gestellt, „ob man denn nicht auch gleich etwas zum Linksextremismus machen müsste“. Pieken lehnte ab. „Natürlich ist der Linksextremismus ein wichtiges Thema. Aktuell muss aber niemand Angst davor haben, auf der Straße von Linksextremisten erschlagen zu werden, wohl aber von Rechtsextremisten.“Aus Überzeugung gedientPieken bleibt sehr ruhig, wenn er solche Sätze sagt. Sich inhaltlich zu streiten, damit hat er kein Problem. Wirklich ärgerlich findet er es aber, wenn die Vorurteile gegen seine Arbeit sich vor allem daraus speisen, dass er kein Soldat ist. „Ich akzeptiere es nicht, wenn Offiziere sich als die einzigen Repräsentanten und Sachwalter der Bundeswehr und ihrer Geschichte verstehen. In einer Zeit, als viele meiner Freunde aus Gewissensgründen verweigerten, habe ich mich aus Gewissensgründen bewusst für den Wehrdienst entschieden. Aus Überzeugung bin ich Soldat geworden, andere Motive hatten bei meiner Entscheidungsfindung keinen Platz. Möglicherweise ist dies keine schlechte Voraussetzung für ein tiefes Verständnis vom Soldatsein.“Und wenn Soldatsein heute auch bedeutet, dass im Einsatz Verwundete quälend lange um den behindertengerechten Umbau ihres Hauses kämpfen müssen, „dann müssen und wollen wir das auch thematisieren“. Ob jemand findet, das gehe doch nicht, ist Pieken dann einmal mehr egal.
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