Er öffnet die Tür und sprintet in den Hof. „Da gibt’s grade Stress, darum muss ich mich erst mal kümmern“, sagt Daniel Molitor. Drei Leute stehen hier vor einem Unterstand mit Fahrrädern. Einer von ihnen schimpft auf Englisch. „Ich habe extra einen Zettel rangehängt, dass das mein Rad ist“, sagt er, „aber das interessiert gar nicht.“ Der junge Syrer ist aufgebracht: In der Nacht hat jemand die Kette seines Rads geklaut. „Sollen wir die Polizei anrufen?“
Die Polizei wird nicht gerufen an diesem Morgen in der Podemusstraße in Dresden. Was hier gerade passiert, ist Alltag für Daniel Molitor – und inzwischen hat er kreative Lösungen entwickelt für Probleme wie das mit der Fahrradkette. „Wir schauen uns nachher die Hände von allen an. Fahrradöl ist so hartnäckig an den Fingern, das sehen wir garantiert.“
Der 32-Jährige leitet ein Übergangswohnheim für Asylbewerber. Das Gebäude, in dem 70 Männer aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Irak und Nordafrika untergebracht sind, ist bis vor wenigen Monaten noch ein Hotel gewesen.
In der sächsischen Landeshauptstadt ist man wie überall im Land verzweifelt auf der Suche nach geeigneten Unterkünften für die vielen Asylsuchenden, nutzt Zelte und Turnhallen. Das Gebäude im Stadtteil Stetzsch war deshalb für die Stadt ein echter Glücksfall. Doch hier gibt es auch militante Rassisten. Als der Hotelbesitzer der Stadt anbot, das Haus als Flüchtlingswohnheim zu nutzen, wurden die Nachbarn zornig. Als Molitor im Juli seinen Job antrat, waren die Unterschriftenlisten gegen das Heim längst in der ganzen Nachbarschaft verteilt. Noch an Molitors erstem Arbeitstag flog die erste Stinkbombe. Zwei weitere folgten, ebenso ein Anschlag mit tschechischen Böllern, der die Fensterscheiben zerfetzte, Morddrohungen und ein Angriff mit Pfefferspray auf zwei Flüchtlinge, die vor dem Heim mit ihren Fahrrädern die Straße entlanggefahren waren.
Die Situation in Dresden ist kein Einzelfall. In Sachsen wurden allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 42 Angriffe auf Asylbewerberheime registriert, das sind fast so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Auch in anderen Teilen der Republik nimmt die Gewalt zu, fast täglich gibt es neue Meldungen über Attacken. Die Aktionen gegen das Heim in Dresden waren jedoch so vehement und brutal, dass es sich sogar bis nach London herumgesprochen hat. Von dort reiste in der vergangenen Woche ein Experte für Diskriminierungsfragen von Amnesty International an. Weil er gerade an einem Bericht über sogenannte Hassverbrechen in Europa arbeitet, befragte er auch Daniel Molitor.
Angst darf man nicht haben
Der kann einiges erzählen. Einen Monat lang hätten die Anwohner täglich zwei Stunden lang protestiert, sie standen auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber vom Heim. „Die kommen gern mit der ganzen Familie, auch mit Kindern“, berichtet Molitor. Immer wieder sei er zu den Demonstranten gegangen – „ich wollte doch wissen, wovor die eigentlich so große Angst haben“. Die Rentner hätten sich in aller Regel darum gesorgt, dass die Asylbewerber ihre Schrebergärten plündern könnten. Aber sonst hätten sich die Argumente im Grunde auf einen Satz beschränkt: „Wir wollen die hier nicht haben.“
Über die Anschläge und Drohungen erzählt Molitor mit überraschender Distanz. Selbst die Tatsache, dass Gegner des Heims seine Freundin ausfindig machten und sie einzuschüchtern versuchten, bringt den Zweimetermann nicht aus der Ruhe. „Ich bin tatsächlich schon aufgrund meiner Statur nicht so gefährdet“, sagt er, „aber ich fühle auch wirklich keine Angst. Besorgnis, Beunruhigung: vielleicht. Aber Angst darf man nicht haben. Wer Angst hat, rennt weg.“
Es ist eine tiefe Gelassenheit, die Molitor bei seinem Job hilft. Nicht nur, um mit dem fertigzuwerden, was sich vor dem Haus abspielt. Auch drinnen braucht der Heimleiter gute Nerven. Um elf Uhr morgens liegen die meisten der Bewohner noch in ihren Betten. Und lassen sich auch nicht davon stören, dass Molitor im großen Schlafsaal das Licht einschaltet und mit einem dröhnenden „Good Morning“ den Raum durchquert. Zwei Minuten später ist das Licht wieder aus und Molitor dreht die gleiche Runde, murmelnd, dieses Spielchen könne man gern den Tag spielen. Beim dritten Mal stürmt ein Bewohner erbost auf ihn zu. Es folgt ein kurzer Dialog auf Englisch: „Das ist unfair, die Leute wollen schlafen.“ „Nein, es ist elf Uhr, sie müssen aufstehen.“ Das Licht bleibt an. Vorerst.
Molitor dreht weiter seine Runde. Heute morgen habe ihn fast der Schlag getroffen, als er ins Heim gekommen sei und vom Eingang aus einen ersten Blick in die Küche geworfen habe, erzählt er. Dort wurde nachts gekocht, aber nicht wieder aufgeräumt. Molitor weiß sofort, wo er als nächstes nachsehen muss. Und sieht sich eine Minute später bestätigt, als er draußen die Papiertonne öffnet. Die ist randvoll mit Küchenabfällen. „Aber das macht nichts“, sagt der Heimleiter und grinst. „Ich weiß ganz genau, wer immer diese Makrelen hier isst und wer diese ganzen Pakete mit passierten Tomaten kauft. Also werden die Jungs nachher den Müll in die richtige Tonne umschichten. Das macht richtig Spaß, wenn alles so versifft ist.“
Die Jungs – das ist das Wort, das Molitor häufig benutzt, wenn er über die Bewohner seines Heims spricht. Viele von ihnen sind noch jünger als 25. Molitor ist überzeugt: Wer wirklich in Deutschland ankommen und die ersten Schritte in Richtung Integration machen will, der müsse sich vor allem an die Regeln seiner neuen Heimat halten. Die zu vermitteln, ohne dabei unfreundlich zu sein, das sei sein Job.
Wer Molitor dabei zusieht, wie er diesen Job macht, der bekommt eine Ahnung, wie es vielleicht laufen könnte mit der Integration, über die im Moment alle reden. Hier im Dresdner Westen funktioniert sie durch eine Mischung aus klaren Ansagen und Respekt. Wenn die Küche so verdreckt ist wie heute, wird Molitor lauter und stellt klar, dass jetzt geputzt werden muss. Am Abend wird er sich mit den Jungs in den Garten setzen und stundenlang reden. Er sei zwar manchmal froh, dass er ihre Sprache nicht spreche, sagt er, weil sicher einige Flüche dabei seien. Trotzdem ist die Stimmung entspannt und vertraut.
Das hat wohl vor allem damit zu tun, dass Molitor nicht nur auf seine Regeln pocht, sondern auch die Gefühle seiner Bewohner achtet. Dass er etwa die Schuhe auszieht, bevor er in die Schlafräume läuft oder anklopft und die Zimmer nicht ohne Erlaubnis betritt. Sein Hausmeister sei darüber schockiert, erzählt Molitor, „aber mir ist das wichtig. Und wenn wir hier zehnmal das Hausrecht haben: Wir müssen doch das wenige an Privatsphäre achten, das den Leuten hier bleibt.“ Die Folge: Es knallt nicht. Obwohl hier Männer verschiedener Nationalitäten zusammenleben, gibt es weder Schlägereien noch Ausschreitungen wie in den Großzelten und ehemaligen Baumärkten, in denen viele Flüchtlinge untergebracht werden.
Therapeut und Herbergsvater
In der Debatte über die richtige Unterbringung von Flüchtlingen gilt Molitors Unterkunft nicht als ideale Lösung. Weder Großzelt noch Hotelheim werden angestrebt, sondern eine dezentrale Unterbringung in normalen Wohnhäusern. Molitor ist da jedoch skeptisch. „Wenn man die Leute in Wohnungen steckt und sich selbst überlässt, kommen die nie so in Kontakt mit der deutschen Gesellschaft, wie es nötig wäre.“ Ohne jemanden, der die anfangs fremden Regeln in Deutschland von Mülltrennung bis Nachtruhe vermittle, funktioniere es nicht, meint er.
Es gibt jedoch ein Problem: Nicht nur Wohnraum ist knapp, sondern auch Personal wie Daniel Molitor. Eingestellt wurde er von der Betreibergesellschaft der Unterkunft, die sonst Seniorenheime betreibt, und zwar als Heimleiter und Hausmeister. „Eigentlich ist es mein Job, die Leute in ihre Zimmer ein- und wieder auszubuchen und dafür zu sorgen, dass sie aufräumen und putzen.“ Tatsächlich ist der Ex-Koch Sozialarbeiter, Therapeut, Integrationshelfer und Herbergsvater in Personalunion. Sein Leben hat er in die Podemusstraße verlagert, jeden Monat steckt er eigenes Geld in die Räume. „Ich will das einfach schön haben. Sonst wird man ja verrückt.“
Auch sein neuester Plan ist ambitioniert. „Wir haben doch hier einen beheizten Keller mit Duschen und Toiletten. Warum sollen da im Winter eigentlich nicht Obdachlose schlafen?“ Ja, warum eigentlich nicht? In der Dresdner Podemusstraße ist, so scheint es, alles möglich.
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