Quo vadis, Lyrik? – Das Poesiefestival Berlin

Gegenwartslyrik Das Poesiefestival Berlin 2015 endete vor wenigen Tagen, wir waren dort, um uns mal die Zukunft der Lyrik aus erster Reihe zu geben.

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Aus dem Kind ist nichts geworden

Aber meinem Onkel
verraten Sie bitte nicht
dass ich Dichterin wurde
er weint sonst wieder.

Safiye Can

Seit Jan Wagner für seine Regentonnenvariationen den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, geht es der Lyrik wieder besser. Über 40.000 Exemplare des Bandes sind bisher verkauft worden, das ist ein Erfolg in dieser Sparte, der seinesgleichen sucht. Eigentlich schon ein bisschen zu viel Aufmerksamkeit für einen Dichter, munkelt es, und prompt wird Wagners Lyrik Restaurativität und Konsumierbarkeit nachgesagt. Der/die Dichtende hat doch schön im stillen Kämmerlein zu bleiben, sein/ihr schmales Bändchen verlegen zu lassen, sodass es von ausgewählten Menschen ver- und erstanden werden kann. Schließlich setzen sich nur wenige mit echter Lyrik auseinander – und das soll besser auch so bleiben!

Seit jeher kämpft die Lyrik mit ihrer eigenen Randständigkeit, so sehr, dass plötzliche Popularität nur mit scheinbarem Komplexitätsverlust einher gehen kann. Dichterin Nora Bossong hat Anfang des Monats einen Artikel für die ZEIT geschrieben, in dem sie den besorgten LyrikerInnen Entwarnung gibt: Dichter, traut euch ins Zentrum! Unsere zarte Patientin Poesie hat es wieder in den öffentliches Diskurs geschafft.

Eine ganz andere Auffassung von Sprachkunst konnte in den vergangenen Tagen auf dem 16. Poesiefestival Berlin beobachtet werden. Das zehntägige Festival gilt als das größte Lyrikfestival im europäischen Raum und lädt alljährlich KünstlerInnen und ZuschauerInnen aus aller Welt ein, neueste Formate und Bewegungen der Szene zu präsentieren, zu zelebrieren und zu diskutieren. Dabei sind die Grenzen des Festivalgegenstands als fließende zu verstehen. Lyrik ist vor allem Sprache, ist aber auch Klang, kann Musik sein, Spiel sein, Tanz, Video, Rap, kann nahezu alles sein. Das Gegenteil des schmalen Bändchens sozusagen. Das Thema dieses Jahres lautete Kapital. Denn ganz im Sinne der Kapitaltheorie Bourdieus ist dem Menschen mit der Sprache auch ein poetisches Kapital gegeben.

Trotz aller Semesterturbulenzen muss man Prioritäten setzen und so besuchte ich zwei Veranstaltungen, die zukunftsweisendsten, so schien mir: Poetry goes public: Neue Formate – Alte Gebräuche sowie e.poesie – Elektronische Musik trifft Lyrik. Eine Abwendung von der traditionellen Wasserglaslesung wird hier schon im Titel versprochen.

Neuformatierung

Beide Abende wurden mit dem einleitenden Hinweis eröffnet, dass die Lyrik ursprünglich mit der Musik verbunden und erst viel später an das Medium Buch und Schriftlichkeit gebunden wurde. Theoretisch nichts Neues. Praktisch reichte diese Verknüpfung von einem schlecht produzierten YouTube-Video, gespickt mit popkulturellen Verweisen über die perfektionierte Synthese aus Wort und Klang bis hin zum reizüberflutenden Berghain-Set.

http://www.doktorpeng.de/wp-content/uploads/2015/06/Bradien-Eduard-Escoffet.jpgDabei funktionierten die Darbietungen auf mehreren Ebenen: auf dem Papier (zu Beginn wurde einem eine Art Handout mit ausgewählten übersetzten Gedichten in die Hand gedrückt), auf der Bühne über Stimmen, Musik und Performance und auf der Leinwand, auf der meist Übersetzungen live mitzulesen waren oder aber Videos gezeigt wurden.

Im digitalen Zeitalter präsentiert sich Lyrik multimedial und weitestgehend losgelöst von schriftbasierten Medien. Kehrt sie zu ihren klanglichen Ursprüngen zurück? Die beiden Veranstaltungen zeigten eine erstaunliche Vielfalt neuer Formate auf, wobei die experimentelleren Formate qualitativ sehr unterschiedlich ausfielen. Am ersten Abend beeindruckten noch die eher konventionellen Lyrikvorträge. Zum Beispiel die Lesung der Dichterin Hanne Lippard (Norwegen/Deutschland). Die zwei experimentelleren Formate – besagtes schlecht produziertes YouTube-Video sowie der Versuch, schlechtes Gitarrenspiel, flache Texte sowie elektronische Musik im Ausprobierstadium miteinander zu verbinden – ließen mich bestenfalls verwundert zurück.

Der zweite Abend beschäftigte sich dezidiert mit der Synthese aus elektronischer Musik und Lyrik. Dabei ließ sich in der Reihenfolge der drei Einzelperformances eine graduelle Steigerung vom Verhältnis Sprache zu Klang beobachten. Die einzelnen Acts wurden als Bands vorgestellt. Während bei der galizischen Band Tender a man noch Frontfrau bzw. Dichterin Yolanda Castaño mit ihrer charmant-rauchigen Stimme im Vordergrund stand und man eher von musikalischer Begleitung durch E-Bass und E-Gitarre sprechen konnte, ließ sich beim zweiten Act Bradien + Eduard Escoffet (Katalanien) eine nahezu perfekte Verschmelzung von sprachlicher und musikalischer Ausgestaltung beobachten. Die Stimme als Instrument wurde geloopt, verstärkt und kompositorisch genau platziert.

Im Gegensatz zu „herkömmlichen“ Bands stand stets der komplexe Text im Zentrum. Hier geht es zu einem Video eines Auftrittes von Bradien + Eduard Escoffet.

Revolution der Autorschaft – AlgoRhythm?

Neben dem Aufbruch herkömmlicher Formate fiel zudem der Bruch mit dem traditionellen Autorschaftskonzept in den Blick. Ganz im Barth’schen Sinne ist spätestens seit copy+paste der Autor tatsächlich tot. Warum länger Texte schreiben, wenn ich Algorithmen durch Google jagen kann? Die letzte Performance des e.poesie Abends Alva Noto feat. Anne-James Chaton arbeitete nicht länger mit „Handgeschriebenem“, hier wurden alte Restaurantrechnungen aneinander gereiht und übersetzt, aufgenommene Phrasen geloopt, zerstückelt, transformiert oder aber bekannte dreibuchstabige Akronyme alphabetisch sortiert.

Moderne Literatur entsteht anscheinend nicht länger im Kämmerlein, sondern vor allem im Netz. Ob das subjektiv gefällt, ist wieder eine andere Frage. Mich faszinierte Alva Notos „Uni-Acronym“ vor allem theoretisch. Die Aneinanderreihung der verschiedenen Akronyme illustriert das Verhältnis von auf sprachlicher Ebene zufälligen Codes (drei beliebige Buchstaben des Alphabets) und deren semantischer Aufladung. Jedes Logo, jeder genannte Code ruft ein ganz eigenes Bedeutungsuniversum auf.

Theoretisch faszinierend und subjektiv als anstrengend, zu laut, reizüberflutend und steril empfunden. Ich werde wohl keine Anhängerin des berechneten Gedichts werden.

Format, Inhalt, Kontext

http://www.doktorpeng.de/wp-content/uploads/2015/06/Anne-James-Chaton-und-Alva-Noto.jpg

Fest steht, auch oder gerade die Literatur bleibt nicht unberührt von medialen Wandlungsprozessen. Schon in den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts wurden neue Formen zunächst von DichterInnen etabliert. Moderne Medien heben die Frage nach einer Synthese aus Form und Inhalt literarischer Texte in neue Dimensionen. Wichtig ist, dass bei aller Neuformatierung trotz allem ein inhaltlicher Kern erhalten bleibt. Verpackung bleibt Verpackung und das am aufwendigsten produzierte Video unter ein lausiges Gedicht gepackt, ist und bleibt eben eher Video denn Poesie. Doch bleibt abzuwarten, ob nicht auf mutige Pioniere einst MeisterInnen folgen werden.

zunächst erschienen unter: http://www.doktorpeng.de/quo-vadis-lyrik-das-poesiefestival-berlin-2015/

Bild 1: Bradien + Eduard Escoffet
Bild 2: Alva Noto feat. Anne-James Chaton

Bildmaterial (c) Mike Schmidt//photowerkstatt.de
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Susanne Klimroth

Studentin und Schreibende

Susanne Klimroth

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