Da geht mehr

Das Pluszeichen Das Pluszeichen erobert sich nun über das soziale Netzwerk google+ die Nutzerflächen unseres modernen Lebens. Wer genau erhält da Einzug? Ein Porträt

Alles beginnt mit einer vermeintlich harmlosen Einladung: Ein(e) Bekannte(r) fragt jemanden aus dem Bekanntenkreis (in diesem Fall gleichbedeutend mit dem E-Mailadressbuch, allen Kalender-, Bild- und sonstigen Kontokontakten) an, ob er oder sie nicht Mitglied beim neuen sozialen Netzwerk namens google+ werden möchte.

Wer diese Einladung nicht nur dankend, sondern auch mit dem ureigenen Stolz von sogenannten Early Adopters (beherrschen alle zukunftsbestimmenden technischen Hilfsmittel früher als andere) annimmt, ist endgültig drin im Netz des großen Plus. Hinzugefügt, mit einem Klick. Aufgesogen, auf grafischer Ebene unverkennbar symbolisiert durch ein kleines Plus vor dem eigenen Vornamen. Die harmlose Einladung entpuppt sich als Übergriff auf die eigene Persönlichkeit. Ab jetzt heißt das Ich „+ich“. Das verflixte Spiegelstadium hat eine neue Stufe erreicht. Wieder einmal.

Höchste Zeit, sich das Profil dieses Pluszeichens, des neuen grafischen Players im modernen Nutzerflächen-Leben, der die Grenzen zwischen Ich und Online-Ich verschiebt, mal näher anzusehen:

Allgemeines

Jahrgang: 1468

Heimatstadt: Leipzig. Als Vater gilt Johannes Widmann, Mathematikprofessor an der Universität Leipzig, der als Erster in seinem Buch Mercantile Arithmetic oder Behende und hüpsche Rechenung auff allen Kauffmanschafft die Symbole + und – für die Rechenoperationen Plus und Minus verwendet hat.

Familie: Zählt zu den Begriffszeichen (Ideogrammen) und internationalen Graphen. Daher ist es bestens aufgestellt für das globale Dorf, wird es doch sprachunabhängig überall auf der Welt in seinen Grundbedeutungen „Zusatz“ und „mehr“ verstanden.

Geschlecht: Sofern es manchmal symbolisch für seinen grafischen Verwandten, das Kreuz, einspringt, ist es in Kombination mit einem Kreis dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen (+o).

Ist interessiert an: Paarungen in unendlich denkbarer Anzahl, verkehrt in gewissen Kombinationen allerdings seine Ausrichtung ins Gegenteil (minus). Gilt kulturgeschichtlich als einer der frühen Kuppler auf Signifikanten-Ebene, besonders häufig vorzufinden in Gestalt von Einritzungen auf Baumrinden, umrundet von einem Herz (R + E für immer).

Image: Positiv. Was viele ganz einfach mit der Tatsache begründen, dass das Streben nach Mehr dem Menschen naturgemäß Freude bereite. In seinen Kinderjahren hatte das Pluszeichen dagegen mit Imageproblemen zu kämpfen. Gerade unter Wissenschaftlern konnte sich das gleichschenklige Zeichen aus zwei sich kreuzenden Linien lange Zeit nicht etablieren. Das christliche Kreuz und der Tod Jesu waren als Assoziationen zu dominant.

Beruf

Funktion: Bereits als Kinder kommen die meisten mit der Hauptfunktion des Pluszeichens in Berührung: Als informatorisches Zeichen steht es in der Mathematik für eine der Grundrechenarten, die Addition. Etwas später dann, wenn Sparschweine zerschlagen und Kindersparkonten eröffnet werden, bekommt seine zweite informatorische Bedeutung Gewicht: Das Plus bezeichnet positive Zahlen (größer als Null). Nur spezialisierte Menschen beschäftigen sich jedoch mit dem Usus des Pluszeichens in der Physik (positive Messwerte) sowie in der physikalischen Chemie (rechtsdrehende optische Aktivität von Substanzen).

Die zweite Funktion des Pluszeichens hat vor allem in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen: Als emblematisches Zeichen wird es gerne in Firmenlogos verwendet. Mit Ausnahme von Deutschland steht es international auch für die Kosmetik- und Pharmaindustrie, Apotheken benutzen als Logo nicht das rote Schlangen-A, sondern ein grü­nes Kreuz.

Seine bisher jüngste Funktion hat es durch das Internet erhalten: Dort dient es als Baustein von Programmiersprachen sowie als Element der Benutzerführung. Besonders im Zuge der zunehmenden Bedeutung von Suchmaschinen als Navigationshilfen im weltweiten Netz wurde das Pluszeichen eine unentbehrliche Größe.

Derzeitiger Arbeitgeber: das Unternehmen Google. Gemessen an der Geschwindigkeit im digitalen Geschäft hat es lange gedauert, bis einer der großen Player in der Netzbranche ein Konkurrenz-Produkt zu dem Selbstläufer Facebook entwickelt hatte, aber nun scheint sich die Sache für Google auszuzahlen. Sein neues soziales Netzwerk, bislang noch in der Beta-Testversion im Netz, wächst täglich. Die ausgewählte Startkundschaft aus mehr und weniger prominenten Stars der Community zeigte sich angetan von der Firmendienste-Ausdifferenzierung namens google+ (bislang konnte Google vor allem im Bereich der Suchmaschinen und Maildienste einen neuen Maßstab setzen).

Das Plus im Namen schmückt nicht nur als nettes Emblem das hinzugekommene Google-Angebot, es beschreibt auch sein Hauptprinzip: das des Hinzufügens. In einer Art Verschmelzung von Twitter und Facebook lassen sich auf google+ ohne große Mühe bekannte und unbekannte Personen verschiedenen „Kreisen“ hinzufügen. Für die deutsche Seele scheint dies den ersten Reaktionen zufolge sehr wohltuend zu sein, immerhin strapaziert Facebook den ehrwürdigen Freundschaftsbegriff doch arg. Dort stellt man bei Interesse an einem Kontakt zu einem anderen Mitglied im Netzwerk eine „Freundschaftsanfrage“, muss bestätigt werden und gilt dann offiziell als „Freund“. Wer Pech hat, wird per „Ignorieren“-Funktion „entfreundet“. Eine eindeutig neurotischere Variante des Netzwerkens im Vergleich zum Kontakte akkumulierenden google+.

Vor seinem Job bei google+ war das Plus lange Zeit als emblematisches Zeichen bei der Discounter-Kette Plus beschäftigt, die jedoch vor einem Jahr von Netto geschluckt wurde.

Philosophie

Weltanschauung: Bereits das Grimmsche Wörterbuch gibt Aufschluss über die Philosophie des Plus-Zeichens. Das aus dem Lateinischen stammende Plus, im Sinne von mehr, taucht etwa in folgendem Zusammenhang auf: „durch diese anstalten gewinnet sie ein plus von acht stunden in ihrem wirklichen Leben.“ Seit der Sprachsammlungstätigkeit der Gebrüder Grimm hat sich einiges verändert, der Zeitgewinn im wirklichen Leben ist jedoch nach wie vor eine bestimmende Größe. Auch wenn dieser heute vor allem dem virtuellen Leben im Netzwerk zugute kommen mag. Mehr Zeit und mehr Gewinn führen bereits damals zu den Eckpfeilern kapitalistischer Weltsicht: Zeit ist nicht nur Geld, sondern gesellschaftliches Disziplinierungsmittel. Ohne Arbeitstaktung wären die Fließbänder gar nicht erst angelaufen.

Profit daraus schlagen bis heute die „Plusmacher und Windbeutel“, wie sie das Grimmsche Wörterbuch bereits auflistet. Heute heißen sie nur anders: Marktliberale. Profitmaximierer. Wachstumsprinzipsanhänger. google+ selbst wächst zwar gerade astronomisch und hat soeben die 25 Millionen-Mitglieder-Marke überschritten. Gewinn im klassisch ökonomischen Sinne generiert es jedoch (noch) nicht. Perspektivisch soll jedoch aus den vielen Millionen Userprofilen, aus den Daten über ihre Vorlieben, die sie über die Funktion des „+1“-Vergebens (analog zum Facebook-„gefällt-mir“-Button) kundtun, Profit geschlagen werden. Je mehr Leute sich zu google+ hinzufügen lassen, desto mehr weiß google über potentielle Kunden, desto treffsicherer lassen sich Produkte und Dienstleistungen an die Verbraucher bringen. Die wiederum würden selbstverständlich nicht mitmachen, wenn sie keinen unmittelbaren Mehrwert für sich schaffen könnten: Anders als in den bisherigen sozialen Netzwerken lässt sich bei google+ das berüchtigte soziale Kapital sehr viel leichter anhäufen und verwalten. Personen werden ohne Zustimmung hinzugefügt und lassen sich anschließend in unterschiedlich vertraute „Kreise“ eingliedern. Mehr geht bisher nirgends.

Lieblingszitat von: Kindern („Ich will mehr!“), Kapitalisten („Mehr!“).

Unterhaltung

Kunst: Beliebtes Element im Schaffen von Joseph Beuys, etwa in „Halbiertes Filzkreuz mit Staubbild ‚Magda‘ “

Film: Werke wie 42 Plus oder Freundschaft Plus lassen nichts Gutes ahnen, jedenfalls aus Gendersicht nicht. Auch wenn so wunderbare Schauspielerinnen wie Natalie Portman (Freundschaft Plus) oder Claudia Michelsen (42 Plus) mitspielen, legt die Handlung eine unmissverständliche Fährte, in welchem Kontext das Plus hier verwendet wird: „Frauen über ...“, „Frauen jenseits der Altersgrenze, in der ...“, sogenannte „reifere Frauen, die es nochmal wissen wollen im Leben – trotz schwindender physischer Konkurrenzfähigkeit“. Frauen also, die in Wirklichkeit ohne Plus hinter dem Alter mehr vom Leben hätten.

Games: Im Bereich der Computerspiele steht das Plus gerne für das aus marktwirtschaftlicher Sicht existentielle „Zubehör“-Prinzip. Wer bitte belässt es denn schon bei einer einfachen Wii-Konsole? Eben. Mindestens ein „Wii Motion Plus“ sollte schon drin sein. Dieses Zubehör für die „Wii Remote“ verbessert nach Herstellerangaben die Bewegungen der Spieler, also ihre Leistungsfähigkeit. Sinnfälliger hat sich McLuhans Prothesen-These nie verdinglicht. Während die Spieler Fußball, Tennis oder alle möglichen anderen Sportarten „spielen“, also die Bewegungen vor dem Bildschirm mit dem ganzen Körper machen, übersetzt die Wii-Remote-Prothese in den Händen der Spieler das Ganze in Datenform und überträgt es auf den Bildschirm. Ein echter Mehrwert, spart sich so mancher dadurch angeblich das Fitnessstudio.

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Geschrieben von

Susanne Lang

Freie Redakteurin und Autorin.Zuvor Besondere Aufgaben/Ressortleitung Alltag beim Freitag

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