„Echte Innovation statt Bullshit-Bingo“

Digitale Medien Heute verschwinden kluge Köpfe nicht hinter Zeitungen. Sie neigen sich über Smartphones: Journalismus ist digital geworden - Medienhäuser weniger als junge Nutzer*innen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„Digitaler Journalismus – Daten, Kanäle, Storytelling“ war das Thema beim Netzwerk „Young + Restless“ und dem Debattenraum „Basecamp on Air“, die zusammen mit den Berliner Wirtschaftsgesprächen (bwg) zu einer gut besuchten und prominent besetzten Diskussion eingeladen hatten. Philippe Gröschel (Telefónica Deutschland) schrieb dem oft als „vierte Macht“ im Staat benannten Journalismus eine größere Innovationskraft zu als den offiziellen drei Säulen von Regierung, Parlament und Gerichten.

Diese Innovationskraft bekommt von Michael Kreil, Datenjournalist und Informatiker beim Bayerischen Rundfunk, allerdings schlechte Noten: Er attestiert vor allem den Zeitungsverlagen, der Digitalisierung zu wenig Aufmerksamkeit und Geld zu widmen: schlecht ausgestattete Arbeitsplätze, zu wenige und deshalb überlastete IT-Spezialist*innen, zu wenig Verständnis für digitale Notwendigkeiten wie W-Lan, Zulieferung von außerhalb und nutzergerechtes Content Management. Die Posten, die Innovation vorantreiben sollten, würden nach Hierarchie, nicht nach Fähigkeit besetzt. Man denke immer noch zu sehr in Texten, zu wenig in Karten, Bildern und, vor allem, zu wenig interaktiv. Das von den Verlegern geforderte Leistungsschutzrecht ist laut Kreil „unsinnig“ und versperre durch Festhalten am Alten den Weg in neue, digitale Geschäftsmodelle.

Während Kreil verbal eine kalte Dusche in den warmen Sommerabend goss, setzte Jan-Georg Plavec, Redakteur für Datenjournalismus bei der Stuttgarter Zeitung, auf positive Beispiele für gelungenen Datenjournalismus. Er unterstrich, dass Datenjournalismus keine Spielerei einzelner Zahlenverliebter sei, sondern „echte Innovation statt Bullshit-Bingo“. Datenjournalismus könne ein Vehikel für „Leuchtturmprojekte“ sein, sagte er und erinnerte an die interkontinentale Aufdeckung der „Panama Papers“, die ohne Datenjournalist*innen undenkbar gewesen wäre. In seiner Redaktion experimentiere man mit Künstlicher Intelligenz (KI), etwa für Wahlkreisberichte.

Journalismus müsse heute anders gedacht und anders vermarktet werden als früher, kommentierte Jeannine Koch, Vorsitzende des media:net berlinbrandenburg, das harte Urteil von Kreil. Das merke sie auch bei ihren Mitgliedsunternehmen. Sie forderte mehr Offenheit für die neue Entwicklungen, „damit wir die Lokalpresse nicht verlieren“. Stefan Niggemeier, Journalist und Gründer von „Übermedien“, räumte ein, dass sie die Fehlentwicklungen bei anderen Medien gerne kritisierten, in der Digitalausrichtung bei „Übermedien“ aber noch einiges nachzubessern sei. Für seine kleine Firma sei das auch eine Frage der Ressourcen.

Bei aller Präferenz für KI und digitale Methoden unterstrich Saim Rolf Alkan, CEO von AX Semantics, einer Software-Firma zur automatisierten Texterstellung, dass die Verantwortung für qualitätsvolle Inhalte immer bei der Redaktion liege, ausschlaggebend sei „der Macher, nicht die Maschine“. „Verantwortlich sind wir alle“, ergänzte Sebastian Turner, lange digitaler Treiber beim Berliner „Tagesspiegel“ und jetzt selbstständiger Medienunternehmer und Publizist.

Den Bogen zurück zur Medienpolitik wollte Moderatorin Diana Scholl, Leiterin politische Netzwerke und Strategie beim Bundesverband Mittelständische Wirtschaft (BVMW), mit der Frage an Margit Stumpp, Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Medienpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, schlagen: Ob die Politik der digitalen Kommunikation - gerade bei Social Media - nicht strengere Regeln setzen müsse. Doch Stumpp, die auch bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist, zeigte sich von den Ausführungen Kreils zu den Verlagen beeindruckt, die sie mit den Erfahrungen aus dem Homeschooling der vergangenen Monate verglich und als „erschreckend“ befand: „Ich dachte, die Verlage wären schon weiter.“ Sie habe als Ingenieurin immer viel mit Datenvisualisierung zu tun und halte es für notwendig, alle Schichten der Bevölkerung damit vertraut zu machen, „wie man Daten liest“. Dass dies auch für Journalist*innen gelten müsse, sei für sie eigentlich selbstverständlich. Allerdings habe ihr die Pandemie-Zeit auch eine weit verbreitete Illusion geraubt, denn „digital Natives können auch nicht besser mit Daten umgehen“.

Datenjournalismus und innovative Formate seien wichtig, um jene Menschen wieder zu erreichen, „die wir verloren haben“, die aber noch nicht ganz in digitalen Fake-News-Blasen gefangen seien, meinte Eva Werner, Leiterin der Kommunikation beim ARD-Hauptstadtstudio. Zuschauer der linearen Ausstrahlung würden immer weniger. Sie sieht aber auch Finanzierungslücken bei Öffentlich-Rechtlichen wie Zeitungsverlagen, die einen radikalen Ausbau des digitalen Angebots erschweren. Die Redaktionen müssten doch nicht alles selbst erfinden und machen, meinte Nico Lumma, Managing Partner bei Next Media Accelerator, schließlich gebe es dafür digitale Dienstleister und Ausbilder. Von den Monaten im Homeoffice hofft er einen Einfluss in den Verlagen: „Vielleicht ist da ja was in Bewegung gekommen.“

Die jungen, in digitalen Startups ausgebildeten Leute bewerben sich nach Turners Erfahrung aus seinen Zeitungsjahren nicht bei den Verlagen, dabei biete die Digitalisierung dem Journalismus „riesige Möglichkeiten“. Doch die Verlage müssten sich von veralteten ökonomischen Modellen verabschieden. Zwei der drei Säulen des Geschäfts, die Rubrik- und die Handelsanzeigen, seien auf andere Plattformen abgewandert, die Handelsanzeigen zusätzlich weggefallen wegen der geschlossenen Geschäfte in den Corona-Monaten. Der ausbaufähige Sektor seien die Abonnements. Der „Tagesspiegel“ habe seine (hyper)lokalen Newsletter für die Bezirke, die ja ganzen Großstädten entsprächen, ausgebaut. Das Angebot sei kostenlos, aber damit sei der Verlag in Kontakt mit über 250.000 teils neuen Leser*innen, bei denen hocheffektiv und profitabel neue Abos, auch für kostenpflichtige Themen-Newsletter, generiert werden könnten. Dies sei vor allem in großen Kommunen der richtige Weg, wo eine Aufspaltung in viele kleine Kopfblätter, die auch dem lokalen Händler die geeignete Werbeplattform bieten könne, wirtschaftlich nicht möglich sei.

Wieso gebe es im Journalismus kein Sammelangebot wie „Netflix“, wollte Scholl wissen. Niggemeier erinnerte, dass es bereits solche kioskartigen Internet-Versuche gegeben habe, die aber gescheitert seien. Zeitungsartikel behielten ihre Attraktion auch nicht wie beliebte Serien zum Wiedergucken. Außerdem solle man nicht unterschätzen, dass Leser*innen zu ihren bevorzugten Publikationen eine emotionale Bindung und Vertrauen haben. Dies sei zum Beispiel die Basis für die Existenz von „Übermedien“.

Jedes Medienhaus baue alles selbst und letztlich alle das Gleiche, anstatt sich dafür zusammenzuschließen, monierte Lumma. Auch Koch beobachtet, dass jeder Verlag sein eigenes digitales Abo samt Micropayment gestalten wolle, und die Branche die Gemeinsamkeiten nicht sähe. Das mache die Vertragsverhandlungen mit den einzelnen Häusern so schwierig. Das Nutzerverhalten sei heute sehr fragmentiert, aber es gebe gute Chancen für Nischen, wie thematische Publikationen oder Podcasts mit mehr Hintergrund.

Die öffentliche Förderung der, auch lokalen, journalistischen Nischen hat laut Stumpp immer das Problem der geforderten „Staatsferne“. Statt „Netflix“ gebe es aber nun „Facebook News“, wobei sie nicht verstehe, weshalb sich die Medienhäuser damit den großen Tech-Giganten auslieferten. Für Turner liegt das Problem der Tech-Giganten bei deren „Plattform-Privileg“, das sie seit dem Jahr 2000 von der Verantwortung für die bei ihnen veröffentlichten Inhalte entbinde. Das müsse dringend stärker reguliert werden: „Da muss die Axt ran!“ Es könne nicht sein, dass Monopolisten die Freigabe aller Rechte erpressten. Es gebe keine Meinungsfreiheit ohne Meinungsverantwortung.

In zwei kurzen „Project Pitches“ sprachen Volker Bach, Geschäftsführer des Berlin-Brandenburger MIZ Babelsberg, und Lina Timm, Leiterin des Media Lab bei Mediennetzwerk Bayern, über die Chancen, die den Startups der digitalen Information bei den Landesmedienanstalten geboten werden. Sie geben innovativen Köpfen eine Anschubfinanzierung, damit sie, entlastet vom Alltagsgeschäft, ihre Ideen vorantreiben und zur Marktfähigkeit bringen können. Nach der Zählung des bayerischen Media Lab haben rund 60 Prozent der Geförderten den Markteintritt geschafft.

Den Schluss des Online-Reigens setzte als „Kopf des Monats“ Astrid Csuraji, Gründerin von tactile.news, die einst auch von der Förderung durch das MIZ profitiert hatte. Die Grundhaltung bei tactile.news sei: „neue Sachen einfach ausprobieren“, mehr Risiko wagen und vor allem schnelle Prototypen entwickeln, ob mit einer Gasmessung bei Kühen oder der im Fernsehen vorgeführten Mikroplastikjagd in Gewässern mit Damenstrümpfen. Dabei bringen sie ihre Ideen auch in Redaktionen ein, die offen für Neues sind. Zurzeit propagieren sie die Nutzung von Messenger für Lokalredaktionen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Susanne Stracke-Neumann

Susanne Stracke-Neumann ist freie Journalistin. Für die meko factory berichtet sie über Veranstaltungen.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden