Dreizehn Menschen, elf Frauen und zwei Männer, in einem Kreis, in der Mitte ein Blumenstrauß, Farbtupfer an einem trüben Novembertag. „Kriegsenkel – Annäherung an das Thema einer Generation“: So lautet der Titel des Seminars. Die Spannung im Raum ist mit Händen zu greifen, und der Grund dafür wird gleich zu Beginn deutlich. Vier Teilnehmerinnen berichten davon, dass ihre Großväter oder Väter Mitglieder der SS gewesen waren. Als die Reihe an die vierte kommt, bricht sie in Tränen aus. Sie erzählt von einer Haussuchung des SEK bei ihrem 93-jährigen Vater vier Wochen zuvor. Verzweifelt ist sie, hin- und hergerissen zwischen der Sorge um den hinfälligen Mann und der Abscheu über seine Vergangenheit als Wachmann im KZ.
Ob sie überhaupt in das Seminar kommen solle, hatte mich eine andere Teilnehmerin Tage zuvor am Telefon gefragt. Ihr Leben sei aus den Fugen geraten, seit sie im Nachlass des Vaters Unterlagen über seine SS-Täterschaft gefunden hätte. Wie darüber sprechen – und das im Kreis von völlig Unbekannten? Ob ein solches Treffen überhaupt der geeignete Rahmen sei?
Das Bedürfnis nach Entlastung
Als Seminarleiter von Kriegsenkel e.V. habe ich viele dieser Veranstaltungen angeleitet. Dieses Seminar war anders, intensiver. Der Mut der Töchter und Enkelinnen der SS-Männer, sich zu offenbaren, schuf eine Atmosphäre der Intimität, wie sie zwischen Menschen, die sich zum ersten Mal begegnen, selten ist. Wir erlebten den Wunsch, zu verstehen, statt zu urteilen. Es war eine heilsame Erfahrung.
Das Bedürfnis nach Entlastung ist einer der Gründe für den großen Zulauf zu Kriegsenkel-Seminaren, Vorträgen und Tagungen. Alexandra Senfft hat recht, wenn sie im Freitag vom 7. Mai schreibt: Die Kriegsenkel „suchen Heilung in Therapien und Workshops, sie adressieren die psychischen Belastungen einer oft kontaktlosen Erziehung, der Depressionen und Aggressionen in ihren Familien“. Präzise legt sie die Mechanismen deutscher Selbstentlastung von der Verantwortung für die Nazi-Gewaltherrschaft offen. Sie sieht die Kinder der Kriegskinder in dieser verhängnisvollen Tradition. „Eine Beschäftigung mit dem Selbst, bei der das Emotionale sich nicht mit historischen Fakten und politischen Implikationen verbindet und die Verantwortlichkeiten ausblendet“, warnt Senfft, „leistet der Entpolitisierung Vorschub.“ Sie fordert stattdessen: „Das Ziel der Suche darf nicht Entlastung und Erlösung sein. Wir sollten dem Entsetzen (...) standhalten.“
Macht der Wunsch nach Entlastung, mit dem die Kriegsenkel in die Seminare kommen, also unpolitisch und geschichtsvergessen? Ist er gleichsam der Gipfel einer egoistischen Perspektive auf den historischen Kontext, in dessen Zentrum das eigene Wohlbefinden steht? Schlimmer noch: Wird, wie Alexandra Senfft formuliert, die „fast inflationär“ gefällte Diagnose Trauma von den Nachkommen der Täter dazu missbraucht, die wahre Traumatisierung der überlebenden Opfer und ihrer Nachkommen zu verharmlosen?
Das sind schwerwiegende Fragen. Gewiss gibt es Bestrebungen, die abstoßenden rassistischen, antisemitischen und rechtsextremistischen Tendenzen in unserer Gesellschaft Vorschub leisten. Aber der Wunsch, die eigene Familiengeschichte zu erforschen, um Depressionen zu entkommen, Traumata zu lindern oder inneren Frieden zu finden, gehört nicht dazu.
Sich selbst als Kriegsenkel zu identifizieren, ist für viele ein Schock: zu lernen, wie geradezu determinierend die Geschichte der Großeltern und Eltern für das eigene Leben sein kann, widerspricht dem Selbstkonzept vieler Menschen. Aber Entlastung und Heilung, so meine Erfahrung, sind ohne die historischen Fakten der Familienbiografie nicht zu haben. Davon berichten Teilnehmer*innen der Seminare immer wieder. Wie erschreckend die Ergebnisse ihrer Recherchen in der Geschichte der Familie – aber wie entlastend, das Schweigen über die Geheimnisse endlich gebrochen zu haben. Und das Interesse der Kriegsenkel an der Vergangenheit ist groß. Jährlich gehen etwa 40.000 Anfragen beim Bundesarchiv ein, mit denen Nachfahren die Geschichte ihrer Soldaten- oder Nazi-Väter und -Großväter aufzuklären versuchen.
56 Kilometer Akten
Als ich auf einem Soldatenfriedhof in Estland am Grab meines Onkels stand, kam ich nicht umhin, mich zu fragen, was dieser 21-jährige Mann hier, 1.850 Kilometer von zu Hause, eigentlich zu suchen hatte. Wer sich emotional berühren lässt, dem brennt sich ein „Nie wieder!“ in die Seele. Es war heilsam, diesen Onkel nach 72 Jahren emotional wieder in die Familie zu holen. Sein Tod auf dem Rückzug der Wehrmacht von Leningrad war in meiner Familie nie betrauert worden. Sein Zwillingsbruder, mein Vater, hatte sich nie bemüht, auch nur den Ort seines Grabs zu ermitteln. Es gab auch kein Gespräch über den Irrsinn des Krieges. Obwohl selbst durch die Amputation des linken Unterarms kriegsversehrt, hinterfragte mein Vater den Krieg und das Militär nicht. Als ich ihm Ende der 70er Jahre eröffnete, ich würde den Kriegsdienst verweigern, sagte er: „Junge, das wirst du mir doch wohl nicht antun?!“ Ich wollte, und ich habe. Trotzdem dauerte es noch Jahrzehnte, bis ich begann, die Kriegsvergangenheit meiner Familie zu recherchieren.
Die Erinnerungsarbeit führte mich an den Eichborndamm 179 in Berlin. Dort hat die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“, heute Teil des Bundesarchivs, ihren Sitz. 56 Kilometer Akten lagern dort, und zwei Karteikarten lagen vor mir auf dem Tisch: „Rohde, Gerhard“ und „Rohde, Kurt“. Penibel ist notiert, wo die Brüder im Kriegsdienst waren: zunächst bei Kopenhagen, dann auf der Krim, dort erkrankt an Scharlach. Der eine, Kurt, wurde früher gesund. So trennten sich ihre Wege. Gerhard überlebte, zweimal schwer verletzt, und gründete eine Familie. Kurt überlebte nicht. Der Eintrag auf der Karteikarte: „verstorben am 13.03.1944, um 4.10 Uhr im Feld-Lazarett 11, Wesenberg. Grablage: Soldatenfriedhof Wesenberg/Estland, heute Rakvere.“ Mithilfe der Informationen über die Einheiten der Brüder schrieb ich eine Mail-Anfrage an die für Kriegsverbrechen zuständige Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg. Mit Herzklopfen schickte ich sie ab, erleichtert las ich die Antwort: keine Erkenntnisse.
In Seminaren erlebe ich das immer wieder: Das persönliche Leid wirkt erkenntnisleitend. Ihm können wir, im Unterschied zu moralischen oder juristischen Kategorien, nicht entkommen. Es liegt nicht in unserer Hand, es „jetzt mal gut sein zu lassen“, „einen Strich zu ziehen“. So funktioniert das Unbewusste nicht, weder das individuelle noch das kollektive. Das wachsende Interesse an der Aufklärung der Familiengeschichte spricht dafür, dass diese Einsicht wächst. Die Psychoanalytikerin Angela Moré erklärt die transgenerationale Weitergabe von belastenden Erfahrungen mit „Introjekten“, nicht integrierten Persönlichkeitsanteilen der Eltern, die auf das Kind übertragen werden und „im Erleben, in Träumen, Fantasien und Affekten wirksam sind, sich aber dem Verstehen entziehen“. Gleichsam am Bewusstsein vorbei steuern sie das Verhalten, äußern sich in psychischen oder psychosomatischen Symptomen, werden in unbewusst hergestellten Situationen aufs Neue inszeniert. „Schicksalhaft“ nennt Angela Moré dieses Erbe der Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung und Genozid. Sie warnt: „Wo die Aufarbeitung nicht oder nur unvollständig gelingt, wird die Gefühlserbschaft zur Last auch noch für die Enkel*innen und Urenkel*innen.“ Bis zu dem Punkt, an dem sie neue Schuld auf sich laden.
Die Erkenntnis, dass traumatische Erfahrungen kommenden Generationen vererbt werden können, steht bei den Kriegsenkel-Seminaren drohend im Raum. Die Forschungsergebnisse der Epigenetik, die eine Weitergabe dieser Erfahrungen über die DNA nahelegen, sind für viele Teilnehmer*innen schockierend. „Was haben wir unseren Kindern vererbt – auch die sadistischen Anteile unserer Vorfahren?“ Je gründlicher die Aufarbeitung der Familiengeheimnisse, je klarer das Bild der Vergangenheit, umso größer die Chance, dass wir die Weitergabe beenden. Die Teilnahme an einem Seminar, die Recherche beim Bundesarchiv, der Besuch am Grab, das Gespräch darüber mit Angehörigen, Kindern, Freunden sind erste Schritte, dafür Verantwortung zu übernehmen.
Selbstverständlich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den Traumatisierungen der Überlebenden des Holocausts und ihrer Nachkommen und den Nachkommen der Täter, Mitläufer und Zuschauer der Nazi-Gewaltherrschaft, wie Alexandra Senfft betont. „Wobei die Brutalität und der Sadismus der Täter auch in ihren Familien traumatisierend gewesen sein können. Nicht nur in Einzelfällen. Man muss lernen, das ohne Opferkonkurrenz festzustellen. Um sich diesen Traumen zu nähern, brauche es zunächst „Mitgefühl für den Schmerz der Patient*innen und ihrer jüngeren beschädigten Anteile“, sagt die Traumatherapeutin Luise Reddemann. „Danach kann die Geschichte der Eltern betrachtet werden, und die erwachsene Person kann ihre Schlüsse ziehen und ihrer Verantwortung in der Gegenwart nachkommen.“ Was auch Versöhnung mit den Vorfahren einschließen kann, aber nicht muss.
Alexandra Senfft hat recht: Es ist unsere Aufgabe, dem Entsetzen über ihre Taten standzuhalten. Dabei aber nicht in Verdrängung, Verzweiflung oder Aggression steckenzubleiben, gelingt nur, wenn die Konfrontation bis dorthin reicht, wo das Entsetzen ohnehin noch wirkt – im individuellen wie kollektiven Unbewussten.
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