Die nächste Bürgerpflicht: Plastikscham

Umwelt Die Tüte muss weg, findet unsere Kolumnistin. Schämen sollten sich aber nicht unbedingt ihre Käufer
Ausgabe 25/2019
Klingt harmlos, ist aber großer Müll: die sogenannte Hemdchentüte
Klingt harmlos, ist aber großer Müll: die sogenannte Hemdchentüte

Foto: Imago Images/ZUMA Press

Achtung, Achtung, es geht dem Hemd an den Kragen! Besser gesagt der Hemdchentüte, jener flattrigen Plastikhülle, in der Sie im Supermarkt bislang Ihr Obst und Gemüse verstauten. Ihr niedlicher Name – den sie trägt, weil sie aussieht wie ein Unterhemd – täuscht darüber hinweg, welch ein Monster sie ist. Mit ihr ist nun ein neuer Umweltsünder aus der Familie der Plastikgegenstände enttarnt. Sie muss weg.

Wer sich noch vor Kurzem gefragt hat, warum es mit dem Umweltschutz bloß so dermaßen schleppend vorangeht, der ist genau wie das Europaparlament in diesem Frühjahr sicher schnell auf Strohhalme und Luftballonhalter gekommen. Wie hatten wir diese Riesensauerei auf Europas Kindergeburtstagen nur so lange übersehen können? Wenn die von 2021 an erst mal verboten sind, so hofften Sie sicher auch, dann würde das Problem mit den vermüllten Weltmeeren endlich ein Ende haben. Aber da haben Sie Ihre Rechnung ohne die Hemdchentüte gemacht. Denn sie hat klammheimlich den Platz der Plastiktragetasche eingenommen. Seitdem die vor drei Jahren kostenpflichtig geworden ist, gibt es doch tatsächlich ein paar Füchse, die ihre Supermarkteinkäufe einfach in die kostenfreien Tütchen aus der Obst- und Gemüseabteilung stopfen. Jeder deutsche Bundesbürger zog im vorigen Jahr 37 dieser unscheinbaren Tüten von der Rolle – 37 Umweltsünden.

Aldi eilt nun zur Rettung: Der Discounter will für jede Hemdchentüte künftig den Mindestbetrag von einem Cent berechnen, das sind für jeden von uns dann immerhin 37 Cent im Jahr! Wir sollten uns schämen, dass wir es so weit haben kommen lassen, dass nun solch drastische Maßnahmen nötig sind, um uns zu erziehen. Plastikscham ist übrigens nach Flugscham das nächste große Ding. Der East West Market im kanadischen Vancouver wollte seine Kunden dazu bringen, weniger Tüten zu benutzen, indem er die Tüten mit peinlichen Schriftzügen wie „Wart Ointment Wholesale“ (Warzensalben-Großhandel) bedruckte. Er bewirkte das Gegenteil: Statt sich zu schämen, sammelten die Kunden die Plastikbeutel. Damit wir uns so richtig schämen, sollten tote Seevögel auf die Tüten gedruckt werden, schlug der Guardian in einem Kommentar vor.

Aber wissen Sie, wer sich eigentlich schämen sollte? Der Tütenhersteller, die Erdölindustrie und die Politik, die uns weismachen will, wir seien das Problem und nicht die Großkonzerne, die uns mit ihrem Plastikkram vollmüllen. Ich wäre bereit, meine letzte Hemdchentüte zu geben, aber sind es auch die, die an ihr verdienen?

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