Über den Ausstieg spricht man nicht hungrig

Kohle Das viel zu späte Ende der Kraftwerke können nur Übermüdete entschieden haben, meint unsere Kolumnistin
Ausgabe 05/2019
Spätestens 2038 sollen auch diese Kohlemeiler bei Grevenbroich nicht mehr dampfen. Vielleicht
Spätestens 2038 sollen auch diese Kohlemeiler bei Grevenbroich nicht mehr dampfen. Vielleicht

Foto: Sascha Schuermann/Getty Images

Klar, jeder kennt das. Wenn man ein unangenehmes Gespräch führen muss, redet man am liebsten erst mal über irgendwas anderes. So lange wie möglich. Zum Beispiel mit dem Chef über Hosenfarben, die aktuelle Nachrichtenlage oder den Milchdienst für den Kaffeeautomaten, bis man schließlich sehr spät – und von dem bis dahin geführten Ablenkungsgespräch reichlich ermattet – zum eigenen Thema kommt: zur Arbeitszeit, zum Beispiel. Die Kohlekommission wollte bei ihrer Tagung am vergangenen Freitag über den Klimaschutz sprechen. Eigentlich. Sie ahnen, wohin das Gedankenspiel führt.

Sieben Monate lang diskutierten die Mitglieder alles Mögliche, vielleicht sogar Hosenfarben, aber nicht über das Klima. Sie machten Ausflüge, etwa in strukturschwache und von der Braunkohle abhängige Regionen in der Lausitz, um zu erkennen: Mensch, die werden aber unsere Hilfe brauchen, wenn wir denen eines Tages die Kraftwerke abdrehen. Sie stritten darüber, wie viele Strompreiserleichterungen die Industrie bekommen soll, wenn die Kohlekraft wegfällt, und sie sprachen darüber, wie „wünschenswert“ es wäre, dass der durch hartnäckige Proteste berühmt gewordene Hambacher Forst bleiben darf. Aber bis zur letzten Verhandlungsnacht am Freitag sprach niemand in der Kommission darüber, wann wie viel Kohlekraft abgeschaltet wird – also über das Einzige, was für den Klimaschutz relevant ist. Die Kohlekommission redete folglich satte sieben Monate lang über den Kohleausstieg, ohne über den Ausstieg zu reden.

Das fanden selbst einige der Kommissionsteilnehmenden absurd. Am letzten Verhandlungsabend, es war schon dunkel, hüstelte der metaphorische Elefant im Raum dann inmitten einer Vielzahl „kritischer Punkte“ erstmals in die Runde. Damit sich nicht alle mit dem Giganten rumschlagen mussten, schlug Sitzungsleiter Ronald Pofalla Gruppenarbeit vor. Und dann gab’s erst mal Pizza für alle – also alle, die schnell genug waren, Alpha-Tiere teilen nicht gerne. Vielleicht lagen die Kartons mit den abgenagten Rändern dann noch auf den Konferenztischen, es ging auf zehn Uhr, im großen Saal lief stumm das Halbfinale der Handball-Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Norwegen, als sich eine kleine Gruppe endlich des Elefanten annahm.

Vielleicht waren die einen dann noch angefressen, weil sie keine Pizza abbekommen hatten, und die anderen wollten lieber das Spiel im Nebenraum sehen, sicher aber waren alle müde von den bis dahin schon rund 14 Stunden Verhandlungen. Man kann also sagen: Es war nicht ganz die perfekte Ausgangslage, die man sich für die Verhandlung der wichtigsten Maßnahme zur Einhaltung des deutschen Klimaziels wünschen würde. Man kann auch davon ausgehen, dass die Lage nicht besser wurde, je weiter die Diskussionen in die Nacht hineinreichten. In den frühen Morgenstunden sinkt der menschliche Körper bekanntlich auf sein Leistungstief. Er schüttet dann jede Menge Melatonin aus, was im Schlaf für Entspannung sorgt, im wachen Zustand hingegen für schlechte Laune.

In ebendiesem Tief entschied die Kohlekommission den Ausstieg. Weil nach den Plänen der Übermüdeten bis 2022 schon Kohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von rund 12,5 Gigawatt runtergefahren werden sollen, müsste man meinen: Das Klimaziel ist eventuell schaffbar. Für den Zeitraum danach gibt es aber keine konkreten Zahlen, da ging den Kommissionsteilnehmern offenbar die Puste aus. Und dass die letzten Meiler dann noch bis 2038 weiterlaufen dürfen, ist katastrophal. Da hülfe es auch nicht, das eine UN-Klimaziel acht Jahre zuvor eventuell erreicht zu haben. Dieses maue Ergebnis sieht leider auch am nächsten Morgen, mit weniger Melatonin, nicht besser aus.

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