Der Mensch als Cyborg

Eingriffe ins Gehirn Bei der "tiefen Hirnstimulation" werden Elektroden in den Kopf eingesetzt -jetzt nicht mehr bloß gegen motorische Störungen, sondern auch bei psychischen ­Erkrankungen

Ben und Sabine sind heute in die Klinik gekommen, weil irgendetwas mit den Elektroden nicht stimmt, die Volker Sturm in ihre Gehirne implantiert hat. Volker Sturm leitet die neurochirurgische Abteilung der Universitätsklinik Köln. In den 1980er Jahren hat er die „tiefe Hirnstimulation“ in Deutschland eingeführt, ein Verfahren, das zuerst nur bei Schmerzpatienten angewandt wurde. Mittlerweile operiert Sturm auch Patienten mit motorischen Störungen, Multipler Sklerose beispielsweise, Unfallopfer mit einem posttraumatischen Zittern oder, im Schnitt zwei bis drei Mal pro Woche, Parkinson-Patienten im Endstadium. „Weit mehr“, sagt er, „interessieren mich aber Patienten mit psychiatrischer Indikation.“ Menschen etwa, die vier Stunden am Tag duschen oder hundert Mal ihre Hände waschen müssen. Allerdings habe er auf dem Gebiet psychischer Erkrankungen noch nicht allzu viel Erfahrung, „bislang haben wir elf Menschen mit Depressionen im Rahmen von Studien operiert“. Elf von insgesamt 800.000 Menschen, die in Deutschland mit einer unbehandelbaren Depression leben.

Als unbehandelbar – und nur solche Fälle nimmt Volker Sturm auf – gilt ein psychisch Kranker, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die gestellten Diagnosen müssen von mehreren Psychiatern während eines stationären Aufenthalts des Patienten bestätigt werden. Zweitens muss erwiesen sein, dass sowohl medikamentöse Therapie als auch Psychotherapie – insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie – ineffektiv sind und es keine „Optimierungsmöglichkeiten“ mehr gibt.

Ein zwanghaftes Lachen

Wie aber kann die tiefe Hirnstimulation diesen Patienten helfen? Wo setzt sie an? „Es sind Funktionskreise gestört“, sagt Volker Sturm. „Lang andauernder Stress, also etwa eine Depression, führt zu einem Umbau des Gehirns, so dass Regelkreise aus dem Takt geraten.“ Die tiefe Hirnstimulation bringt diese gestörten Kreise wieder zum Laufen – und wie genau das geschieht, erklärt der Neurochirurg am Beispiel der Parkinson’schen Krankheit. „Bei Parkinson-Patienten gehen Zellen, die den Überträgerstoff Dopamin produzieren, vorzeitig zugrunde, wodurch Dopaminmangel entsteht. Bis vor fünfzehn Jahren war es Lehrmeinung, dass durch lang andauernden Dopaminmangel Zellen in der motorischen Hirnrinde absterben. Mittlerweile weiß man aber, dass der Mangel zu einer Störung eines ganz kleinen Kerngebietes im Mittelhirn führt, dem so genannten Nucleus Subthalamicus. Dieser wiederum funktioniert in der Folge wie ein Störsender und legt große Teile der motorischen Hirnrinde funktionell lahm.“ An diesem Störsender setzt die tiefe Hirnstimulation an. „Man muss diesen Sender nur runterregeln, indem man mit höchster Präzision eine Elektrode implantiert. Der krankmachende Entladungsrhythmus wird ersetzt durch einen anderen Rhythmus, so dass die Hirnrinde befreit wird und die Patienten wieder laufen können. Die Zellen sind also nicht kaputt, sondern nur funktionell gestört.“

Das gleiche Prinzip nun gilt, so Sturm, auch für psychische Erkrankungen, „nur dass andere Regelkreise betroffen sind, die wir noch nicht so gut kennen.“ Zur Zeit konzentriert sich der Forscher auf den Nucleus Accumbens, eine winzige Hirnstruktur, die in das körpereigene Belohnungssystem eingebunden ist. „Das Kardinalsymptom der Depression ist ja die Unfähigkeit, Freude zu empfinden“, erklärt der Arzt. „Und wenn man nun diese Hirnregion stimuliert, gibt es plötzlich wieder Dinge, auf die sich die Patienten freuen. Ein Münchner sagte mir zum Beispiel nach der Operation, dass er gern einmal den Kölner Dom sehen wolle.“

Ob der Eingriff Persönlichkeitsveränderungen hervorrufe? „Bei Parkinson-Patienten sind mitunter nach der Operation psychische Störungen aufgetreten, es hat auch Suizide gegeben.“ Durch den Eingriff müssen die Patienten plötzlich kein Dopamin mehr einnehmen, ihr Körper hat sich aber über Jahre an die Einnahme gewöhnt. „Das haben wir nicht genug bedacht.“ Darüber hinaus bringt es manche Patienten ganz durcheinander, wenn es ihnen plötzlich motorisch viel besser geht. Sie sind wieder mobil, können mitentscheiden, was auch ihre Familien, die sich mit der Zeit auf die Krankheit eingestellt haben, schwer belasten kann. Bei depressiven Patienten hat Volker Sturm dagegen noch keine Persönlichkeitsveränderungen festgestellt. „Nur ein Patient hat bei höheren Spannungen ein zwanghaftes Lachen entwickelt, ohne eigentlich froh zu sein.“ In so einem Fall kann man entweder die Elektrode operativ wieder entfernen oder die Spannung in den Elektroden herunterregeln.

Eingesetzt wird die Elektrode bei vollem Bewusstsein des Patienten durch ein acht Millimeter großes Loch in der Schädeldecke. Während der Operation ist der Kopf des Patienten in einem Metallring fixiert, damit er sich keinen Millimeter bewegen kann – denn der vorausberechnete Winkel, in dem Volker Sturm die Elektrode einsetzt, muss exakt eingehalten werden, um kein Gehirngefäß zu beschädigen. Betrieben wird die Elektrode durch einen Schrittmacher, die dem Patienten unter die Haut auf den Brustmuskel eingepflanzt wird.

Der Schrittmacher ist ungefähr so groß wie ein aufklappbares Feuerzeug und steht unter der Haut leicht hervor. Die Batterien der Schrittmacher halten bei Parkinson-Patienten länger als bei Depressiven, da die Reizfrequenz bei letzteren höher eingestellt ist. Um zu verhindern, dass die Schrittmacher aufgrund des Batteriewechsels alle paar Jahre herausgenommen werden müssen, hat man inzwischen Geräte entwickelt, die sich wie ein Handy aufladen lassen. Weil dies aber zwei Mal pro Woche nötig ist, sind die Geräte nicht sehr beliebt. „Die Patienten“, erklärt Volker Sturm, „werden dann immer wieder an ihre Krankheit erinnert.“

Auch bei Ben, der am Tourette-Syndrom leidet, lag die Störung an der Batterie, die dringend ausgewechselt werden musste. Ingesamt aber gehe es ihm dank Elektrode viel besser, meint Volker Sturm. Und Sabine, eine junge Frau, die wegen einer schweren Zwangsstörung eine Elektrode in den Nucleus Accumbens implantiert bekam? „Leider ohne Effekt.“ Aber Volker Sturm ist überzeugt, dass er die Elektrode nur an einer falschen Stelle eingesetzt hat. Jetzt bekommt sie eine zweite Elektrode implantiert. In ein anderes Kerngebiet.

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