Es gibt Schicksal, sagt Ksenija, und es gibt Zufall. Welches von beidem aber nun dafür verantwortlich sei, dass sie mit mir um Mitternacht in ihrer Küche sitze, das wisse sie auch nicht. Vielleicht sei das aber auch gar nicht wichtig, denn das Grundlegende sei ja schließlich das Ausgeliefertsein ans Ereignis, an eine Realität eben, die uns zufalle. Ich gebe zu bedenken, dass es zwar nicht ausschließlich uns zuzuschreiben ist, dass ich, zusammen mit sechs anderen DoktorandInnen, aus der westfälischen Provinzstadt Münster in die drei Zugstunden von Moskau entfernte Provinzstadt Rjasan gekommen bin und dann auch noch ausgerechnet bei ihr, Ksenija, untergebracht wurde. Wohl aber, sage ich, ist es unser Verdienst, dass wir uns hier nachts nach zwei anstrengenden Kongresstagen und unzähligen Gesprächsterminen noch angeregt miteinander unterhalten, denn das, meine ich, geht über den eigentlichen Anlass unseres Zusammentreffens hinaus.
Dieser Anlass, eine Tagung zum Thema Geschlecht und Gesellschaft, zu der die Rjasaner Philosophiedozentin Natalia Bochina uns eingeladen hatte, hat sich jetzt erledigt, der Kongress ist seit ein paar Stunden vorbei. Der letzte Abend in Rjasan, bevor es morgen weiter geht nach Moskau. Ksenija Kuleschova ist erst 19, doch die Haltung, in der sie mir gegenüber sitzt, die Art, wie sie erzählt von ihrer großen Liebe, die leider schon zu Ende sei - sie hätten heiraten müssen, wenn sie zusammen geblieben wären - lässt mich den Altersunterschied vergessen. Sie hätte schon gerne eine Familie, meint sie nach einer kurzen Pause, irgendwann.
Dass die Tagung vorbei ist, scheint nicht nur mich, sondern auch sie zu erleichtern, wir sprechen nicht darüber, aber ich sehe es ihr an. Sie ist krank geworden in der Nacht zuvor, mittlerweile hat ihr Gesicht wieder etwas Farbe bekommen, aber der Stress der letzten Tage ist immer noch deutlich erkennbar. Und nicht nur sie, auch die sechs anderen russischen Studentinnen, Lena Burykina, Olga Krotova, Anna Lapitzkaja, Tatjana Massjutkina, Valeria Skonnikova und Lilja Zarjova, sie alle sahen heute deutlich müder aus als vier Tage zuvor, am Tag unserer Anreise, an dem wir empfangen wurden von sieben strahlenden Gesichtern, trotz des kalten Schmuddelwetters. Und dieses Strahlen sollte auch die nächsten vier Tage nicht vergehen, sogar während der zahlreichen Restaurantbesuche nicht, die immer mit sich brachten, dass uns die gesamte Speisekarte übersetzt werden musste.
Noch sind wir in Rjasan und in Rjasan, so erklärte uns bereits am Tag nach unserer Anreise die Anglistikprofessorin Angelina Volovick, Leiterin der NGO Women in Education, Science, Business und neben Natalia Blochina die einzige Lehrende, die Seminare zur Geschlechterforschung anbietet, beschäftige man sich mit Realitäten. Damit etwa, dass es vielen jungen Frauen vom Lande immer noch unmöglich ist, an die Universitäten zu gelangen, da das Niveau der dortigen Schulen für die Aufnahmeprüfung einfach nicht ausreicht. Anschließend zeigt sie uns Bilder aus einer Broschüre, Fotos von jungen Frauen, die es geschafft haben Dank ihrer Hilfe.
Und auch Natalia Lapitskay, eine sympathische und energiegeladene Frau Mitte 40, beschäftigt sich mit greifbaren Realitäten. Eigentlich ist sie Ärztin, hat dann aber 2001 das Rjasaner Genderzentrum gegründet, einen Ort, an dem Frauen als ständiges Angebot psychosoziale und juristische Beratung sowie theorie- und praxisorientierte Bildungsangebote wie beispielsweise kostenlose Computerkurse in Anspruch nehmen können. Vor allem die psychosoziale Beratung findet unter den Rjasanerinnen viel Zulauf, über 300 Frauen allein in den ersten zehn Monaten suchten Rat bei Natalia Lapitskay. 14.000 Frauen werden jedes Jahr in Russland von ihren Männern getötet, 54.000 schwer verletzt, erzählt sie uns.
Am dritten Tag schließlich begann der Kongress, wobei der Ausdruck "Kongress" etwas hochgegriffen ist, denn bis auf den ein oder anderen verirrten Gast nahmen nur wir 14 Vortragenden selbst teil. Wir setzten uns wie von Zauberhand gefügt nach Nationen geordnet, und es fing ein quälendes zweitägiges Aneinandervorbeireden an. Dank Ksenija und ihren Kommilitoninnen bewegten wir uns zwar durchaus in derselben Sprache, aber das Vokabular, das Sprachspiel war jeweils ein komplett anderes. Denn während wir im bekannten westlich-akademischen Signifikantenhimmel schwebten, über Diskurs, Inszenierung, Blut, Inzest und schwules Theater dozierten, wurde auf der anderen Seite das Frauenunternehmertum in Rjasan, die Lage der Frau im Christentum, die Misogynie in den Arbeiten von Kant analysiert.Woran liegt es wohl, dass wir als wir als Vertreterinnen des Westens uns in die virtuellen Sphären des Zeichens flüchten, während auf der anderen Seite im Koordinatenkreuz von "gerecht" und "ungerecht" nachgedacht wird? Während hier "die Frau" gar nicht in den Blick gerät, sondern vielmehr das, was ihr wiederfährt, lassen wir umgekehrt "die Frau", beziehungsweise alles andere, was unter Seinsverdacht steht, nicht aus den Augen, dekonstruieren ihre Ontologie - und belassen es unsererseits dabei.
Die Realität, so wird uns Natalia Blochina in Moskau während eines Besuchs des Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung an der Lomonossow-Universität erklären, sei wie ein Stein im Fluss, ein Stein auf den man sich verlassen und auf den man treten könne, um sicher den Fluss zu überqueren. Die Realität sei greifbar, und zwar nicht nur in Form von konkreten Konflikten, die gelöst werden wollen, sondern auch in Form von Biologie. Und diese Biologie, wird ihr die Leiterin und einzige Professorin des Zentrums, Irina Kostikova mit Blick auf das schwule Theater beipflichten, habe durchaus ihren Sinn, denn die Nation, so werden beide einstimmig ergänzen, lebe von der Fortpflanzung, das sei schon immer so gewesen und werde auch immer so bleiben, trotz des Kapitalismus, der die Homosexualität genauso wie den Luxus mitgebracht habe.
Doch im Moment sitze ich noch mit Ksenija in der Küche, in der Stadt, in der sie geboren und zur Schule gegangen ist und in der sie auch bleiben will, nicht zuletzt deshalb, so sagt sie, weil sie sich in den Seminaren von Natalia und Angelina auch eine Antwort auf die Frage erhofft, welche Möglichkeiten sie als Frau hat, ihre Zukunft in Russland zu gestalten.
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