Ruth Fricke ist eine kompakte Frau um die 50 und erfahrene Psychiatriepatientin. Mit wachem Blick sitzt sie am Kopfende des langen Tisches und wartet darauf, dass der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ihr das Wort erteilt. Doch noch ist Zöller damit beschäftigt, anhand einer blauen Papierrolle mit gelbem Deckel zu veranschaulichen, dass es insbesondere bei Diskussionen wie dieser darum gehe, die Perspektive zu wechseln. Denn was für die einen eben eine blaue Papierrolle ist, ist für die anderen - Zöller dreht das Objekt - ein gelber Deckel. Die neben ihm sitzenden Psychiater und Psychiaterinnen schmunzeln wohlwollend.
Es geht an diesem Abend um die Frage, ob und inwieweit die Patientenautonomie psychisch kranker Menschen gestärkt werden soll. Dürfen auch psychisch kranke Menschen Patientenverfügungen aufsetzen? Verfügungen, die sich nicht auf das Ende des Lebens, sondern auf die Art und Weise ihrer Behandlung beziehen? Und wenn ja: Können sich Psychiatriepatienten dann Kraft eines solchen Schriftstücks sogar gegen jede medikamentöse Zwangsbehandlung wehren?
Solche Entscheidungen sind schwierig - zumal bislang noch nicht einmal geklärt ist, wie weit Patientenverfügungen somatisch erkrankter Menschen reichen. Patientenverfügungen dienen dazu, den Willen eines Menschen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit zu dokumentieren. Doch können Menschen in gesundem Zustand überhaupt wissen, was sie am Lebensende wollen? Und was geschieht, wenn jemand in seiner Verfügung eine bestimmte Maßnahme ablehnt, mit der er im konkreten Fall aber gerettet werden könnte? Wiegt der in einer Verfügung niedergelegte Wille eines Menschen in letzter Konsequenz schwerer als sein Wohl? Diese Fragen werden derzeit im Parlament verhandelt, dem bislang drei fraktionsübergreifende Gesetzesentwürfe vorliegen. Einer dieser Entwürfe stammt, unter anderem, von Wolfgang Zöller. Für ihn überwiegt das Wohl eines Patienten, weshalb er im Konfliktfall nicht dessen Willen berücksichtigen, sondern Vormundschaftsgerichte einschalten möchte.
Initiiert wurde die Veranstaltung, die Zöller moderiert, vom Aktionskreis Psychiatrie e.V. Durch solche aufklärende Aktivitäten möchte der 1998 gegründete Verein ein Bewusstsein schaffen für die Lage psychisch kranker Menschen, deren Zahl stetig zunimmt. "So wird zunehmend fraglich", heißt es in der Informationsbroschüre des Vereins, "ob infolge der Kopplung der Ausgaben im Gesundheitswesen an die Entwicklung der Grundlohnsumme (Budgetierung) die psychisch kranken Menschen noch nach modernem Therapiestandard behandelt werden." Konkret bemängelt werden vor allem fehlende integrative Therapiekonzepte, die langfristig angelegt sind. Darüber hinaus müsse eine Behandlungskontinuität nicht nur institutionell, sondern auch personell gewährleistet sein. Fakt sei aber, dass die psychiatrischen Kliniken zum Teil hoffnungslos unterbesetzt seien und es vor allem an Ärzten fehle.
Ruth Fricke erzählt von ihren Erfahrungen in der Psychiatrie. Davon, wie sie Medikamente verordnet bekommen habe, von denen sie wusste, dass sie sie nicht verträgt. Und dass Patienten, wenn sie sich gegen Medikamente wehren, eine so genannte "Krankheitsuneinsichtigkeit" attestiert wird. Das müsse sich ändern, sagt Ruth Fricke, und bekräftigt ihre Forderung, Psychiatriepatienten über die Art ihrer Behandlung mitentscheiden zu lassen.
Felix Böcker pflichtet ihr grundsätzlich bei. Der klinische Psychiater gibt allerdings zu bedenken, dass eine Konfliktsituation entstehen könnte, wenn ein Patient kraft Verfügung jede Behandlung ablehnt. Der Arzt, sagt er, sei verpflichtet zu helfen und den Patienten womöglich vor einem Suizid zu bewahren. Ohne entsprechende Behandlung sei dies nur sehr eingeschränkt möglich.
Damit wird aber ist ein normativer Konflikt aufgemacht: Wenn man es nämlich ernst meint mit dem Selbstbestimmungsrecht für psychisch kranke Menschen, müsste man ihnen dann nicht sogar das Recht einräumen, sich gegen eine Zwangseinweisung zu wehren? Das sieht die Ärztefraktion indessen ganz anders. Sie seien schon gesetzlich aufgefordert, einen Patienten gegen seinen Willen einzuweisen, wenn von ihm erhebliche Gefahr für Mitmenschen droht oder für ihn selbst besteht.
Darüber hinaus, ergänzt der Forensiker Henning Saß, bestünde bei psychisch Kranken ganz grundsätzlich das Problem, das niemand wissen kann, in welchem Krankheitszustand eine Verfügung abgefasst worden sei - zumal bei einer psychischen Erkrankung das Gehirn mitbetroffen sei. Da hält es Ruth Fricke nicht mehr auf dem Stuhl. Wer denn garantieren könne, dass ein somatisch Kranken sein Patiententestament bei klarem Verstand abgefasst habe? Und nicht möglicherweise auch Interessen Dritter mit im Spiel seien? Psychisch Kranke verfügten dagegen über ausgeprägte Erfahrungen mit ihrer Krankheit. Sie können sich genau darauf einstellen, was bei einer nächsten "Episode" auf sie zu kommt - im Gegensatz zu Gesunden, die hypothetisch handeln.
Wolfgang Zöller ist am Ende des Abends davon überzeugt, dass Patientenverfügungen - Selbstbestimmungsrecht hin oder her - in der Hand von Psychiatriepatienten fehl am Platz sind. Denkbar ist für ihn höchstens eine Behandlungsvereinbarung, bei der Ärzte letzten Endes dann doch am längeren Hebel sitzen.
Dr. Svenja Flaßpöhler lebt in Berlin und ist Autorin des Buches Mein Wille geschehe. Sterben im Zeitalter der Freitodhilfe (WSJ-Verlag), für das sie 2007 mit dem Arthur-Koestler-Preis ausgezeichnet wurde.
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