„Was ist ein Linksrechtsdeutscher?“

Replik auf Maxim Biller Wenn sich einer bei jenen anbiedert, mit denen er ins Gericht zu gehen glaubt, herrscht eine gefährliche Links-Rechts-Verwirrung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

19. Februar 2019

„Was ist ein Linksrechtsdeutscher?“, fragte Maxim Biller am 16. Februar 2019 in der WELT und berührte mit diesem Beitrag auch die linke Szene. Nur leider spart Biller aus, dass er sich mit seinem Text bei eben jenen Rechten anbiedert, mit denen er ins Gericht zu gehen glaubt. Sein Text ist eine Verharmlosung der Gesamtlage.

Eine Replik aus der Hüfte

Um es für die Ungeduldigen gleich vorwegzunehmen – die simple Antwort auf die Frage, was ein Linksrechtsdeutscher eigentlich sei, lautet: ein rechter Mythos. Wenn ich die Äußerungen Billers richtig deute, entsprechen Menschen wie ich, eine „Nachfolgerin von 68ern“, seinem absoluten Lieblingsfeindbild. Vermutlich wird er diesen Text gar nicht lesen müssen, da er schon weiß, wovon er handelt, denn Biller glaubt, seine Feinde zu kennen wie seine eigene, schicke Westentasche. Besonders linke Frauen waren ihm immer ein Dorn im Auge, denn diese „Mädchen durfte man nicht einfach küssen, man musste vorher stundenlang über seelische Dinge sprechen. Es war alles so unglaublich anstrengend.“ Politik ist für ihn ein „Gesellschaftsspiel“ mit dem ulkigen Titel „Wer hat den Größten?“

Biller glaubt ein Individualismusverfechter zu sein, ohne den Individualismus als Illusion entlarven zu können. Eine Illusion, die insbesondere dem Konsumismus und somit den Konzernen dient, denn wie sollten wir unsere Individualität besser zur Schau stellen können als über Produkte – am besten über individualisierte Produkte? Dabei verkennt er, dass eben jene Sehnsucht nach Individualität uns alle einander wieder gleich macht. Wir kommen nicht raus aus dem Einheitsbrei, es ist ein circulus vitiosus.

Die Frage, was oder wer heutzutage noch oder schon als politisch links oder rechts bezeichnet werden kann, ist tatsächlich vielleicht die wichtigste unserer Zeit. Deshalb sollten wir ihre Beantwortung unter keinen Umständen weißen, alten, etablierten Männern überlassen.

Zunächst ist zu postulieren, dass rechts und links zwei einander vollständig entgegengesetzte politisch-kulturelle Positionen sind, weshalb es extrem gefährlich ist, sie zu verwechseln oder gar zu synthetisieren. Damit keine Missverständnisse aufkommen, beginne ich mit einer äußerst verkürzten und unvollständigen Zuordnung der Begriffe links und rechts in Hinblick auf die unterschiedlichen Themenfelder der Realpolitik.

Klassenpolitisch rechts zu verorten ist eine Person, die sich mit der Klassengesellschaft arrangiert hat, diese akzeptiert oder für akzeptabel hält und deshalb aktiv oder passiv an ihrer Aufrechterhaltung mitwirkt.

Diversitätspolitisch rechts ist eine Person, die Geschlechter- Gender- oder Sexualitätsungerechtigkeiten akzeptiert und/oder Ungerechtigkeiten und Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Sprache oder sonstiger behaupteter Andersartigkeit ggf. sogar biologistisch verteidigt und aktiv oder passiv an ihrer Fortsetzung partizipiert.

Umweltpolitisch rechts ist eine Person, die nicht wissenschaftlich argumentiert bezüglich der zunehmenden Ressourcenknappheit bzw. der künftigen, gerechten energetischen Grundversorgung der Menschheit, sondern stets geopolitische oder wirtschaftliche Interessen von einzelnen Personengruppen als Parameter gelten lässt und die Missachtung von progressiven, nachhaltigen ökologischen Visionen kulturell, politisch oder ökonomisch als gerechtfertigt betrachtet.

Religionspolitisch rechts sind alle Personen, die sich zu einem Glauben bzw. zu einer Religion bekennen, unabhängig davon, ob sie die jeweilige Religion praktizieren.

Schon Schnappatmung?

Jetzt schon Schnappatmung? Dann unbedingt eine Valium oder ein ähnliches Relaxantium einnehmen und erst nach Eintreten der Wirkung weiterlesen.

Es sind unterschiedliche Kombinationen von rechtsgerichtetem Gedankengut vorstellbar. Uns allen fallen vermutlich auf Anhieb Leute ein, die wir als exemplarisch für eine wie auch immer geartete vermeintliche Linksrechts-Kombination aufrufen können. Der homophobe, sexistische, muslimische Klassenkämpfer, die lesbisch-katholische Rassistin, der sexistische, jüdische Klimawandelleugner, die antisemitische, buddhistische Transsexuelle usw. Es ist unübersichtlich. Außerdem tendieren wir einerseits zu einem Kategorisierungszwang und andererseits zur Simplifizierung. Billers Reflex ist nur allzumenschlich.

Sollte ein Mensch also insgesamt und pauschalisierend als rechts eingeordnet werden, wenn er auch nur in einem einzigen der oben benannten Bereiche rechts tickt? Ja! Es geht hier darum, die Sache ganz klar zu benennen und sie nicht weiter zu verwässern, damit sich die Geschichte nicht wiederholen kann. Lassen wir diese Prämisse gelten, müssen wir feststellen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen, europäischen oder gar weltweiten Bürger*innen momentan und schon seit sehr sehr langer Zeit rechts ist. Doch das soll uns nicht verzagen lassen. Es ist lediglich angeraten, die Ausgangslage klar zu erkennen, wenn wir Strategien für eine andere Zukunft entwickeln, wenn wir die Menschheit einfach noch nicht aufgeben wollen. Nazis, Neonazis oder Neofaschist*innen sehen es im Grunde andersherum: Wenn eine Person in nur einer der genannten Kategorien dem linken Meinungsspektrum zuzuordnen ist, gilt diese Person als quasi links. So kommt es auch, dass Rechte, Rechtsradikale und Rechtsextreme einen linken bzw. linksliberalen medialen Mainstream am Werk sehen, wo Linkslinke vielmehr einen rechten Mainstream erkennen.

Ein fester Platz in der gegenwärtigen rechtsreaktionär dominierten Kulturlandschaft

Was aber sind Linkslinke?

Wollten wir Linkslinken ein elaboriert-akademisches Label verpassen, würden wir vielleicht von nicht-gewaltbereiten, antirassistisch-öko-queer-feministischen Anarcho-Kommunist*innen sprechen und die Ablehnung von Altersdiskriminierung und Verachtung einer Diskriminierung von kranken Menschen oder Menschen mit Behinderung ebenfalls mitmeinen. Die Termini sind hier durchaus variabel. Das ist nur eine Spielerei. Denn eine Errungenschaft unserer kapitalistischen und strukturell bis plakativ sexistischen, rassistischen Pseudodemokratie und Wohlstandsgesellschaft ist zweifellos das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es bedeutet, dass theoretisch alle Meinungen zulässig sind, solange sie gewaltfrei vorgetragen werden. So soll es sein und immer bleiben. Nur sind all diese Meinungen eben nicht auf dieselbe Weise und in derselben Häufigkeit im öffentlichen Diskurs vertreten. Das hat bekanntlich mit der Diskurshegemonie zu tun.

Biller jedenfalls hat sich mit großkotzigen Plattitüden, Frauenverachtung und Kommunistenhass einen festen Platz in der gegenwärtigen rechtsreaktionär dominierten Kulturlandschaft gesichert – und ist auch noch stolz darauf. So erkennt er völlig richtig im Nachrichtenmagazin Spiegel ein rechtes Männerklatschblatt. Zum Axel Springer Konzern, dem die Welt angehört, fällt ihm jedoch spontan nichts ein. Es ist ja auch nicht schlau die Hand zu beißen, die einen füttert. War es Zensur in diesem Fall? Oder der übliche vorauseilende Gehorsam? Die 68er sind Biller ein antisemitischer Graus, Gesindel, das an den Universitäten einer „Mitte-links-Republik“ den Boden bereitete. In Wahrheit jedoch waren die sogenannten 68er eine in sich gespaltene verschwindend kleine Minderheit. Niemand würde bestreiten, dass es „die 68er“ so nie gegeben hat. Es gab Trotzkisten, Stalinisten, Marxisten, Leninisten, Sozialisten, Anarchisten, Maoisten und jeweils feministische Untergruppen, Organisierte und Nichtorganisierte oder Leute, die trotz marxistischer Einsichten nicht von ihrem anerzogenen religiösen Glauben ablassen konnten oder wollten. Und und und. Ekelhaft diese Zerstrittenheit – finden die einen. Typische mimetische Krise innerhalb von realen oder gefühlten Gemeinschaften – meinen die anderen.

Doch letztlich ging es Biller ja um unsere „Großväter“. Daher werde ich nun persönlich. Meine Familie väterlicherseits kommt aus dem Berliner „roten Wedding“. Meine Großmutter war Fabrikarbeiterin in der Schwartzkopfstraße. Mein Großvater war Schneider und fertigte während des Kriegs Soldatenuniformen. Deshalb diente er weder in Frankreich, Norwegen oder Russland noch an irgendeiner anderen Front. Beide waren Kommunisten bzw. Marxisten, die ihre politische Haltung verbargen, um zu überleben. Beide verachteten die Nazis, doch vermutlich ließen sich ihnen außer der Kriegs-Schneiderei noch andere Nazi-Verbindungen, Opportunismen und Feigheiten nachweisen. Ob mein Großvater Sexist war oder Schwule hasste, weiß ich nicht. Ausschließen würde ich es nicht.

Meine Großeltern mütterlicherseits hingegen standen da schon etwas weiter rechts, bezweifelten lange den Holocaust, äußerten sich immer wieder antisemitisch und rassistisch bis zu ihrem Ende. Für meine Großmutter waren es keine Nazischweine, die sich da um die Ecke im alten SS-Quartier, der hessischen Antoine Kaserne, noch bis in die 90er Jahre trafen, sondern eben nette, höfliche, gar stattliche „Waffenbrüder“. Als sie mir von den Pogromen in ihrer ländlichen Umgebung erzählte, beweinte sie das schöne Kristall, das da zerschlagen worden ist: „Wieso mussten sie es kaputt machen? Alles zerschlagen auf dem Boden, das schöne Kristall!“ Es sind ihr doch tatsächlich die Tränen gekommen. Als junges Mädchen, das aus einer verarmten Familie stammte, war sie Zugehfrau in einer gutbürgerlichen, jüdischen Familie gewesen. Ihre ekelhafte Judenverachtung entsprang wohl in erster Linie einem ausgeprägten Sozialneid.

Der größtmögliche Affront

Meine in den 70er Jahren in einer K-Gruppe organisierte Mutter, die an der HdK studierte und sich schon im Alter von siebzehn Jahren allein ins verpönte West-Berlin abgesetzt hatte, suchte für mich den wunderschönen und geschichtsträchtigen Vornamen Sarah aus. Es war der größtmögliche Affront gegenüber ihren eigenen – ach, doch, ich schreibe es aus, denn der Großteil meiner westdeutschen Familie leugnet ohnehin, mich zu kennen, spätestens seit der Volksbühnenaktion – Nazieltern.

Bis in meine Pubertät forderte mich meine Großmutter auf, mich doch lieber nach meinem nichthebräischen Zweitnamen rufen zu lassen. Auf meinen Hinweis, dass der Name meiner Mutter, ihrer Tochter, doch aber auch aus dem Hebräischen stammt, erwiderte sie: „Den hat Hitler eingedeutscht!“

Instinktiv fühlte ich mich schon sehr früh von ihr angewidert. Nicht nur ihr Rassismus, den sie versuchte zu verbergen, indem sie schon als eine der ersten in den Nachkriegsjahren schwarzafrikanische oder arabische Goetheinstitut-Studenten bei sich aufnahm. Auch ihre heuchlerische Frömmigkeit, ihre Homophobie und ihr Antifeminismus verstörten mich nachhaltig, denn ich hatte früh angefangen, zuzuhören bei den „Kapitalschulungen“ in unserem Wohnzimmer im roten Wedding. Meiner Mutter also war gelungen, was ich selbst nie vollbringen musste. Sie hatte sich selbstständig herausreflektiert aus all diesen Menschenverachtungen, aus der schuldängstlichen Kleinstbürgerlichkeit. Sie legte ihre Religion ab, studierte über den zweiten Bildungsweg, denn ihre Eltern hatten ihr als Mädchen das Gymnasium versagt, und wurde eine Aufbegehrende, eine strahlende Feministin, Gewerkschafterin.

Ich war dabei, als sie sich die letzte Ohrfeige ihrer Mutter einfing. Da war meine Mutter weit über vierzig. Sie hatte sich das Haar raspelkurz schneiden und knallrot färben lassen – ein Emanzenlook eben samt buntem Papagei im linken Ohrloch. Meine Großmutter war der Meinung, der Look gelte ihr, sei eine bewusste Demütigung – wie schon mein Vorname Sarah. Doch wir sind nicht wieder abgefahren, haben uns nicht zurückgezogen an jenem Tag nach diesem Gewaltausbruch. Meine Mutter bestand darauf, dass auch wir zur Familie gehören und zog mich ins Haus. Erst Jahrzehnte danach habe ich verstanden, wie viel Kraft sie diese Auftritte gekostet haben müssen. Alle taten dann, als wären sie auf dem linken Auge blind, der Feierlichkeit wegen. Ich war unendlich stolz auf meine Mutter. Dort und damals, im Schoße dieser reaktionären, rechtskonservativen Familie, die nach eigener Aussage „vorher“ und „nachher“ immer SPD gewählt hat, waren wir Verbündete. Da saß sie, die immerwährende deutsche Schande, und hatte sich ein unschuldig anmutendes, sozialdemokratisches Mäntelchen übergelegt, weil es so kühl war, versteht sich.

Biller hat völlig Recht. Wie oft haben Onkel und Tante von den einfühlsamen Liebesbriefen meines Großvaters geschwärmt, die meine Großmutter von der Front erreichten. „Ja, dieser einfühlsame Mann ist leider als ein anderer zurückgekehrt. Nach dem Krieg war er gebrochen.“ Und Tränen der Rührung rannen an ihren selbstgerechten Wangen hinab. Doch auch Stolz mischte sich in die Berichte: „Aus der Kriegsgefangenschaft hat er es nur geschafft, weil er Leistungssportler gewesen ist!“

Das wollten sie glauben

Meine Mutter hatte als angehende, PH-angereicherte Lehrerin Berufsverbot zu Beginn der 80er Jahre. Biller hätte sich gefreut, wenn sie im „Zuge des Radikalenerlasses aus seinem Klassenzimmer getragen“ worden wäre, jedenfalls behauptet er das. Nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit dann musste sie, durchaus auch von kleinbürgerlichen Selbstverwirklichungswünschen getrieben, einsehen, dass es vielleicht doch sinnvoller wäre, ihre Verfassungstreue zu erklären. Erst am vergangenen Wochenende erzählte sie von ihrem Zwangsbesuch im Innensenat, von ihrer Verkleidung an jenem Tag und von ihren bewussten Lügen: „Diktatur des Proletariats? Was ist das denn? Ich war damals in einen jungen Mann verliebt, der mich manipuliert hat. Ich bin froh, dass ich diese Phase überwunden habe.“ Das konnten sie glauben, das wollten sie glauben. Meine Mutter wurde schließlich rehabilitiert und in den Schuldienst aufgenommen. Sie wurde Lehrerin in Kreuzberg. Mittlerweile entweicht ihr die ein oder andere islamophobe bzw. rassistische Bemerkung. Die Kreuzberger Verhältnisse, die schlechte finanzielle Ausstattung an den Schulen, das Elend, die Gewalt haben sie ausgelaugt, mürbe gemacht. Dafür schäme ich mich. Und sie sich dann glücklicherweise auch. Denn letztlich geht es doch darum durchzuhalten, egal wie hart es wird. Als ich vor nunmehr siebzehn Jahren meinem halbschwarzen Sohn einen ungewöhnlichen alttestamentarischen Namen aussuchte, fand sie, in Konsequenz jener Ermüdung, „er hätte es dann doppelt schwer.“

Ich bin meinen Eltern dankbar für ihre Trennung und die Art, wie wohlwollend sie anschließend miteinander umgingen, sich nie laut stritten in meinem Beisein, nie ausfällig wurden. Ich bin dankbar für das Böller-Verbot an Silvester, das Barbie-Verbot, das Religionsunterricht-Verbot, die Atomkraft-Aufklärung nach Tschernobyl, für die frühkindliche Förderung, das Vorlesen, die Museen, für Staat und Revolution zum 14. Geburtstag, für die Bots, Bob Marley und TonSteineScherben. Meine antiautoritäre Erziehung ist für mich Privileg und Verpflichtung zugleich.

Mein Vater mit dem roten Stern unterm linken Schlüsselbein ist vermutlich erst durch mich zum Feministen geworden, auch wenn er das vielleicht nicht zugeben würde. Er regt sich auch mal übers „Lumpenproletariat“ auf, was ich eigentlich erst seit der Räumung des Jugendschiffs Freibeuter nachvollziehbar finde. Ich sollte mich dringend einlesen. Mein Vater ist zugleich mein bester Freund, weshalb ich auch völlig immun bin gegen Annäherungsversuche von ältlichen Typen. Was sich seit der #Metoo-Debatte für mich als Frau verändert hat? In dümmlichen Anmachgesprächen wird nun zwischen die sexistischen Bemerkungen immer auch ein Satz eingestreut wie: „War das jetzt eben schon ein Metoo-Moment?“ Ein Gespräch über Politisches wird grundsätzlich als Koketterie interpretiert. Das Problem hat sich aus meiner Perspektive potenziert. Aber ich schweife ab.

Maxim Biller hat also Recht, wenn er impliziert, dass in Deutschland keine wirkliche Entnazifizierung stattgefunden hat, weder im Rechtswesen noch in der Wirtschaft, im Journalismus oder in Bildungseinrichtungen und schon gar nicht in der Mehrheit der deutschen Wohnzimmer. Es ist auch unbestritten, dass eine gewisse Deutschtümelei, ein dummperverses nationales Ehrgefühl und fehlendes Unrechtsbewusstsein bezüglich zweier bestialischer Weltkriege großflächig fortdauern. Irrerweise passten sich die Menschen mit ihren Meinungen und Haltungen den Erwartungen der Herrschenden jeweils an, auch wenn es zu ihrem eigenen Nachteil war. Zum Beispiel wegen der eigenen Sexualität, dem eigenen ein- zwei oder mehrdeutigen Geschlecht oder der eigenen Klassenzugehörigkeit.

Cuius enim panem manduco, carmina canto

Wie die meisten anderen, denen es gestattet ist, in öffentlichen Diskursen mitzumischen, verwendet Biller Kommunismus und realexistierenden Sozialismus synonym. Nicht, weil er den Unterschied nicht kennt. Natürlich weiß er, dass die Idee einer Diktatur des Proletariats, also die aktive Unterdrückung der reichen Minderheit durch die arme und ausgebeutete Mehrheit, nur als durchaus fragwürdige, autoritäre Übergangsphase gedacht war und ist. Er weiß, dass Sozialismus und Kommunismus völlig verschiedene gesellschaftliche Konstrukte sind, es also einen Unterschied macht, ob beispielsweise ein Nationalstaat von einer sozialistischen Partei regiert wird innerhalb einer Diktatur, oder ob schon Kommunismus herrscht – also eine globale, staatenlose, nichtmonetäre Friedefreude-Eierkuchen-Situation eingetreten ist, nachdem auch der realexistierende Sozialismus zum Abgewöhnen war. Jedenfalls traue ich Biller das zu. Ich traue ihm auch zu, dass er weiß, dass eben auch er zum rechten Mainstream gehört, graduell jedenfalls und in gewisser Hinsicht. Aber wie heißt es doch so schön unter uns Bildungsbürger*innen? Cuius enim panem manduco, carmina canto.

Welche Menschen also entscheiden darüber, wessen Inhalte in den „Leitmedien“ oder den Lehranstalten in welcher Häufigkeit vorkommen? Wer sind diese Männer? Was wollen sie, von welchen Zukunftsvisionen werden sie geleitet? Und wie und warum sind sie in ihre Position gelangt? Cui bono? Schaut genau hin!

Die unterschiedlichen rechten Strömungen nun als vermeintlich linksrechts zu etikettieren halte ich als Linkslinke für extrem gefährlich. Selbstverständlich können Linkslinke auch Neid empfinden und einer anderen Person oder Personengruppe ihren Erfolg, Reichtum, ihre Gesundheit oder Schönheit neiden. Und unbedingt sind zahlreiche Linkslinke auch oder gar in der Regel zu den Nutznießenden unseres Systems zu zählen, denn sie profitieren ganz maßgeblich von der Ausbeutung der unteren Klassen und Menschen weltweit. Eine Linkslinke zu sein geht daher aus unterschiedlichen Gründen immer auch mit einer gehörigen Portion Selbstverachtung einher, da das Bewusstsein über die falsche Lebensführung im falschen System stets mitreflektiert wird.

Um das nochmal zu verdeutlichen: Eine linkslinke Person wünscht sich eine atheistische, grenzenlose, ökologisch nachhaltige, globale Weltgemeinschaft, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer Sexualität in gleichwertigen Lebensverhältnissen gewaltfrei also friedlich koexistieren. Die Linkslinke ist Idealistin, auch wenn sie sich in ihrer alltäglichen Lebensrealität zu der ein oder anderen Heuchelei genötigt sieht, z.B. weil sie spätabendlich Schokolade in sich hineinstopft, deren Kakaobohnen von versklavten, ghanaischen Kinderhänden gepflückt worden sind und denen ein gar hässlicher CO2-Fußabdruck nachgewiesen werden kann.

Ein Rechter oder ein Linker?

Der erste Pseudo-Linksrechtsdeutsche, der mir einfällt, ist jedenfalls Maxim Biller. Als strammer Antikommunist und Sexist ist er beinahe der Prototyp eines Pseudo-Linksrechtsdeutschen.

Oder anders gefragt, Herr Biller, es ist jetzt wichtig, dass Sie sich konzentrieren, denn die Frage kommt zurück: Stehen Sie auf der Seite des Kapitals – oder nicht? Wie stehen Sie zum Queer-Feminismus? Was sind Sie? Ein Rechter oder ein Linker? Lassen Sie mich raten, in jedem Fall sind Sie ein Individualist mit superviel Humor, der schöne Frauen liebt, und natürlich Sex.

Jedenfalls scheint es Sie nicht zu stören, wenn Bertolt Brechts dialektisches Theater vom Kapital (Deutsche Bank Stiftung) in einer „Exzellenzreihe“ am Berliner Ensemble vereinnahmt und verramscht wird. Sie schreien auch nicht auf, wenn die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit dem naziversifften L’Oréal-Nestlé-Konzern zum Teddy Award auf einer Pinkwashingwelle reitet. Was denken Sie über durch Religion konservierte Mysogynie? Wieso halten Sie es mit Blick auf Geflüchtete für normal, wenn „inzwischen immer mehr Leuten auffällt, dass man nicht einfach die Tür aufmacht“?

Mit wem möchten Sie lieber reden, mit Rechten oder mit Linken?

Wir vergessen nicht: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.“

(Der Artikel entstand am 19. Februar. Völlig überraschend konnte sich die WELT dann doch nicht zu einer Veröffentlichung durchringen. Die ganzen „ad-hominem-Sachen über Biller“ waren wohl nicht so gern gesehen. Daran wird es gelegen haben)

Sarah Waterfeld, geboren 1981 in Berlin, studierte Neuere deutsche Literatur und Politik an der FU Berlin sowie Medienwissenschaften an der Universität Potsdam, trat 2012 eine Stelle im Bundestag als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Linksfraktion an und war anschließend Lehrbeauftragte für Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam. 2015 erschien ihr Debütroman »Sex mit Gysi«. 2017 war sie als Vertreterin des „Staub zu Glitzer“-Kollektivs an der Besetzung der Volksbühne beteiligt

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden