Die transformative Kraft des Kinos

Kino Wie Pasolini unsere Perspektive auf die Welt infrage stellt

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Pasolinis Kino spielt mit unserer Vorstellungskraft, indem es unsere Perspektive verschiebt
Pasolinis Kino spielt mit unserer Vorstellungskraft, indem es unsere Perspektive verschiebt

Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Beim Schauen eines Films kommt es zu einem unausgesprochenen Pakt des Austauschs. Als Zuschauer bieten wir uns dem Kino an und warten darauf, dass uns die filmische Erfahrung eine starke, transformierte Realität präsentiert. Diese Realität ist weder objektiv noch subjektiv, sondern rein in ihrer Bestimmung: unsere Perspektive auf die Welt, wie wir sie kennen, zu verändern. Ins Kino zu gehen bedeutet, sich einem neuen Universum von Bedeutungen zu öffnen, einen stillen Pakt mit dem bewegten Bild zu schließen, eine neue symbolische Sprache voller rätselhafter Interpretationen zu begreifen - wenn auch nur für ein paar Stunden. Kino ist vielleicht die Sprache der Realität, aber es ist nicht nur Mimesis. Der Film schafft sein eigenes Vokabular und sein eigenes Sprachsystem. Das bewegte Bild ist eine unendliche Sammlung von Zeichen mit mehrfachen Bedeutungen. Während wir einen Film schauen, entdecken wir auch dessen Syntax. Jeder Regisseur schafft somit sein eigenes einzigartiges Vokabular. Kino ist eine ständige Übung in Autorität. Die transgressive Kraft der filmischen Erfahrung wird besonders durch die Betrachtung der Arbeit des Filmemachers Pier Paolo Pasolini spürbar.

Aber wie kann man Pasolini einordnen? Wie spricht man über ein Kino, das alle Regeln infrage stellt? Wie versteht man das Vokabular eines Autors, der Verweigerung zum Hauptthema seiner Arbeit macht? Pasolinis Kino spielt mit unserer Vorstellungskraft, indem es unsere Perspektive verschiebt. Indem es einen Blick auf die Realität präsentiert, überschreiten seine Filme die Realität selbst. Die eigentümliche Schönheit der Realität, die von Pasolini präsentiert wird, spiegelt die poetische Quintessenz seiner Filme wider. Aber einen Film von Pier Paolo Pasolini zu schauen bedeutet nicht nur, seine Faszination für Realismus zu erkennen, sondern auch sein Bestreben zu verstehen, unseren Status quo, unsere Vernunft und Moral, unsere Beziehung zur Macht, Machtbeziehungen, unsere Sprache und die Anderen infrage zu stellen.

Pasolinis Filme fordern das Kino selbst heraus. Indem er unsere vorgefassten Vorstellungen von Realität infrage stellt, provoziert er auch unsere Ansichten über das Establishment. Oft von seinen eigenen politischen Überzeugungen und seiner Abneigung gegenüber den moralischen Heucheleien der italienischen Gesellschaft verfolgt, nutzt Pasolini das Kino, um seine Sichtweise der Unterdrückung und Entfremdung zu artikulieren.

Stark von Marxismus beeinflusst, richtete Pasolini seine Kamera oft auf die Außenseiter des bürgerlichen Lebens: Prostituierte, Diebe, Arbeiterklasse. Indem er die Marginalisierten in den Mittelpunkt stellt, schafft Pasolini eine Allegorie der Condicio humana. Seine Charaktere repräsentieren alles, was rein und unschuldig ist, aber auch grausam, sowohl in der neokapitalistischen italienischen Gesellschaft als auch in menschlichen Beziehungen. Durch seine Arbeit kann er ihre Kultur und Geschichte verewigen.

Durch das Kino bricht Pasolini mit den vorgefassten Vorstellungen von Moralität und präsentiert uns stattdessen das Amoralische, das Dreckige, die schmutzige Realität um uns herum. Durch das Kino wird die Realität noch deutlicher. Kino ist die Sprache der Realität, weil es unreal ist, weil es seine eigene Methodologie hat. Und um Pasolini selbst zu zitieren: "Kino ist ein System von Zeichen, dessen Semiotik einer möglichen Semiotik des Systems der Zeichen der Realität selbst entspricht“(1). Der Film trägt vielleicht eine gefährliche, aber erstaunliche Macht in sich: eine Reflexion des Bewusstseins. Pasolini wusste das.Mit der Fähigkeit, sich in die Gedankenwelt seiner Charaktere einzufühlen, konnte er ihre Sprache und Perspektive adaptieren und so eine freie indirekte subjektive Sichtweise schaffen. Er schaut mit einem fast obsessiven Kamerablick in das Leben seiner Darsteller.

In diesem Sinne reflektiert Pasolini sowohl die Wahrnehmung seiner Charaktere als auch transformiert unsere Wahrnehmung der Realität. Es ist die Sprache der Poesie, die über die subjektive Sicht hinausgeht, um eine unabhängige Vision des Subjekts zu schaffen. Wir teilen mit seinen Charakteren eine Vision der Welt um sie herum und gleichzeitig betrachten wir sie durch einen privilegierten Blickwinkel. Sein Einsatz des filmischen Mediums konfrontiert unsere Vorstellungen. Indem er dem Zuschauer symbolische Filter verweigert und die Realität so erkundet, wie sie ist, kann Pasolini eine starke, fast poetische Sympathie für die Ausgestoßenen bewirken.

Einen Pasolini-Film anzuschauen bedeutet, in die Trümmer unserer Gesellschaft zu schauen. Es bedeutet die Realität als unerzähltes Gedicht mit all ihrer Schmutzigkeit und den unangenehmen Wahrheiten zu umarmen. Pasolinis fast obsessives Studium des Subproletariats ist auch der größte Triumph seiner Arbeit. Er versteht Kino als mächtige Waffe des Ungehorsams. Rastlos und ehrgeizig testen Pasolinis Filme das Kino als Sprache und unsere Grenzen als Zuschauer. Sein Blick auf die Ausgestoßenen fordert ständig unsere Wahrnehmung der Welt um uns herum heraus. Durch die unendliche Syntax der Bedeutungen, die seine rohe Vision der Realität bietet, war er in der Lage, ein Kino zu schaffen, das unser Bewusstsein transformiert. Denn Pasolinis unruhiges Kino prangert unsere intrinsischen institutionalisierten Moralitäten an, die auf Sand gebaut sind. Und obwohl es manchmal beunruhigend ist, zeigt Pasolinis filmische Arbeit die transgressive Kraft des Films in einer heuchlerischen Gesellschaft auf.

1Master of Arts Rüdiger Specht (Autor:in), 2012, Filmtheorie als Semiotik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/404185

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sydney Ullmann

Sydney Ullmann ist Schriftsteller*in und Grafiker*in, lebt und arbeitet in Berlin.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden