Lost and found

Kehrseite I Ich stand vor geschlossener Tür, in seliger Erwartung. Gerüche von brennendem Wachs und frisch gebackenem Kuchen drangen durch den Spalt. Nein, ...

Ich stand vor geschlossener Tür, in seliger Erwartung. Gerüche von brennendem Wachs und frisch gebackenem Kuchen drangen durch den Spalt. Nein, diesmal wollte ich nicht durchs Schlüsselloch spähen. Ich wusste, dass es etwas Großartiges sein musste. Meine Finger schabten an der vertrauten Flurtapete entlang zum Türrahmen, dorthin, wo sich kleine Risse gebildet hatten, um staubigen Putz zu sammeln. Ich pustete hinein, um das Loch zu säubern, dabei verhielt sich der Staub wie ein Echo und drang in meine Augen. Tränen. Heute war mein 14. Geburtstag und ich gedachte der Vielzahl vergangener Geburtstage mit grässlichen Geschenken, die ich in heuchlerischer Dankbarkeit entgegennehmen musste.

Da gab es diese hässliche rote Handtasche, die man mir mit vier Jahren zuführte und meine fortwährenden Bemühungen, diese bei Spaziergängen zu verlieren. Am Abend klingelte jedes Mal eine aufmerksam freundliche Nachbarin, die das Fundstück meiner Mutter übereignete. Ich ließ die Tasche hinter einer Mülltonne verschwinden, vergaß sie im Lebensmittelladen oder sie entglitt mir auf offener Straße. Sie kam zurück. Immer. Meine Mutter war bekümmert. Einmal meinte sie, man könne fast annehmen, ich täte es absichtlich.

Aber ich konnte es ihr nicht sagen. Auch sollte sie nicht glauben, dass ich ihre Werte missachtete.

Ich erkannte, dass es offenbar Dinge gab, die man nicht mochte, und die einem deshalb ständig auf den Fersen waren und Dinge, die, weil sehnlichst gewünscht, unerreichbar blieben. Vor einem liebevoll hergerichteten Geschenkealtar übergab sie mir feierlich einen Ring. Nicht irgendeinen Ring, ihren Ring, den sie mit 14 Jahren geschenkt bekam. Es war ein schlichter Silberring mit feiner Efeublattgravur. (Er passte genau in meine nekrophile Gruftiphase, mit Zierschmuck aus toten Blumen). Ich betrachtete ihn oft, um aufs Neue fasziniert zu sein. Auf seine Art war er vollkommen. Ich fühlte mich untrennbar mit ihm verbunden, er wohnte am rechten Ringfinger. Ich war nicht bereit, ihn jemals abzulegen. Im Sportunterricht behauptete ich, er sei nicht mehr vom Finger zu lösen. Er saß wie eine zweite Haut. In schwierigen Situationen drehte ich ihn sorgfältig an meinem Finger und machte dazu Atemübungen. Das half immer. Es beruhigte wie eine Meditation.

Damals hatte ich das Gefühl, dass der Ring mir damit seine Treue erwies.

Eines Tages war er weg. Ich suchte unter dem Bett, an gewöhnlichen und ungewöhnlichen Orten und begann den Müll zu erforschen, nahm das Bett auseinander, unterzog die gesamte Wohnung einer Tiefenreinigung. Sollte ich aufgeben oder fand der Ring zu mir zurück, so wie damals die rote Tasche? Musste ich ihn erst hassen? Ich war sauer auf mich, weil ich nicht zu den Zerstreuten gehören wollte, die ununterbrochen ihre Wohnungsschlüssel verlieren, Geldbörsen liegen lassen und so weiter. Ich wollte, dass die Dinge, die ich liebte, bei mir blieben.

In dieser Zeit begann die Unachtsamkeit. Ich verlor meine Brille. Dann fand ich einen Mann. Dann verschwand eine Jacke, die ich sehr liebte. Als nächstes die Armbanduhr. Als ich nach der Uhr suchte, fand ich die Brille in einer Sofaritze, vereint mit Staubwolken, vergilbten Papierfetzen, Taschentüchern, vertrockneten Wurstscheiben, Zwiebackkrümeln, der Konsistenz nach eine möglicherweise gewesene Brotrinde nebst Kuchengabel.

Ich verlor einen kostbaren Ohrring, stundenlang rutschten wir auf den Knien durch die Wohnung, sezierten jede Staubflocke, hoben einen Fusselberg grauer Tücher und Lappen, unter denen sich meine lang vermisste Strickjacke befand. Vielleicht könnte ich das Objekt überlisten, indem ich scheinbar nach etwas anderem suchte.

So war es. Als ich meinen Schlüssel verlor, fand ich hinter dem Ofen meinen Ohrring. Den Schlüssel fand ich nicht. Doch eine neue Phase des Findens stellte sich ein in meinem Leben. Unentwegt begegneten mir Regenschirme, die sich zu einer Regenschirmsammlung anhäuften und bei Bedarf Besuchern überlassen wurden. Auch das ging vorbei.

Eines Tages saß ich auf dem Zahnarztstuhl. Die Behandlung war schmerzhaft (ich sollte einen Zahn verlieren) und ich konzentrierte mich auf die Lampe über mir, um mich abzulenken. Schweißperlen auf der faltigen Stirn des Arztes. Das reißende Verlustgefühl zirkulierte schmerzhaft nach oben, als die Verbindung zwischen meinem Körper und dem Zahn tranchiert wurde. Die Lampe hing über mir, eine traurige Neonröhre, die völlig verstaubt war. Licht, wie aus einer Gurke. Es war vor einigen Wochen, als ich nach Hause kam und es in Strömen regnete. Ich zog die Stiefel aus, schob die Leiter unter die Deckenlampe, um die Glühbirne auszuwechseln, es klingelte an der Tür, ich stieg von der Leiter, um zu öffnen, dabei fiel etwas nach unten. In meinem Mund knackte es. Mein armer Zahn war draußen, terminiert, mein Kopf taub.

Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Ich stellte mich auf die Leiter und betrachte meine Wohnung aus einer neuerlichen Perspektive, besessen von der Idee, dass der Schlüssel zwingend auf dem Lampenschirm liegen musste, was er aber nicht tat.

Es wird mir aber klar, dass ich unbedingt renovieren muss. Ein Schmerz pulsiert durch den Kiefer und die Wände sind vergilbt oder wirken gewölbt, weil sie vergilbt sind oder meine Wange anschwillt, besonders die Ecken des Raumes verdunkeln sich. Von hier oben aus gibt es keine Gnade. Sehr schlimm, die Stelle hinter dem Ofen. Daneben die Anthologie zugelaufener Regenschirme.

Staubflocken auf dem Ofen. Darunter blitzt meine Armbanduhr hervor. Ich bin zutiefst erstaunt. Erschüttert. Keine Idee, kein Zusammenhang, keine Erinnerung stellt sich her.

Was für ein einfältiges Versteck?

Einige Zeit später trenne ich mich von meinem Freund. Falsch, der Freund verlässt mich.

Ich bin sehr betrübt und es vergehen mehrere Wochen, bis ich tatsächlich die Kraft aufbringen kann, zu renovieren. Über mir, an der Decke hängt eine einsame Glühbirne, wie ein verlorener Zahn. Ich drehe mich zur Seite und putze meine Brille mit dem Zipfel des Kopfkissenbezuges. Die Brille hat wenigstens zwei Gläser, das tröstet mich. Als ich sie aufsetze, schaue ich klar durch immerhin zwei Augen und neben mir liegt der Ring meiner Oma.

Den Schlüssel fand ich nie wieder und die Oma lebt nicht mehr. Es gab einen neuen Mann, den es nun auch nicht mehr gibt. Die Zeit der Regenschirmbeziehungen währte circa drei Jahre. Ich verliere die Dinge heute eher aus den Augen, als dass sie mir verlustig werden, das System versetzten Findens von abtrünnigen Gegenständen endete, als der Ring zu mir zurückkehrte. Inzwischen kommt mir immer das zweite Teil eines zusammengehörigen Paarobjektes abhanden. Aber das ist nicht mehr so wichtig.

Sylvia John wurde 1960 in Weimar geboren. Lehrberuf: Wirtschaftskaufmann. Sie studierte zwei Jahre Malerei in Leipzig, ist dipl. Szenenbildnerin, schreibt und fotografiert.


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