Drei Sekunden. Länger darf eine Umarmung nicht dauern. Also eine für den Alltagsgebrauch. Nur wenn das Kind verletzt ist oder in emotionaler Not, sind auch fünf bis sechs Sekunden zulässig. In Extremsituationen bis zu zehn. Die Trainerin gibt eine Anleitung nach der anderen. Eine weitere betrifft die Stimme, auch die müsse sitzen, sie sollte „so sanft und lieblich wie eine Wolke sein“. Frida wusste nicht, dass nur die, die sich daran hält, eine gute Mutter ist. Frida weiß vieles nicht. Deshalb ist sie ja hier; sie trägt, einer Gefängnisinsassin nicht unähnlich, einen hässlichen Overall, wird von Kameras bewacht und muss, eingesperrt mit zig anderen „schlechten Müttern“, ein Jahr lang beweisen, dass sie letztlich doch zur Mutter taugt. Gelingt ihr das nicht, wird ihr das Sorgerecht für ihre knapp zweijährige Tochter Harriet entzogen.
Nein, keine Mutter will diesen Albtraum, den Kurzgeschichtenautorin Jessamine Chan in ihrem aufrüttelnden Debütroman und New-York-Times-Bestseller Institut für gute Mütter schildert. Und niemand dürfte sich nach einer Gesellschaft sehnen, die überhaupt erst die Voraussetzung ist für das menschenunwürdige Disziplinar- und Überwachungsprogramm, dem Frida unterzogen wird. Ein totalitäres Regime hat alle im Blick, besonders die Mütter, denn, so die Argumentation, jedes Kind, das abweicht von dem Ideal des „guten Menschen“, zu dem nur eine „gute Mutter“ erziehen kann, schadet dem gesamten System.
Wem gehört ein Kind?
Ähnlichkeiten mit dem in China etablierten Social-Credit-System sind nicht rein zufällig. Chan ist Chinesisch-Amerikanerin der ersten Generation. Sie wuchs in einem Vorort von Chicago auf, ihre Eltern stammen beide aus China. Die kulturellen Unterschiede schaffen ein Spannungsfeld, in das die Autorin auch ihre Protagonistin stellt – auch Frida ist das Kind chinesischer Einwanderer. Deren hohe Ansprüche glaubt die Tochter nicht erfüllen zu können. Der Ehemann verlässt sie wegen einer Frau, die reicher ist und schöner, und die ihr bereits, noch bevor der Staat es tut, in die Erziehung von Harriet hereinredet.
Wem gehört ein Kind? Auch diese Frage verhandelt der Roman, die nicht hinter den viel offensichtlicheren verschwinden soll. Kann man überhaupt einen Anspruch auf einen anderen Menschen haben, selbst wenn es das eigene Kind ist? Gemäß Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar. Und das bedeutet auch, jeder hat das Recht auf seine eigene Integrität. Daraus lässt sich ableiten, dass kein Kind zum Objekt gemacht werden darf. Und doch geschieht es Tag für Tag. Was sagt es über Eltern, über eine Gesellschaft aus, wenn Kinder nach den eigenen Vorstellungen „abgerichtet“ werden?
Von Harriets Schreien überfordert, lässt Frida ihre Tochter unbeaufsichtigt zu Hause zurück. Da ist dieser Moment, da die Erschöpfung größer ist als die Liebe: „das freudige Kribbeln, das sie plötzlich empfand, als sie die Tür hinter sich schloss und in das Auto stieg“. Zweieinhalb Stunden später kehrt sie zurück, der Nachbar hat die Polizei gerufen, fortan lebt Frida unter Bewachung. Statt um Harriet muss sie sich nun um eine Puppe kümmern. Um ein KI-Kind, das Informationen sammelt, die Liebe ihrer Mutter misst, ihren Puls und ihre Gefühle aufzeichnet. Chan erweist sich als fulminante Chronistin einer emotionalen Hölle; man entkommt dem existenziellen Ringen der ebenso liebenden wie ohnmächtigen Protagonistin nicht. Man möchte schreien ob der Ungerechtigkeit, die Frida widerfährt und allen Frauen, auf denen der Mythos der guten Mutter lastet. Und man möchte gemäß Frankreichs großer Philosophin Élisabeth Badinter, die viel über Mutterschaft nachgedacht hat, entlastend rufen: „Die Vorstellung der perfekten Mutter ist völlig erfunden.“
Institut für gute Mütter Jessamine Chan Friederike Hofert (Übers.), Ullstein 2023, 432 S., 22,99€
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