Licht an

Kehrseite II "Ich kann Dinge sehn." Boris betrachtet sie aus den Augenwinkeln. Marie sieht nach vorn, sie laufen. Sie laufen durch die Dämmerung, durch die ...

"Ich kann Dinge sehn." Boris betrachtet sie aus den Augenwinkeln. Marie sieht nach vorn, sie laufen. Sie laufen durch die Dämmerung, durch die Vorfrühlingszeit. Sie laufen an Butter Lindner vorbei, an der Apotheke, an der Bank, an Beleuchtungen. "Ich kann in Menschen hineinsehen." Boris sagt noch immer nichts. Sie sind auf dem Weg. Irgendwie sind sie immer auf dem Weg. Diesmal zur Universität. Die Autos huschen wie blinkende Schatten an ihnen vorüber. Niemand schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Marie sieht sich die Schaufensterauslagen an. Boris schaut ihr dabei zu. "Und was siehst du?", Boris hat einen spöttischen Zug um den Mund. "Ich sehe Bilder", sagt sie ohne ihren Blick von orthopädischen Schuheinlagen abzuwenden. "Ich sehe Bilder aus dem Leben der Menschen, Momentaufnahmen, Schnee, spielende Kinder, Trauer, eine Fahrradtour, eine Liebe." Marie setzt sich in Bewegung. Boris folgt ihr "du meinst, du hast übersinnliche Fähigkeiten?".

Sie müssen jetzt die Straße überqueren. Sie warten. Eine Passage reißt zwischen den Autos auf. Sie schaffen es bis zur Mitte der Fahrbahn, sie sind den Autos nah. Ein Auto ohne Licht nähert sich. Marie hebt ihre Hand und lässt sie auf und zu schnappen, einer muss das ja machen. Sie sagt laut "du fährst ohne Licht". Die Autofahrerin schaltet die Scheinwerfer an. Boris zerrt Marie lachend auf die andere Seite "sie hat dich gehört, du hast übersinnliche Fähigkeiten". Sie boxt ihm in die Schulter "ich habe mit der Hand ein Zeichen gemacht". "Ja, aber wenn ich das nicht gesehen hätte, dann hätte ich nur gesehen, wie das Licht anging". Sie lachen beide.

Später ist Marie allein auf dem Weg, irgendwie ist sie immer auf dem Weg. Diesmal ins Kino. An der Ampel schaut sie auf die heranrollenden Autos. Der Strom verlangsamt sich, die Ampel hat geschaltet. In der dritten Spur nähert sich ein Auto ohne Licht. Sie wird ein Zeichen geben, wenn sie vorübergeht. Sie sieht auf den Fahrer, sie denkt, "du musst das Licht anmachen". In diesem Moment flackern die Scheinwerfer auf. Marie hat die Hände noch in der Manteltasche. ›Ich habe übersinnliche Fähigkeiten‹, sie grinst. Sie denkt, dass muss ich Boris erzählen. Sie lacht.

Synke Köhler erblickte 1970 in Dresden das Licht der Welt. Sie lebt, schreibt und züchtet Rosen in Berlin.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden