100 Stoppuhren für John Cage

Erinnerung Zum 20. Todestag von John Cage beschreibt unsere Autorin eine persönliche Anekdote
John Cage 1912-1992
John Cage 1912-1992

Foto: Jörg Schmitt / dpa

In diesen Tagen wird vielerorts an den Komponisten John Cage erinnert. Am 12. August jährt sich sein 20. Todestag, am 5. September wäre er 100 Jahre alt geworden. Und so kommen auch mir Begegnungen mit diesem außergewöhnlichen amerikanischen Künstler ins Gedächtnis. Während meines Studiums der Musikwissenschaft in Frankfurt am Main kamen an der dortigen Oper Europeras 1 & 2 zur Uraufführung. Meine Kommilitonin und Freundin Christina Tappe hatte sich bei John Cage um ein Praktikum beworben, das sie auch bekam, und wurde kurzerhand von ihm als persönliche Assistentin nach New York geholt. Im Februar 1989 plante ich, meine Freundin in New York zu besuchen, die mich einige Tage vor meiner Abreise anrief und fragte, ob es in Deutschland günstige Stoppuhren gäbe. John Cage bräuchte sie für eine Komposition. Diese dürften aber nicht piepen. Denn all die Billigware aus Taiwan oder China gäbe zur vollen Stunde einen Laut von sich. Ich recherchierte und bekam den Hinweis auf einen Versand, der mir versicherte, dass seine Stoppuhren keinen Laut von sich geben würden, also bestellte ich 100 Stoppuhren.

Als ich am Vortag meiner Abreise das Paket empfing, gab es eine böse Überraschung: Natürlich piepten alle 100 Stück, denn auch diese Stoppuhren waren made in China. Was sollte ich tun? Ich hatte versprochen, 100 nichtpiepende Stoppuhren mitzubringen. Aber was wäre gewesen, ich wäre durch den Zoll gegangen, und die Stoppuhren hätten angefangen zu piepen? So konnte ich sie nicht mitnehmen. Also schaute ich mir die Stoppuhren genauer an und schraubte eine auf. Mühelos ließ sich das Resonanzplättchen entfernen. Die Lösung war gefunden: Die ganze Nacht lang schraubte ich Stoppuhren auf, nahm Plättchen heraus, und schraubte sie wieder zu. Am nächsten Tag reiste ich mit zwei großen Taschen nach New York, mit einem etwas unwohlen Gefühl im Bauch.

Stoppuhren statt Dirigent

Einen Tag nach meiner Ankunft durfte ich John Cage die Stoppuhren persönlich überreichen. Er lud mich zum makrobiotischen Essen in sein Apartment in der 18. Straße ein. Und er freute sich wie ein Schneekönig über die hundert nichtpiependen weißen Stoppuhren. Er lud mich zur Uraufführung seiner Komposition „101" am 6. April 1989 nach Boston ein. Für mich war es sehr aufregend, als die 101 Musiker des Boston Symphony Orchestra ohne Dirigent, dafür mit meinen weißen Stoppuhren auf ihren Pulten spielten.

Während meines viermonatigen Aufenthalts traf ich John Cage einige Male. Er war ein bescheidener, leiser Mann, etwas verrückt, der sich rund um die Uhr mit Zufallsentscheidungen und dem chinesischen I-Ging befasste. Ich reiste nach Boston, wo er die Norton-Lectures an der Harvard-Universität hielt und stundenlang seine Mesostics, einer dem Zufall entsprungenen Literaturform, vortrug. Und wenn er nicht im Sommer 1989 krank geworden wäre, hätte ich die Nachfolge meiner Freundin angetreten. So war der Plan.

Einige Jahre später, in seinem Todesjahr, traf ich ihn noch einmal. Ich besuchte nach meinem Examen New York und sollte ihm die Magisterarbeit meiner Freundin überbringen. Die Arbeit beschäftigte sich mit Europaras 1 & 2 und die Verwendung des Zufalls. John lud mich ins Ballett ein, wo sein langjähriger Freund und Partner Merce Cunningham einen seiner letzten Auftritte hatte. Zu seinem 80. Geburtstag war ein großes Fest in Frankfurt geplant. Wenige Wochen vorher starb er.

Tabea Rößner ist Bundestagsabgeordnete der Grünen

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