Professor und Elitenkritiker, Patriot und Anti-Imperialist, Marxist und Theologe – Cornel West vereint einige Widersprüche in seinem Denken des „Prophetischen Pragmatismus“. Seine Bücher Race Matters und Democracy Matters gelten als Manifeste für den Kampf der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der USA im 21. Jahrhundert. Dabei lebt er den Aktivismus in all seinen Formen: etwa als Schauspieler im Blockbuster Matrix, als Musiker auf Alben mit Prince und Talib Kweli, als Gesprächspartner in Late-Night-Talkshows oder als Demonstrant auf politischen Kundgebungen. Im Gespräch redet Cornel West über die Angst vor dem Tod, die imperiale Kernschmelze der USA und über Barack Obama als Enttäuschung.
der Freitag: Mr West, fürchten Sie den Tod?
Cornel West: Nicht wirklich.
Warum nicht?
Ich wurde mit einem wundervollen Leben gesegnet, einem langen Leben voller Freude. Deshalb will ich nicht gierig nach mehr sein. Ich wurde zu dem Festmahl des Lebens eingeladen und durfte von der großartigen Liebe meiner Eltern und Freunde kosten. Wenn es Zeit ist, zu gehen, dann ist meine Zeit, zu gehen. Dann wird jemand anders mein Erbe weitertragen. Ich habe mich niemals vor dem Tod gefürchtet.
Es gab in der Geschichte der USA Bürgerrechtler wie Malcolm X oder Martin Luther King, in deren Tradition Sie sich sehen, die für ihre Vision mit ihrem Leben bezahlen mussten. Zeit ihres Lebens fürchteten sie sich nicht vor dem Tod. Woher stammt bei Ihnen diese Furchtlosigkeit?
Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass es in meinem Fall sehr viel mit meiner christlichen Erziehung zu tun hat. Und gewiss kann man nicht das Leben lernen, ohne das Sterben gelernt zu haben. Man lernt zu sterben, indem man selbstkritisch ist und in einer kühlen und grausamen Welt Zeugnis gegen sein Ego und für das Gute ablegt. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man als Verfechter der Wahrheit und Gerechtigkeit missverstanden und missdeutet wird, sogar Opfer von Rufmord oder von tatsächlichem Mord wird.
Es gibt wenige linke Intellektuelle, deren Überzeugung auf einem christlichen Fundament steht. Was glauben Sie, warum?
Ich sehe mich als revolutionären Christen im Tolstoi-Modus, der Tag für Tag mit seinem Glauben ringt. Ich glaube an Gott, weil ich die Welt durch eine bestimmte Linse betrachte. Aber es wäre für mich nahezu unmöglich, ohne Gott in dieser Welt fortzubestehen, zu leben, zu lachen und zu lieben. Atheisten könnten mir vorwerfen, einer Illusion zu folgen. Aber es geht darum, dass für mich persönlich diese Weltsicht und die Beziehung zu Gott einen Sinn ergeben. Meine Welt wird geformt durch meine Erfahrungen, die von der Essenz der biblischen Erzählung geprägt sind. Für mich ist es die zentrale Botschaft dieser Erzählung, die Liebe immer in Verbindung mit der Gerechtigkeit zu denken. Gerechtigkeit ist, wie Liebe in der Öffentlichkeit aussieht.

Zach Gibson/AFP/Getty Images
Sie verstehen sich als intellektuellen Krieger und spirituellen Soldaten. Ein Soldat ist immer bereit, für etwas, das größer ist als er selbst, zu kämpfen und zu sterben. Was ist es in Ihrem Fall?
In meinem Fall ist es das Leben und Sterben für den Kampf gegen das Leid und die Unterdrückung. Ob es nun die Palästinenser in Gaza, die Juden in Frankreich, die Indianer in Nordamerika, die Dalits in Indien betrifft, Menschen in Tibet und in Kaschmir, die unter der Besatzung leiden, oder schwarze Arbeiter, die von schwarzen Diktatoren auf dem afrikanischen Kontinent unterdrückt werden. Es gibt viele Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit. Man ist bereit, für die Wahrheit zu kämpfen, weil es um wertvolle und unbezahlbare Menschenleben geht, die Leid ausgesetzt sind.
Sie sagen: „Es gibt einen Preis, der für das Aussprechen der Wahrheit zu zahlen ist. Es gibt einen noch höheren Preis, der für das Leben einer Lüge zu zahlen ist.“ Welchen Preis mussten Sie bereits für die Wahrheit zahlen?
Ich geriet in große Kontroversen mit US-Präsidenten, Wirtschaftseliten, faschistischen Kräften, aber auch schwarzen Gemeinden, weil ich nicht immer die Standpunkte einnahm, die zu der Zeit populär waren, sondern die, die meinem Anspruch an Ehrlichkeit gerecht wurden. Tagtäglich erhalte ich Morddrohungen. Ich beharre auf dem, was meinem Verständnis von Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, auch wenn dadurch mein Leben in Gefahr gerät.
Aus Ihrer Sicht besteht die größte Gefahr für die Demokratie darin, dass es in der Politik, den Medien und der Kultur einen Mangel an Menschen gibt, die bereit sind, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Glauben Sie nicht an die selbstkorrigierende Macht der Demokratie?
Auf keinen Fall. Wir haben so viel Korruption an der Spitze, die Hand in Hand mit einem Konformismus feiger Menschen geht, die sich an eine kulturelle Etikette anpassen, die große Übel duldet. Das findet man in politischen Parteien, Wirtschaftseliten, Universitäten oder religiösen Institutionen. Man erlebt dort, wie diejenigen, die Macht besitzen, durch diese Macht korrumpiert werden. Menschen, die in diesen Kreisen sozialisiert werden, sorgen sich ausschließlich darum, weiter in dieser korrupten Kultur bestehen zu können. Sie versuchen, Fehler zu vertuschen und Lügen zu verbergen. Dadurch geraten sie in eine Beziehung zwischen Verlogenheit und Kriminalität. Von hier ist der Weg zum Faschismus, zur autoritären Herrschaft, nicht weit. Wir sehen diese Entwicklung derzeit in aller Welt.
Wir leben in der neoliberalen Ära, die auf den Zusammenbruch großer Ideologien als Konsequenz der beiden Weltkriege folgte.
Ich muss korrigieren. Es ist derzeit eine Transformation im Gange. Sie führt uns in die neofaschistische Ära, die sich auf dem Rücken von ethnischen und religiösen sowie anderen Minderheiten aufrichtet. Zwischen 1945 und 2015 erlebten wir die goldene Ära des Neoliberalismus, eines globalen Finanzkapitalismus, der Wall Street und einer Wirtschaftselite, die die Zügel unseres Imperiums in der Hand hielten. Diese wiederum haben ihr Vermögen genutzt, um Politiker zu beeinflussen und zu kontrollieren. Ein Großteil der Politiker auf den höchsten Ebenen des US-amerikanischen Imperiums pflegt eine enge Beziehungen zu den Ikonen der Finanz-Elite – eine der wenigen Ausnahmen bildet Bernie Sanders. Doch dieser miserable Zustand unseres Imperiums befindet sich in einem großen Wandel.
Zur Person
Cornel West, 65, lehrt Afroamerikanische Studien und Theologie an der Universität Princeton in den USA. Zuvor arbeitete er in Yale und Harvard. Im Jahr 1980 promovierte West mit einer Arbeit über ethische Aspekte des Marxismus
Ist das die „imperiale Kernschmelze“ der USA, von der Sie häufig sprechen?
Ja. Die Kernschmelze beginnt, wenn die Realität einen einholt und zu jagen beginnt. Es ist die Kombination der Herrschaft des großen Geldes und des obszönen Niveaus an ungerechter Vermögensverteilung. Es ist die Herrschaft des großen Militärs, bei der 56 Cent jedes US-Dollars in den militärisch-industriellen Komplex fließen. In mehr als 80 Ländern sind US-Truppen stationiert, und sie betreiben etwa 1.400 Militärbasen in aller Welt. Meine Mitbürger werden außerdem über die außenpolitischen Verfehlungen des Imperiums in Unwissenheit gelassen. Niemand hat ihnen etwa bisher gesagt, wie viele Menschen im Irak infolge unserer militärischen Intervention getötet wurden. Im Fernsehen hören Sie nichts vom Tod der 500.000 Zivilisten, die wir auf dem Gewissen haben.
Hat nicht jeder Bürger in einer Demokratie eine Stimme, die heute wie damals gegen Ungerechtigkeiten erhoben werden kann?
Die USA sind keine Demokratie, sondern ein Imperium. Dessen sind sich die wenigsten meiner Mitbürger bewusst. Dabei haben wir für die Idee der Demokratie gekämpft. Sie umfasst eine Beschränkung von willkürlicher Machtausübung durch die Elite, die in der Idee wurzelt, dass der einfache Bürger eine Würde besitzt und eine Stimme. Eine Stimme, die, wenn ihm erlaubt wird, sie zu erheben, jeden dazu befähigt, sein Schicksal selbst zu formen. Diese Idee wird allerdings täglich mit Füßen getreten. Deshalb leben wir in beängstigenden Zeiten.
Was macht Ihnen dabei Angst?
Natürlich gibt es eine demokratische Praxis, aber sie ist schwach ausgeprägt. Die US-Amerikaner sind zu Konsumenten geworden, statt dass sie ihre Rolle als Bürger wahrnehmen. Ihre Stimmen werden nicht gehört, weil eine Atmosphäre geschaffen wurde, in der das große Geld darüber entscheidet, wer über Einflussmöglichkeiten und politische Entscheidungsfähigkeiten verfügt. Wenn wir wählen gehen, stehen wir vor einer Auswahl an Kandidaten, die im Vorfeld durch die fünf größten Wahlkampfspender ausgesucht worden sind. Das lässt Menschen sich hilflos und ohnmächtig fühlen. Dann laufen sie in die Arme von Politikern, die als „starke Männer“ posieren und behaupten, „da oben“ aufräumen zu wollen.
Das geht nach hinten los.
Richtig. Wenn Sie Moby Dick von Herman Melville oder Der Eismann kommt von Eugene O’Neill lesen, dann finden Sie darin ein Zombie-artiges Leben in einem Land vor, das von Illusionen, Wahnvorstellungen und verschiedenen Traumzuständen durchdrungen ist, wo Wahrheit und Gerechtigkeit niemanden mehr kümmern. Sie stehen vor einem Kollaps, aber sie wissen es nicht.

Foto: Scott Olson/Getty Images
Dem Chaos-Präsidenten Donald Trump ging ein intellektuell brillanter und charismatischer schwarzer Präsident namens Barack Obama voraus. Warum gelang es ihm trotz seiner noblen Ziele nicht, eine Veränderung herbeizuführen?
Obama besaß zu wenig Mut, um gegen die Herrschaft der Wall Street vorzugehen. Er brachte sogar Vertreter der Wall Street in die Regierung: Leute wie Larry Summers oder Timothy Geithner. Als er dann auch noch John O. Brennan verpflichtete, der zum Counter-Terrorist-Team von George W. Bush zählte – ein Befürworter von Foltermethoden mit viel Blut an den Händen –, da wurde klar, dass sein „Change“ eine Illusion war. Im Jahr 2009 traf sich Obama mit den Vorständen der mächtigsten Finanzinstitutionen der Welt und sagte zu ihnen wortwörtlich: „Meine Regierung ist das Einzige, was zwischen Ihnen und den Mistgabeln steht.“ Er gab ihnen gleichzeitig die Garantie, sie vor den Angriffen der Mistgabeln zu schützen. Wir wissen, dass kein einziges Vorstandsmitglied im Laufe seiner achtjährigen Präsidentschaft hinter Gitter kam – trotz all der kriminellen Machenschaften etwa im Bereich des Insiderhandels und der Marktmanipulation, die sich in den Jahren 2008 und 2009 ereigneten. Obama besaß einfach nicht den Mut und das Rückgrat, weil er eine Romanze mit diesen obskuren Figuren aus der Finanz-Elite eingegangen war.
Zu den großen Versprechen Obamas gehörte auch die Beendigung der Kriege im Nahen Osten.
Auch dieses Versprechen blieb leer. Der Friedensnobelpreisträger Obama ist ein Kriegsverbrecher. In seiner Amtszeit ließ er 26.172 Bomben abwerfen, denen unzählige unschuldige Menschen zum Opfer fielen. Er führte in fünf Ländern gleichzeitig Krieg. Obama hatte zwar den Drohnenkrieg von Bush übernommen, weitete ihn aber im Laufe seiner Regierungszeit erheblich aus. Davon hören Sie kein Wort im öffentlichen Diskurs unseres Landes.
Was halten Sie von dem Standpunkt, dass Obama zwar gute Absichten hatte, den Willen und auch den Mut zur Veränderung besaß, aber nicht genügend Macht hatte?
Dafür gibt es keinen Beweis. Vielleicht ist Obama tief im Innern ein guter Mensch, aber er ist kein Kämpfer. Er weigerte sich, die Probleme des US-Imperiums anzupacken. Sein einziger legislativer Erfolg war Obamacare, eine Gesundheitsreform, die eigentlich Romneycare aus Massachusetts war. Es war eine republikanische Idee, die der vorherrschenden Marktlogik folgte. Die Krankenversicherung sollte weiterhin ein Privileg bleiben. Es war sicherlich ein wenig besser als das, was vorherrschend war, und die öffentliche Meinung war die einzige Möglichkeit, um Druck auf die private Versicherungswirtschaft aufzubauen. Aber sobald Obamacare in Kraft trat, machte Obama nicht nur einen Rückzieher, er unterdrückte auch kritische Stimmen in den eigenen Reihen und machte unvorteilhafte Deals mit Pharmakonzernen. Am Ende landeten wir beim Affordable Care Act,der der Übermacht der Arzneimittel- und der Versicherungsindustrie zugutekam. Wir haben dadurch immer noch mehr als 20 Millionen Bürger, die über keine Krankenversicherung verfügen.
Welche Bedeutung hat die Tatsache für Sie, dass Obama der erste schwarze Präsident in der Geschichte der USA war?
Seine Präsenz hatte einen rein symbolischen Wert. Sie hat bewiesen, dass allein die Tatsache, der erste schwarze Präsident zu sein, nicht ausreicht, um progressive Politik zu machen. Unter einem schwarzen Präsidenten entsteht doch nur dann eine Black-Lives-Matter-Bewegung, wenn dieser schwarze Präsident eine Politik gegen die Verbesserung der Zustände für die schwarze Bevölkerung macht. Unter Obama waren die USA weiterhin ein eskalierendes Masseneinkerkerungsregime – mit überdurchschnittlich vielen armen Schwarzen und Latinos in den Gefängnissen.
Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen Trump und Obama?
Natürlich. Während Obama das schwarze, lächelnde Gesicht des US-Imperiums war, ist Trump das weiße, grausame Gesicht des amerikanischen Imperiums. Es bleibt also alles innerhalb der imperialistischen Zone. Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass es einen US-Präsidenten Donald Trump ohne einen US-Präsidenten Barack Obama nicht gäbe. Es gäbe kein neofaschistisches Aufbegehren ohne eine neoliberale Politik. Obama hat Trump zwar nicht geschaffen, aber es war unter anderem seine Wall-Street-freundliche Politik, die Trump zum Sieg verholfen hat. Barack Obamas Zurückhaltung in der Frage der Schwarzen erwies sich zudem nicht als hilfreich für den Widerstand gegen die weiße Vorherrschaft.
Was heißt es für Sie, in den heutigen USA schwarz zu sein?
Ich werde jeden Tag daran erinnert, dass ich schwarz bin. Wenn Sie in den USA die Straße entlanggehen, mit dem Auto an der Polizei vorbeifahren oder in einem Supermarkt einkaufen, dann sind Sie für Ihr weißes Umfeld eine potenzielle Gefahr. Ich mache mir um mich selbst keine Sorgen, denn ich bin Universitätsprofessor. Ich mache mir eher Sorgen, was es für meine afroamerikanischen Brüder und Schwestern bedeutet, besonders für jedes zweite ihrer Kinder, das in Armut lebt. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich lebe in einem Imperium, das sich nicht um die Belange derjenigen kümmert, um die ich mich sorge. Deshalb schrieb ich das Buch Race Matters, das ein Plädoyer für eine spirituelle und moralische Revolution ist, damit diese benachteiligten Menschenleben zählen und ihnen endlich eine Würde zugesprochen wird.

Foto: Hiroko Masuike/Getty Images
Sie kritisieren den amtierenden US-Präsidenten, aber Sie nennen ihn „Bruder Trump“. Wie passt das zusammen?
„Bruder Trump“ ist ein Gangster, Betrüger, Feigling und ein Neofaschist. Er wurde wie jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen. Ganz gleich, welche Taten Menschen vollbringen, sie spiegeln niemals ihr gesamtes Wesen wider. Ich bin davon überzeugt, dass es immer Hoffnung auf Veränderung gibt. Wenn ich als gläubiger Mensch auf Gangster, Diebe, Hochstapler und Hetzer schaue, dann darf ich zwar die von ihnen begangenen Sünden hassen, aber ich muss die Sünder lieben. Ich war bei den Protesten von Charlottesville dabei und stand meinen Neonazi-Brüdern gegenüber. Ich nenne sie Brüder, weil ich weiß, dass dieser Hass, der in ihnen steckt, unter Umständen auch in mir hätte stecken können. Es reicht nicht, mit dem Finger auf Neonazis zu zeigen. Ich muss den Hass, der auch in mir steckt und aufkeimen kann, bekämpfen.
Auch in Deutschland erleben wir ein Erstarken der rechten Kräfte. Es kam zur Gründung der Pegida-Bewegung und zu Erfolgen der rechten Partei AfD, die mittlerweile in allen deutschen Parlamenten vertreten ist. Was sollten die Deutschen tun, damit sich die neofaschistische Gesinnung nicht weiter verbreitet?
Sie sollten ein Beispiel sein. Jeder muss sein Ego überwinden und bereit sein, sich für einen höheren Zweck zu opfern. Wenn diese Neofaschisten ihren Hass etwa auf Muslime richten, dann sollten die Deutschen sagen: „Wir sind Muslime! Wir lassen das nicht zu!“ Wenn Frauen angegriffen werden, dann sollten die Deutschen sagen: „Wir sind Frauen!“ Wenn sich ihre Politik gegen die Arbeiterklasse richtet, dann sollten die Deutschen sagen: „Wir sind Arbeiter!“
Als praktizierender Muslim fragt man sich in diesen Zeiten schon, was so speziell am Islam ist, dass er als Feindbild herhalten muss und die Grundlage der politischen Kampagnen der rechten Kräfte bildet. Woran liegt das?
Als der Kalte Krieg beendet war und der Kommunismus als Feind wegfiel, folgte ein Heißer Kulturkrieg, in dem Muslime die Kommunisten als Zielscheibe ersetzten. Ironischerweise waren es die USA, die die Muslime im Kampf gegen die Kommunisten in Afghanistan unterstützten. Die Mudschahedin wurden darin unterstützt, ihre Religion zum Zwecke der Zurückdrängung der Sowjetunion zu politisieren. Die USA waren damals wie heute bereit, alle Kräfte zu fördern, um dieses Ziel zu erreichen. Darauf folgten zahlreiche Kriege um Ressourcen und geostrategische Interessen in der arabischen Welt. Die Religion der dort lebenden Menschen wurde zu einem nützlichen Feindbild. Besonders in Europa weisen Muslime, die aus bestimmten Regionen stammen, Merkmale auf, die sich zur Stigmatisierung eignen. Dem Neofaschismus geht es im Kern darum, eher aus den verletzlichsten Teilen der Bevölkerung Sündenböcke und Opferlämmer zu machen, als sich den mächtigen Unterdrückern und Eliten aus Politik und Wirtschaft entgegenzustellen.
Viele blicken mit Besorgnis auf das Ende der Ära der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die soziale Ungleichheit und die Spaltung der Gesellschaft befeuern den Rechtspopulismus. Was wird auf Merkel folgen?
Angela Merkel ist Teil derselben neoliberalen Ordnung, der Obama oder Blair angehören. Diese Ordnung schwindet und schafft Raum für eine Transformation. Im Falle Deutschlands müssen wir auch über dessen Rolle in der EU sprechen, und darüber, auf welche Weise Deutschland versucht, die Einheit der EU unter der neoliberalen Schirmherrschaft herzustellen. Das ist nämlich fehlgeschlagen, weil man nicht fähig war, auf die missliche Lage der Arbeiterschaft sowie der geflüchteten Menschen klug zu reagieren. In der europäischen Staatenfamilie bilden sich deshalb rechtspopulistische Parteien heraus, die die EU als Symbol eines leeren Kosmopolitismus brandmarken, der Menschen entwurzele und sie von Identitätsbildung abhalte. In dieser Diagnose einer kosmopolitischen Entwurzelung liegt etwas Wahres. Ich hoffe jedenfalls, dass die linken Kräfte in Deutschland eine multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Koalition gründen, um sich gegen den eskalierenden Rechtspopulismus zur Wehr zu setzen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.