Die Religion ist schuld?

Kritik ǀ "Religionen sind die Wurzel allen Übels!" So lautete eine verbreitete Meinung in säkularen Gesellschaften. Ich sehe das anders...

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Mao Tse Tung, Josef Stalin und Adolf Hitler waren große Tyrannen und Massenmörder unserer Menschheitsgeschichte. Sie töteten nicht im Namen der Religion! Allein im Ersten und Zweiten Weltkrieg starben insgesamt mehr als 70 Millionen Menschen. Ihr Blut wurde nicht im Namen der Religion vergossen. Beispielsweise gebrauchte das Dritte Reich den Krieg vordergründig, um durch Besetzung verschiedener Territorien ihren Lebensraum zu erweitern und durch die Aneignung von Besitztümern, den durch die Aufrüstung aus den Fugen geratenen Finanzhaushalt zu stabilisieren. Weitere Kriege im 20. Jahrhundert wie in Korea, Kambodscha, Vietnam oder im Irak zeigen abermals, dass aus machtpolitischen, ideologischen, strategischen und wirtschaftlichen Gründen getötet wurde.Aber auch die uns bekannte Technik der Selbstmordanschläge kann nicht einer bestimmten Religion zugeordnet werden. Die Tamilen-Tiger als stramme Leninisten nutzten gleichermaßen diese Technik aus rein weltlicher Motivation und Ideologie heraus, deren metaphysischer Kern das Versprechen der Freiheit in der Zukunft war. In gleicher Weise verfolgen radikal-islamistische Selbstmordattentäter eine rein weltliche Zielsetzung, nämlich die Herrschaft über die Welt. Indessen dient Religion lediglich als Hülle für das nationalistisch-kulturelle oder revolutionär-politische Skelett des Ideologen. Dieses Konstrukt bildet sich dort, wo sich Menschen gedemütigt fühlen, wo die Hilflosigkeit und Wut im Angesicht der Macht des Anderen allgegenwärtig ist.

Der geheiligte Krieg

Das Töten von Individuen oder die Auslöschung von Massen zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Es geschah im Namen der Ehre, aus Rachsucht, auf der Suche nach Nahrung und Besitztürmern oder im Streben nach Weltherrschaft. Auch die Religion blieb vor dem Missbrauch als Kriegsgrund nicht verschont. Als Papst Urban II. in seiner Predigt zum Kreuzzug für die Befreiung Jerusalems von den Heiden rief, antwortete die Menschenmenge: “Deus lo vult!” (dt. “Gott will es!”). Doch was wollte Gott? Was wollte der Papst? Und was wollte der Herrscher?

Erstaunlicherweise stoßen wir ein jedes Mal auf ähnliche Motivationsmuster: "Die Anderen sind im Vormarsch! Ihr Einfluss weitet sich aus! Ihre militärische Kraft vergrößert sich! Ihre Ressourcen häufen sich an! ... und wusstet ihr, dass die Anderen herzlose Barbaren sind, ungesittete Heiden?”Der Redner, der solche Worte von sich gab, ist ein Charismatiker, der es versteht jegliche Zweifel daran zu zerstreuen, dass der Aufruf zum Einsatz von Schwert und Feuer im Namen der Religion zu hinterfragen sei. Für uns ist dies hier im Westen kaum vorstellbar. Denn in einer stark verwobenen Welt identifizieren wir uns mehr über die Staats-, Volks- oder Kulturzugehörigkeit. Im Gegensatz zu diesen Identifikationsmerkmalen bewirkt Religion eine Metamorphose der Herzen. Religion ist keine Politik und seine Anhänger formieren sich nicht als politische Partei. Religion ist keine Nation mit ihren begrenzten Loyalitäten oder ein Staat mit geographischen Grenzen. Da Religion eine Herzensangelegenheit ist, konnten nicht selten betrügerische und machtsüchtige Menschen eine unvernünftige Masse dazu bewegen, Taten zu vollbringen, die bis dahin sogar ihren eigenen Moralvorstellungen widersprachen.

Religion als Ausdrucksform

Schaut man auf den heutigen Israel-Palästina-Konflikt, sieht man scheinbar Muslime gegen Juden kämpfen, in Syrien: Shiiten gegen Sunniten oder in Nigeria: Christen gegen Muslime. Tatsächlich ist aber Religion schon seit langer Zeit keine Kriegsursache mehr, sondern eine Ausdrucksform, die einem Krieg im Laufe des Konflikts verliehen wird. Bei Konflikten unserer Zeit, die als religiös motiviert charakterisiert werden, bildet sich doch gerade im Verlauf der Entwicklungen ein entsprechendes Bewusstsein oder eine Verhärtung einer bestimmten Identität heraus.

Nehmen wir einmal das ehemalige Jugoslawien als Beispiel. Dort gab es Serben, Kroaten, Slowenen und Bosnier. Jede Volksgruppe hätte sich auf seine eigenen Besonderheiten berufen können. Doch die Serben setzten auf eine panslawische Identität, womit sie die Karte der sprachlichen Verwandtheit ausspielten. Den Bosniern blieb keine andere Wahl als auf ihre religiöse Zugehörigkeit zu setzen, womit sie automatisch Muslime weltweit ansprachen. Tatsache ist, dass bosnische Muslime wenige bis überhaupt nicht praktizierende Gläubige sind. Trotzdem gesellten sich in ihrem Kampf gegen die panslawische Gruppe Kämpfer aus aller Welt hinzu, die sich als Muslime bezeichneten. Jeder von ihnen kam als muslimischer “Bruder” mit einer persönlichen Agenda. Ganz oben stand dabei der Kampf gegen den Westen. Zugleich war es ihnen ganz egal, ob sie im Nahen Osten, Afghanistan oder in Bosnien kämpften. Dem Kampf, den sich die “Gotteskrieger” hingaben, wurde allein um des Krieges Willen gekämpft. Hierbei gehörte die kontinuierliche Ignoranz gegenüber islamischer Ethik und Moral zur allgemeinen Praxis der Freiheitskämpfer.

Eifersucht der Anti-Religiösen

“Ohne Religion wäre die Welt besser dran!” Eine große Mehrheit in unserer Gesellschaft würde diese These wahrscheinlich sofort unterschreiben. Bei uns ist Religionskritik hoch im Trend und die Religion selbst ist zu einem Fremdkörper geworden. Wer nicht zur Kirche, in die Synagoge oder Moschee geht, aber religiös bleiben möchte, der glaubt an Gott und nicht an sein “Bodenpersonal”. Auch die gewaltige Konkurrenz zieht uns an. Buddhismus, New Age, Feng-Shui oder Esoterik gelten als zeitgemäße Alternativen. Aber ebenso der Atheismus, der Religion als infantile Neurose ablehnt, wirbt als Organisation auf Plakaten mit “Es gibt keinen Gott! Werte sind menschlich. Auf uns kommt es an!” für mehr Anhänger.

Auf dem zweiten Blick schimmert in den Kampagnen ein gewisser Wahrheitsanspruch und antireligiöser Neid hindurch. Ohne einen endgültigen Beweis gegen die Existenz Gottes blickt der Atheist mit Eifersucht auf das Leben eines Gläubigen, der durch Gott Liebe, Sicherheit und Geborgenheit findet. Dagegen fühlt er sich selbst als Zufallsprodukt, ziemlich einsam in einer grauen und grausamen Welt. Unbewusst sehnt er sich nach Transzendenz und zeigt sich radikal nach außen, indem er die Abschaffung von Religion fordert. Was er hingegen nicht bedenkt, ist, dass in dem Moment, wo Religion abgeschafft wäre, kein leerer Raum entstehen würde. Stattdessen versuchen wir Menschen immer eine Leere mit anderen Dingen zu füllen. Wir erschaffen uns Ersatzreligionen, die aus Konsum, Arbeit, Politik oder unseren Hobbies geformt werden. Dabei wird unsere säkulare Gesellschaft stets durch die urmenschliche Hybris geblendet. Die Folge: Ein Großteil meint, zu gut informiert zu sein, um sich zu klaren Weltanschauungen zu bekennen. Er ist zu liberal, um Wertehierarchien zu formulieren und zu konsumorientiert, um Bescheidenheit zu predigen. Umso mehr tut sich unsere Gesellschaft mit denen schwer, die einem Gott anhängen wollen. Dies trat schon in der Beschneidungsdebatte, dem Pussy-Riot-Skandal oder der Schmähfilm-Diskussion zu Tage. Im Hintergrund stand immer die Frage: Wie viel Freiraum lassen wir den Religiösen in unserer Gesellschaft?

Religion unter Säkularen

Religiöser Glaube kann ein nützlicher Damm gegen die menschliche Eingenommenheit von sich selbst sein. Der Fortschritt des Menschen hat eine gute sowie eine böse Seite, die ständig gegenüber der Natur und anderen Menschen ausgespielt wird. Der Mensch kann eine ungeheure destruktive Kraft entwickeln, solange nicht das Böse in ihm gezähmt wird und seine Kräfte nicht in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Erst dann befreit Wissen und Erkenntnis. Zusammen mit der moralischen Komponente befördert auch die Vernunft dann das Gute.

Gewiss gibt es moralische Werte, die für jeden Menschen unabhängig seiner Weltanschauung Geltung besitzen. Diejenigen, die sich jedoch gegen eine Harmonie und Eintracht in der Gesellschaft stellen und Wahrheiten monopolisieren, passen nicht in eine friedliche Gesellschaft. Die Verteufelung von religiöser Überzeugung und der damit verbundenen Einmischung in die Beziehung zwischen Mensch und Gott ist der Ausdruck einer faschistischen Gesinnung, und nichts anderes.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tahir Chaudhry

Journalist. Gründer & Chefredakteur www.dasmili.eu.

Tahir Chaudhry

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