Aufstand der Arschlöcher

Fremdenfeindlichkeit AfD, PEGIDA, Anschläge auf Geflüchtete: Hass sollte nicht psychologisiert werden, sondern als das entlarvt werden, was es ist: vorsätzliches Arschlochverhalten von Losern

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In seinem Buch "Angry White Men: American Masculinity at the End of an Era" untersucht der amerikanische Soziologe Michael Kimmel die durch die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformation, welche die USA in den letzten Jahren/Jahrzehnten verändert haben und weiterhin verändern werden, brachgelegten Ängste und die Wut weißer Männer, die sich in allen möglichen Handlungen äußert: im rhetorischen Hass konservativer Radio-Talkshows gegen Einwanderer, Muslime, Homosexuelle und Washington; in Schießereien in Schulen und sonstigen Amokläufen; in der gewaltbereiten Abtreibungsgegnerschaft und martialischen Verteidigung der Südstaatenflagge, DEM Symbol der Sklaverei und weißer Hegemonie; oder etwa in sogenannten "hate crimes" gegen Minderheiten. All diesen Menschen gemein sind drei Dinge: dass sie primär weiß und männlich sind; dass sie glauben, Hass oder gar Gewalt gegen Andere und Andersseiende seien legitime Formen des Protests gegen das "System"; und dass alle Anderen an ihrer misslichen Lage Schuld sind, nur nicht sie selbst.

"Aggrieved entitlement"

Die Wurzel dieses wachsenden Hasses (erst kürzlich hat das Southern Poverty Law Center in Alabama eine Studie veröffentlicht, die für 2015 im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" eine besorgniserregende Proliferation von "hate groups" und Hassverbrechen feststellt), lokalisiert Kimmel in einem Gemütszustand, den er "aggrieved entitlement" nennt, was soviel bedeutet wie das Anrecht, dessen man beraubt wurde. Denn sozialer Abstieg, steigende Rassen- und Gendergleichheit und das verzweifelte Festhalten an einem nicht mehr zeitgemäßen Weltbild hätten dazu geführt, dass weiße Männer sich des traditionellen Status Quo ihres sozioökonomischen Privilegs, das sie als ihr historisches Anrecht betrachten, beraubt fühlen: dieses also gestohlen wurde von Einwanderern, Muslimen, Schwulen, Frauen, den liberalen Politikern in Washington, einem schwarzen Präsidenten, den Medien mit ihrem "liberal bias" (das ist der bei Konservativen verbreitete Glaube, der Medien-Mainstream in den USA sei strukturell links und anti-konservativ), et cetera pp. Gegen all diese konstruierten Feindbilder entlädt sich dann der Hass dieser wütenden weißen Männer, ob verbal oder mit (Schusswaffen-)Gewalt. Das aktuellste Beispiel gewaltbereiter wütender weißer Männer war die bis auf die Zähne bewaffnete Miliz, die 41 Tage lang das Hauptquartier eines Naturreservats im Bundestaat Oregon besetzt hatte, aus Protest gegen die Staatsgewalt: ein Fall, der in den USA einen berechtigten Rassismusdiskurs lostrat (wenn Schwarze oder Muslime ein Regierungsgebäude gestürmt und übernommen hätten, wäre sofort von Terrorismus die Rede gewesen; die Terroristen vom Malheur National Wildlife Refuge dagegen waren für Gesetzeshüter und Medien nur Kriminelle, die sich lediglich des Straftatbestands des uramerikanischen "trespassing", des widerrechtlichen Betretens eines Grundstücks, schuldig gemacht hatten).

AfD und Pegida: die Tea Party-Bewegung Deutschlands

Weiße Entfremdung von der "angestammten Heimat" angesichts einer unaufhaltsam sich immer weiter globalisierenden Welt ist nicht nur ein amerikanisches Phänomen: auch in Europa ist sie mittlerweile endemisch. Und so lässt sich die "Angry-White-Men-These" und das damit verbundene "aggrieved entitlement" auch eins zu eins auf Deutschland übertragen, wo der deutsche Rassismus der Nachwendezeit mit dem von Rot-Grün initiierten strukturellen Umbau deutscher Identität spätestens nach dem Fußball-Sommermärchen als endgültig begraben geglaubt war, nur um seit einigen Jahren mit PEGIDA, AfD, und insbesondere seit letztem Jahr mit den systematischen Anschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte wieder aufzuerstehen, in all seiner menschenverachtenden Hässlichkeit. Denn was die radikalkonservative Tea-Party-Bewegung in den USA ist, versuchen die Rechtspopulisten von PEGIDA in Deutschland zu sein: allerdings mit dem Unterschied, dass anstelle überzeugter neofundamentalistischer Christen eher postdemokratische Atheisten stehen, also Menschen, die es mit der Überzeugung nicht so Ernst nehmen und eher aus Bequemlichkeit nicht an Gott glauben, was ihre Sache mit der Verteidigung des christlichen Abendlandes ziemlich unglaubwürdig macht. Und was in den USA die "school shootings" sind, die zu 97% von Männern und zu 79% der Fälle von Weißen begangen werden, also selten von afro-amerikanischen, hispanischen Jugendlichen oder Frauen, sind hierzulande die Brandanschläge auf Geflüchtetenheime, die meist von weißen deutschen Männern verübt werden. Dies soll nicht heißen, das Frauen vor rechter Erregung gefeit sind, da braucht man nur auf die AfDlerin Frauke Petry zu schauen, die Sarah Palin Deutschlands: Beide sind der lebende Beweis dafür, dass das "andere Geschlecht" nicht naturgemäß ein moralisch besseres ist; darüber hinaus zeigt Frau Petrys Schlachtruf nach der Abschaffung des "Gender-Wahns", das Frausein und Misogynismus sich nicht zwangsläufig ausschließen. Dennoch scheint Erregung, die in aktive physische Gewalt umschlägt, primär eine Männerdomäne zu sein.

Vom Abstammungsprinzip zur Meritokratie

Wie also in den USA grassiert auch hierzulande die Angst bei "autochtonen" weißen Deutschen, insbesondere im Osten, Privilegien zu verlieren, die sie kraft ihrer Blut-und Bodenherkunft als ihr historisches Anrecht begreifen und die daher Anderen, die nicht deutsch sein sollen/können/dürfen, weil sie weder weiß sind noch Müller heißen, nicht zugestehen, egal wie hart sie dafür arbeiten, dazuzugehören. Die verspätete Überraschung vieler Ostdeutscher darüber, dass man sich mit dem Anschluss an die Bundesrepublik nicht nur in einer Demokratie, sondern auch in einer Meritokratie wiederfand, die Verdienst belohnt und spätestens mit der Umsetzung der Hartz IV-Reformen Untätigkeit strenger bestraft, spricht Bände über die Naivität und Realitätsferne dieser Menschen. Denn diese verbringen lieber ihre Zeit damit, sich in einer immer schnelllebigeren und pluralistisch werdenden Weltordnung auf ihre Abstammung einen runterzuholen und würden mit ihrem statischen und homogenen Weltbild lieber untergehen als sich der Realität zu stellen. Darüber hinaus besitzen sie auch noch die Dreistigkeit, die Schuld am eigenen Veränderungsunwillen und ihrer narzisstischen Anpassungsunfähigkeit anderen, pragmatischeren Menschen in die Schuhe zu schieben. Kurz: Sowohl die Angry White Men Amerikas als auch die wütenden weißen Männer Deutschlands sind armselige Loser, die ihre Ohnmacht mittels Aggression, Hass und Rassismus gegen Unbescholtene zu kaschieren versuchen. Und das macht sie zu dreisten Arschlöchern.

Der Osten ist rassistischer. Punkt.

Laut Bundesregierung passierten 2015 47% aller rassistischen Übergriffe in Ostdeutschland, obwohl die neuen Bundesländer nur 17% der Gesamtbevölkerung ausmachen: ein deutliches Unverhältnis. Und in Meck-Pomm, Thüringen und Sachsen liegt die Zustimmung für ausländerfeindliche Aussagen bei etwa 30%, obwohl in den drei Bundesländern der Ausländeranteil mickrige zwei Prozent beträgt (Stand: 2015). Auch spezifische Fallbeispiele belegen die ostdeutsche Endemie rechter und rechtsextremer Gesinnung: Solingen und Mölln waren Anschläge von rassistischen Einzeltätern, die die Mehrheitsgesellschaft schockierten; in Hoyerswerda und Rostock-Lichterhagen dagegen wurden die brennenden Asylbewerberheime, wie sie damals noch hießen, mit dem Beifall johlender Menschenmassen bedacht. Und last but not least: die zwei Uwes und ihre Beate von der rechtsterroristischen NSU, die nicht Wessis waren, sondern Ossis. Hinzu kommt der allzubekannte, auf eine Kultur des selektiven Apologetismus fußende, institutionelle Rassismus von ostdeutscher Politik und Polizei, die auf dem rechten Auge stets blind sind, aber auf dem linken Auge immer über volle Sehstärke verfügen. Rassismus ist ein gesamtdeutsches Phänomen, Arschlöcher gibt es in West und Ost. Aber im Osten ist rechter Hass mehrheitsfähiger. Das macht ihn gefährlicher als im Westen, wo höherer Wohlstand, die historisch gewachsene Realität des Multikulturalismus und gelebte Globalisierung rassistischer Gesinnung, insbesondere der gewaltbereiten Variante, die bedrohliche Mehrheitsfähigkeit genommen hat.

Immer wieder Sachsen

Überproportionale viele Arschlöcher scheinen im Geburtsland von PEGIDA zu leben: in Sachsen. (siehe dazu einen großartigen Artikel von Frank Strauß unter dem Titel "Nach PEGIDAs Ende (Teil 1)" auf carta.info). Kein Bundesland macht so konsequent und souverän Schlagzeilen kraft der unglaublichen Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit großer Teile ihrer Bevölkerung wie dieser schwarz-braune Sumpf. Aktuellste Fälle: ein Örtchen namens Clausnitz, wo am 18. Februar ein rechter Hassmob einem Bus mit Geflüchteten ihren menschenfeindlichen Hass entgegenschleuderte und verängstigte Kinder zum Weinen brachte (Jan Böhmermann hat das Video per Twitter in Umlauf gebracht, mit dem Untertitel "Der deutsche Angstmob begrüßt die, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind."; und Stefan Kuzmany hat einen wunderbar ehrlichen und treffenden Brief an diese Menschenfeinde mit der Überschrift "Das Volk? Ihr nicht." verfasst, zu lesen auf Spiegel Online). Und nur zwei Tage später dann Bautzen: eine Geflüchtetenunterkunft brennt (das Operative Abwehrzentrum der sächsischen Polizei ging für sächsische Verhältnisse erstaunlich schnell von vorsätzlicher Brandstiftung und einem fremdenfeindlichen Tatmotiv aus), und ein grölender, teils betrunkener Mob klatscht Beifall, darunter auch Kinder, und hindert die Feuerwehr beim Löschen des Brandes. Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, Schandflecke der deutschen Nachwendegeschichte, haben sich spätestens seit dieser Nacht endgültig zurückgemeldet.

caritas statt Clausnitz

Diesem hässlichen Bild Ostdeutschlands steht zum Glück ein anderes gegenüber: das der gelebten Willkommenskultur vom Münchener Hauptbahnhof aus dem Spätsommer letzten Jahres, wo täglich tausende Geflüchtete nach den Strapazen und Gefahren ihrer langwierigen erzwungenen Reise ankamen und von einem Deutschland von solcher Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft empfangen wurden, dass sogar eingefleischten Zynikern wie mir das festgefrorene, stets auf Systemkritik gebürstete Herz schmolz und mich für einen erlösenden Moment stolz auf dieses Land und seine Menschen machte. Oder die Übersetzung dieser breiten Kultur der großen Gesten, in München verfolgt von den nationalen und internationalen Medien, die dort ihr zweites Sommermärchen nach der WM 2006 fanden, auf den unaufgeregten, leisen Alltag abseits vom Sensationalismus und Rampenlicht, als am 12. August des letzten Jahres im fränkischen Erlangen ein Busfahrer Geflüchtete und ihre Betreuer per Bordmikrofon mit den Worten " I have an important message for all people from the whole world in this bus. I want to say welcome. Welcome to Germany, welcome to my country. Have a nice day.” begrüßte und damit nicht nur aufzeigte, was es bedeutet Mensch zu sein, sondern Claus Kleber im "heute Journal" auch noch fast zu Tränen rührte.

Und hier liegt gerade der Unterschied. Denn auch wenn Erlangen und Clausnitz und Bautzen lediglich Momentaufnahmen sind, symbolisieren sie in meinen Augen dennoch die kulturellen Differenzen zwischen Ost und West in Sachen Menschlichkeit und Solidarität: Denn wie ist es möglich, dass sogar im nicht selten reaktionären und nicht unbedingt immer fremdenfreundlichen Bayern der christliche Wert der Nächstenliebe es vermag, ganz gewöhnliche Bürger zu mobilisieren, für Neuankömmlinge Gutes zu tun (sei es auch nur - wie in Erlangen - eigenmächtig und spontan einen lapidaren Willkommensgruß zu sagen), im gottlosen Sachsen hingegen, dem Epizentrum Dunkeldeutschlands, wo es scheinbar nur hell wird, wenn Geflüchtetenunterkünfte brennen, jede Woche fremdenfeindliche Aufmärsche durch ostdeutsche Städte wie Dresden, Leipzig und Potsdam ziehen, auf denen nicht nur Neuankömmlingen sturr und kindisch die Solidarität verweigert wird, sondern auch denen, die schon in dritter Generation hier leben (also die Mehrheit unserer Muslime) und damit weitaus länger als jeder Sachse oder Brandenburger?

Die hohe Prävalenz von Rassisten im Osten, seit PEGIDA insbesondere in Sachsen, hat zahlreiche Gründe, einer davon ist der demographische Unterschied des bereits angesprochenen fehlenden ethnischen Pluralismus in den östlichen Bundesländern im Vergleich zu Westdeutschland: Während auf jeden eingefleischten deutschen Rassisten im bevölkerungsreichen und multikulturellen Ruhrgebiet (erstaunlicherweise DIE Nazihochburg Westdeutschlands) womöglich 6 (Deutsch)türken, 3 (Deutsch)araber, 2 Afrodeutsche und 2 (Deutsch)asiaten und noch jede Menge Neu-Migranten kommen, steht dem gesamtgesellschaftlichen Rassismus im Osten nicht mal eine annähernd große Mehrheit von Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber, weder alteingesessen noch neuangekommen. Die neuen Bundesländer sind auch 25 Jahre nach ihrer Angliederung im Eilverfahren an die Bundesrepublik mehrheitlich homogen weiß geblieben. Kein Wunder: Denn welcher Migrant möchte freiwillig irgendwo leben, wo er nicht erwünscht ist? Da hilft auch die kosmetische Umbenennung sachsen-anhaltinischer Bürgerämter in "Welcome Center" auch herzlich wenig: Ausländerbehörden wird die Ehre einer Umbenennung in "Willkommenszentren" nicht zuteil; lieber wollte Bundesinnenminister de Maizière (CDU) so geplante Abfanglager in Nordafrika nennen, damit Geflüchtete erst gar nicht in die EU gelangen: verkehrte Welt, verlogenes Deutschland.

Die gescheiterte Integration von Migranten ohne Ortswechsel

Im Diskurs über Leitkultur und Deutschsein ist es daher bemerkenswert, dass die lautesten Stimmen gegen Ausländer, Ausländischstämmige, Geflüchtete und Muslime ausgerechnet von Menschen kommen, die nicht nur am wenigsten Kontakt zu Ausländern und Ausländischstämmigen, Geflüchteten und Muslimen haben, sondern auch von denen, die erst 1989/1990 eingewandert sind, und zwar ohne ihren Wohnsitz zu wechseln. Denn das ist ja das ulkigste Merkmal der "Wiedervereinigung" gewesen, dass ein ganzes Volk plötzlich eingebürgert wurde, ohne dass die Meisten jemals in dem neuen Aufnahmestaat gelebt hatten, obwohl sie schon immer dort gelebt hatten! Daher waren auch Ossis mal Ausländer, mit dem Unterschied, dass sie im Blitzverfahren eingebürgert wurden, (schneller als 1997 die Eileinbürgerung des Schotten Sean Dundees, damit er für den DFB spielen durfte). Wo war 1989/90 der "Schaffen-wir-das?-Diskurs" wie heute bei den Geflüchteten, obwohl ihre numerische Größe viel kleiner ist als damals beim Massenansturm der Ossis? Woher nehmen sich eine überproportional große Zahl an Ostdeutschen das Recht heraus, als ehemalige Ausländer, die stillschweigend und ohne an sie gerichtete Forderungskataloge integriert wurden (warum hat man vor den Beate Uhse-Filialen in West-Berlin, wo Ossimänner unmittelbar nach dem Fall der Mauer Schlange standen, keine Grundgesetzausgaben verteilt?), über andere Ausländer zu bestimmen und deren Integration an Bedingungen zu knüpfen? Bevor man Geflüchteten auf deterministische Unart vorwirft, sie würden sich kraft ihrer kulturellen Andersartigkeit per se nicht an deutsche Gesetze halten und man die deutsche Willkommenskultur des Münchener Sommermärchens nach der Silvesternacht von Köln mit erregten Wer-sich-nicht-an-unsere-Gesetze-hält-fliegt-raus-Parolen entwertet, sollte man diese Gesetze erst mal unseren östlichen "Mitbürgern", die wöchentlich mit ihrer Menschenverachtung durch ihre Innenstädte ziehen oder Häuser anzünden (was nicht nur Vandalismus oder Brandstiftung ist, sondern Terrorismus), beibringen. Türken, Arabern und Muslimen wird stets zu Unrecht vorgeworfen, sie wären integrationsunwillig und würden in Parallelgesellschaften leben: Dabei ist im Osten der Integrationsunwillen viel verbreiteter und existieren weitaus gefährlichere weil demographisch und geographisch weitaus größere Parallelgesellschaften als in Duisburg-Marxloh oder im Berliner Wedding.

Es sind immer die Anderen Schuld

Politik, Medien, Ausländer: Ein Wesenszug von Rassisten ist ihr Glaube, es seien immer die anderen Schuld. So auch in der Geflüchtetenfrage und beim deutschen Islamdiskurs. Dabei gibt es wenige politische Diskursfelder, wo eine Partei die alleinige Schuld für etwas trägt, wie etwa der israelisch-palästinensische Konflikt. Dieser ist ein deutliches Beispiel dafür, dass wirklich mal der Andere Schuld ist, und zwar Israel: Der selbsternannte Judenstaat hält bis heute Gebiete besetzt, zu dessen Rückgabe an die Palästinenser er schon 1967 nach dem Sechstagekrieg von der UN verpflichtet wurde. Wenn also Palästinenser sagen, Israel sei an dem Konflikt schuld, dann kann Israel nicht im Gegenzug sagen, die Palästinenser seien schuld, weil es nicht die Palästinenser sind, die völkerrechtswidrig israelische Gebiete besetzt halten, sondern umgekehrt. Schließlich kann man dem Besetzten nicht die Schuld für eine Besatzung geben!

Diese fulminante Täter-Opfer-Verkehrung ist auch das Wesensmerkmal des öffentlichen Geflüchtetendiskurses hierzulande: Die hohe Zahl an Ausländern ist Schuld am Rassismus, nicht der Rassist. Dabei sollte das Wir-Müssen-die-Sorgen-und-Ängste-der-Bürger-ernst-nehmen-Mantra als Staatsräson spätestens seit dem rechten Chaostag der HogeSa und dem Anschlag auf Oberbürgermeisterin Henriette Reker (beides im so zivilgesellschaftlich engagierten "Arsch-huh-Zäng-ussenander-Köln) und der schieren Anzahl rechtsextremer Anschläge auf Geflüchtetenheime und Moscheen (vor jeder jüdischen Einrichtung steht ein Polizist, wo bleibt der Polizeischutz für islamische Institutionen? Muss erst ein Völkermord passieren, bis eine Minderheit beschützt wird?) vollends ausgedient haben. Denn dieses zur politischen Arbeitsweise erhobene Idiom des selektiven Verständnisses nicht nur seitens bürgerlicher Großparteien, sondern auch aus Teilen der linken Opposition (siehe Sahra Wagenknechts rassistische "Gastrecht"-Äußerungen, getätigt ausgerechnet von einer Person, deren iranischer Vater als Student in West-Berlin selbst "Gast" war) hat rechte Gesinnung nicht nur beflügelt, sondern ihr ein staatliches Gütesiegel verpasst, mit dem Endergebnis: An Rassismus sind die rassistisch Behandelten schuld, nicht die Rassisten; es ist OK, die eigene Schuld einfach an Dritte auszulagern. Einzelne Kommentatoren, wie der prominente Netzaktivist Sascha Lobo, haben diese Täter-Opfer-Umkehrung bereits scharf kritisiert (siehe unten); spätestens seit Clausnitz und Bautzen scheint nun auch die Politik endlich Notiz davon zu nehmen, dass gesellschaftliche Loser vielleicht doch Arschlöcher sind, wenn sie ihr Losertum an Unschuldigen rauslassen; und legen daraufhin, wie etwa Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU), der die Kultur der Menschenverachtung in seinem Bundesland seit der Geburt von PEGIDA anderhalb Jahre lang stillschweigend toleriert hat, ideologische 180 Grad -Wendungen hin: nicht aus Fehlererkenntnis, sondern lediglich, um die eigene politische Haut zu retten.

Wider der Psychologisierung von Menschenverachtung: Sascha Lobos Begriff des "Arschlochverhaltens" als wissenschaftliche Kategorie

Sind Rassisten die Opfer, zu denen Politiker sie oft überhöhen, oder wirklich nur Arschlöcher? Vor einigen Jahren im Rahmen meines Bachelorstudiums der Area Studies wurde in einem Seminar zum Völkermord in Ruanda ein Text diskutiert, der die Psychologie hinter dem Genozid der Hutu-Mehrheit an der Tutsi-Minderheit analysierte: Karen Krügers "Worte der Gewalt: Das Radio und der kollektive Blutrausch in Rwanda 1994" vertritt die These, dass das "Hass-Radio" RTLM die Gewalt initiierte, "deren Dynamik in ihrer letzten Konsequenz in einen kollektiven Blutrausch mündete." Die psychologischen Mechanismen hinter diesem "kollektiven Blutrausch" veranschaulicht die Autorin ausführlich, und kommt zu folgendem Schluss:

"RTLM veränderte den Rahmen der Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit und zeichnete eine Realität, in der die Abatutsi zum ultimativen Gegner erklärt wurden. Jeder Umututsi wurde zu einem potenziellen Gewalttäter stilisiert. Um nicht Opfer zu werden, bedurfte es der Täterschaft."

Es ist insbesondere der letzte Satz, der mir heute noch aufstößt, denn er entmächtigt die Täter ihrer Eigenverantwortlichkeit. Bei der Diskussion im Plenum damals vertrat ich daher die Meinung, dass man den Völkermord an den Tutsis gar nicht so hochtrabend durch Psychogramme und soziologische Ansätze erklären müsse, sondern die Erklärung viel naheliegender sei: es habe sich bei den Menschen, die am Völkermord teilnahmen, schlichtweg um Arschlöcher gehandelt. Menschen, die massakriert haben, nicht weil sie es nicht besser wussten, sondern weil sie es aktiv wollten. Denn wenn man ein Leben auslöschen will, dann reicht es, wenn man jemanden mit einigen gezielten Messerstichen oder einer Kugel trifft: Der unsägliche Barbarismus in der Ausübung des ruandischen Genozids, wo Hutu-Banden der Interahamwe-Miliz in der Hauptstadt Kigali Straßensperren errichteten, flüchtende Tutsis aus ihren Autos zerrten und mit pangas (Macheten) zu Tode hackten, um nur eine der 1994 angewandten Massentötungsmethoden zu nennen), zeigt, das er auch vom Volk und nicht nur von der politischen Führung beabsichtigt und gewollt war. Auch wenn ein Hassradio tagein tagaus die Tutsis als inyenzis (Kakerlaken) bezeichnete, die ausgerottet werden müssten, lag die Eigenverantwortlichkeit und Entscheidungsgewalt trotzdem bei einem selber: Man hätte, so einfach und naiv das auch klingen mag, das Radio einfach ausmachen oder den Sender wechseln können (Propaganda braucht stets willfährige Ohren). Ein Mehrzahl der Hutus tat dies nicht, und ließ sich aufgrund ihrer Ängste und historischen Vorurteile bereitwillig indoktrinieren: Diese Vorsätzlichkeit machte sie in meinen Augen nicht zu unschuldigen Opfern, sondern zu schuldigen Tätern, und somit zu Arschlöchern.

Auch wenn meine "Arschlochtheorie" damals zur allgemeinen Belustigung beitrug, mussten mir die Dozentin und auch Kommilitonen ihr eine gewisse Legitimität attestieren. Umso erfreuter war ich, als am 27.08.15 bei Maybrit Illner unter dem Titel "Fluchtpunkt Deutschland - Zwischen Hilfe und rechter Gewalt" Sascha Lobo auf die Frage einer Fernsehzuschauerin, die angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen Angst habe und sich frage, ob Deutschland das aushalten könne, die folgenden Worte sagte:

"Ich möchte das mal positiv bemerken, dass sie sich vergleichsweise zivilisiert äußert. Die gleichen Ängste werden im Netz für jeden sichtbar häufig in einer sehr radikalen Art geäußert, also so, dass es keine Ängste mehr sind, sondern schlichtes Arschlochverhalten."

Lobo, der viel eloquenter ist als ich, hat sich mit dieser Äußerung zu meiner hellen Freude nicht nur als Anhänger meiner "Arschlochtheorie" geoutet, sondern auch mein Unverständnis über den kausalen Zusammenhang zwischen Angst und Rassismus geteilt, den ich in einem älteren Community-Beitrag versucht habe als Chimäre zu entlarven: Denn wer Angst hat, verkriecht sich, oder wehrt sich gegen Angriffe; die Ausübung aktiver Gewalt hingegen (auch verbaler), also keiner defensiven Handlung, sondern einer angreifenden, erfordert Willen und Mut.

Auch wenn der Begriff "Arschloch" kein wissenschaftlicher ist: Das Verhalten dahinter, also der Vorsatz der Menschenverachtung, sollte als eigene Kategorie Eingang in Rassismusdiskurse finden, von mir aus unter neutralerem, auditiv angenehmerem Namen, statt eine bewusst vorsätzliche Handlung durch psychologische und soziologische Sperenzchen als unbewusst und fahrlässig umzudeuten.

Liebe Versager: Es liegt an Euch!

Um zum Schluss zur Angry-White-Men-These zurückzukehren: sowohl bei der bis 2042 zur numerischen Minderheit geschrumpften und heute schon hauchdünnen weißen Mehrheit der USA als auch bei den vom eigenen Leben frustrierten PEGIDA-Anhängern und mittelständischen Verlierern der AfD: Ihr Hass auf Fremde ist nichts anderes als das passiv-aggressive Eingeständnis ihres existentiellen Scheiterns und des ihres zurecht überholten Weltbildes. Daher treten sie mit ihren menschenverachtenden Montagsdemos, ihren Molotovcocktails auf Geflüchtetenheime und ihrer Hasspropaganda im Netz die auswegslose Flucht nach vorne an. Doch mit ihren wehenden Fahnen werden diese Verlierer, Verlierende und Verlustangsthasen in unserer globalisierten Welt untergehen, weil sie zwei fundamentale Dinge nicht begriffen haben: dass sie nicht zu bestimmen haben, was Deutschland ist, wer hier rein darf, und wer dazugehört; und das die Einzigen, die an ihrem eigenen Versagen die Schuld tragen, nicht Geflüchtete, Einwanderer, "Hyphenated Germans", Muslime und andere Drittparteien sind, sondern verdammt noch mal sie selbt. Die eigene sozioökonomische oder/und identitäre Prekarität ermächtigt nicht zur Anfeindung gegen Andere, die mit sich selbst im Reinen sind, oder zumindest ihre Probleme nicht an Anderen auslassen (und sich entgegen allen Vorurteilen auch noch erfolgreicher an unsere Gesetze halten). Denn das ist nichts anderes als die Auslagerung von Selbstreflexion und Eigenverantwortung: so verhalten sich Kinder und keine erwachsenen Menschen. Und wie es im Teaser zu Kimmels Buch prophetisch heißt:

"The choice for angry white men is not whether or not they can stem the tide of history: they cannot. Their choice is whether or not they will be dragged kicking and screaming into that inevitable future, or whether they will walk openly and honorably – far happier and healthier incidentally – alongside those they’ve spent so long trying to exclude."

Ein guter Rat: auch für die Versager und Arschlöcher in unserem Land. Beherzigt ihn!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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