Das MiGAZIN: Meinungskonsens in Germany?

Zensur von Israelkritik Ein offener Brief an das "Fachmagazin für Migration und Integration" MiGAZIN, das die Veröffentlichung eines Beitrags von mir wegen seiner Israelkritik abgelehnt hat

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Zur Vorgeschichte siehe In Germany, even BAME-run media submissively adhere to the country's Zionist dictate of silencing Palestine“ in der britischen Online-Publikation The Muslim Vibe, https://themuslimvibe.com/muslim-current-affairs-news/islamophobia-news-stories/in-germany-even-bame-run-media-submissively-adhere-to-the-countrys-zionist-dictate-of-silencing-palestine.

Der israel- und israeldiskurskritische Beitrag, um den es sich handelt, ist in der US-amerikanischen Online-Publikation The Palestine Chronicle unter dem Titel German Hypocrisy: The Left and Israel“ erschienen, https://www.palestinechronicle.com/the-left-and-israel/.

Der ursprüngliche an MiGAZIN eingesendete Beitrag enthielt auch nichtisraelbezogene Kritik am deutschen Antirassismusdiskurs. Diese findet sich unter folgendem Beitrag: Linker Antirassismus: Lehrstück in Heuchelei?“ , https://www.freitag.de/autoren/talrooq/linker-antirassismus-lehrstueck-in-heuchelei.

Die folgende e-Mail wurde von mir am 18. Juni 2020 an die Redaktion von MiGAZIN gesendet. Trotz einer umgehenden Antwort, in der es hieß, man würde auf meine „ausführliche Kritik” zurückkommen, ist dies bis heute nicht geschehen. Hier nun die Veröffentlichung meiner e-Mail als offener Brief:

Liebe M**** [Name der zuständigen Redakteurin],

bin Euch nicht böse, aber ziemlich enttäuscht von Eurer Entscheidung. Man hätte diesen Beitrag auch in gekürzter und abgeschwächter Form bringen können. Dass Ihr ihn trotzdem nicht gebracht habt aus den von Dir genannten Gründen verstehe ich aus Eurer Perspektive auch nur ansatzweise: denn wenn das MiGAZIN „nicht das richtige Medium für dieses Thema ist“, wie Du sagst, wo gehört Rassismuskritik und Antirassismus dann hin?

Auch die in meinem Beitrag enthaltene Kritik an Israels Unterdrückung der Palästinenser und am deutschen Israeldiskurs — so unbequem das für weiße Deutsche mit ihrem halbgaren Schuldkomplex auch sein mag — IST ANTIRASSISTISCH.

“Das MiGAZIN bietet eine ganz andere Angriffsfläche bei diesem Thema als Medien, die aufgrund ihres Hintergrundes und ihrer personellen Zusammensetzung nicht von vornherein im Verdacht stehen, antisemitisch zu sein”, habt Ihr mir geschrieben.

Soll heißen: Deutschland ist so zerebral rassistisch und islamfeindlich, dass Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, wie Ihr es beim MiGAZIN unter anderem seid, für die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft schon qua natura Antisemiten sind. Merkt Ihr, wie beleidigend das ist? Und Ihr findet Euch mit dieser rassistischen und verleumderischen Pauschalvorverurteilung einfach ab?

Im Endeffekt macht auch Ihr mit Eurer Ablehnung, meinen Beitrag — auch Teile davon — zu veröffentlichen, obwohl Eurer Meinung nach „der Text sehr gute und starke Passagen hat, die wir sehr gerne gebracht hätten“, nichts anderes, als vor einer zentralen Säule des weißen deutschen Leitkulturkonsenses zu kuschen: blinde Israelgefolgschaft. Für eine Publikation, die eigentlich meine Perspektive vertreten soll (und mit „meine” meine ich die der überwältigenden Mehrheit „migrantischer” Menschen in Deutschland), scheinen Eure Hauptzielgruppen am Ende des Tages dann doch die Moritze und Anjas dieses Landes zu sein statt die Murats und Aylins.

Ich kann verstehen, dass Redaktionen, die von weißen Deutschen geführt werden und fast ausschließlich von weißen deutschen Redakteuren bevölkert sind, diesen Beitrag mit explizitem Verweis auf die Israelkritik als Grund ablehnen. Von denen erwarte ich nichts Besseres. Aber das MiGAZIN, dessen Herausgeber türkischstämmig ist? Steht das M in MiGAZIN noch für “Migration” oder mittlerweile doch für “Mimikry” oder “Meinungskonsens?” Come on, you’re better than that!

Ihr findet, dass mein Beitrag “viel mehr Wirkung entfalten kann, wenn es in ‘anderen’ Medien erscheint” statt im MiGAZIN? Ich finde, die größte Wirkung entfaltet ein Beitrag nicht in einem Medium, dessen Leser und Leserinnen sowieso der Meinung des Autors oder der Autorin sind, sondern dort, wo diese auch mal anderer Meinung sind und der Beitrag sie zum (selbst-)kritischen Denken anregt. Daher halte ich Euer Argument für einen groben Unfug, an den Ihr vermutlich selbst nicht dran glaubt.

Ich hätte Euch auch gerne eine überarbeitete Version des Beitrags nachgereicht, doch habe ich den Eindruck gewonnen, Ihr wollt in Eurer Angepasstheit das “heiße Eisen” Palästina/Israel nicht einmal mit Ofenhandschuhen anfassen. Dabei könntet gerade Ihr als Sprachrohr “migrantischer” Deutscher einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass endlich Schluss ist mit dieser weißen deutschen Unart gefügiger Selbstzensur von Kritik, sobald diese sich gegen Israel richtet.

Es ist kein Wunder, dass sich in Deutschland nie etwas nachhaltig verändert und Menschen wie Ai Weiwei schon nach kurzer Zeit das Weite suchen in Richtung England, weil sie Deutschland so unbeschreiblich zurückgeblieben und unverbesserlich finden. In den USA fordern People of Color und deren “white allies” zur Zeit Obrigkeiten und rassistische Strukturen heraus in einem noch nie gekannten Maße, mit zum Teil SOFORTIGEM Erfolg; im obrigkeitshörigen Deutschland hingegen, wo Weiße selten “allies”, sondern stets Bevormunder sind, bekommt man nicht mal einen antirassistischen Artikel veröffentlicht, wenn er zu israelkritisch ist.

Ihr als “migrantisches” Magazin macht da auch noch mit bei diesem Kotau vor hegemonialen Narrativen von Weißen für Weiße. Dabei gibt es in Israel sogar mehr Freiraum, Israel zu kritisieren, als in Deutschland, wie ein Haaretz-Journalist jüngst mit Erstaunen feststellen musste, als er einen Artikel über linksfaschistische Antideutsche recherchiert hat.

Deswegen reden wir in Deutschland seit Jahren auch immer wieder über ein- und dieselben Sachen: Gehört der Islam zu Deutschland? Sind wir eine multikulturelle Gesellschaft? Sollen Lehrerinnen Hijab tragen dürfen? Hat Deutschland ein Rassismusproblem? UK, Kanada, Neuseeland und sogar die derzeit von Aufständen gegen rassistische Polizeigewalt heimgesuchten strukturell rassistischen USA sind da um Lichtjahre weiter.

Wir kommen in Deutschland unter anderem auch nicht vorwärts, weil “migrantische” Stimmen wie Ihr es seid nicht ausreichend selbstbewusste Akzente setzen. Narrativgestaltung ist sowieso schon primär weißen Deutschen vorbehalten. Wenn dann auch noch Ihr als „migrantisches“ Magazin ihnen freiwillig die Diskurshoheit überlasst und nach deren Leitkulturpfeife tanzt, haben die eh schon gewonnen.

Ich habe mir nochmal drei Meinungen eingeholt nach Eurer Absage-e-Mail: eine palästinensische, eine afrodeutsche und eine jüdische. Alle drei meiner Freundinnen fanden, Ihr hättet diesen meinen Beitrag in irgendeiner Form bringen sollen, besonders da Ihr ja vorgebt, die “migrantische” Perspektive zu vertreten. Und die afrodeutsche Freundin von mir, eine Doktorandin der afrikanischen Geschichte, fand meinen Genozid-in-Ruanda-Holocaust-Vergleich äußerst wichtig und bat mich sogar eindringlich, ihn nicht herauszunehmen. Ist sie jetzt eine Antisemitin?

Dass ihr diese Kritik am holocaustschen Singularitätsprinzip rausgenommen hättet, zeigt mir, dass auch Ihr als „migrantisches“ Magazin dieser weißen deutschen Unart folgt (wenn auch nur aus mehrheitspolitischem Druck), Opfer rassistischer Völkermorde zu hierarchisieren und jüdisches Leid über schwarzes Leid zu stellen, wie ich es in meinem Beitrag am verlogenen deutschen Vergangenheitsbewältigungsdiskurs kritisiert habe.

Was alle drei meiner Freunde auch noch gemeinsam haben (und das ist mir erst später aufgefallen): alle drei kommen aus Deutschland, sind aber an irgendeinem Punkt in ihrem jungen Leben nach England gezogen. Und alle drei finden den deutschen Rassismus und die unterentwickelte deutsche Rassismusdiskurskultur so unaushaltbar und geistesgestört (ähnlich dürften das auch der oben erwähnte Ai Weiwei und — der Vollständigkeit halber — Mesut Özil gesehen haben), dass sie ihre Auswanderung keineswegs bereuen.

Wieso sollten sie das auch? England ist kein Land, in dem “Migranten” sich permanent der weißen Herrschaftsmeinung unterordnen müssen und nur innerhalb dieser Vorgaben den Mund aufmachen dürfen. In Deutschland ist das leider anders: da sollen “Migranten” schön die Klappe halten und dankbar dafür sein, dort sein zu dürfen. Und werden sie zu kritisch, werden sie gegaslightet bis zum get no.

Dass ausgerechnet ein zur Zeit konservativ regiertes Anti-Einwanderung-Britannien das präferierte Aufnahmeland von Rassismusflüchtlingen aus Deutschland ist, spricht Bände über den erbärmlichen Zustand des Multikulturalismus in meinem Geburtsland. Ein indischstämmiger Finanzminister, eine indischstämmige Innenministerin, Londons pakistanischstämmiger Bürgermeister: das ist Diversität und Inklusion, davon können die Türken als nachkriegshistorisch größte Minderheit in Berlin und Deutschland nur träumen, während sie verzweifelt gegen die weiße deutsche Glasdecke sozialer Immobilität und rassifizierter Exklusion hämmern.

Kritik am inhärenten Rassismus Deutschlands darf nur geübt werden, solange nicht an den Basics gerüttelt wird: weiße deutsche Leitkultur und uneingeschränkte Solidarität mit Israel, egal wie systematisch und straffrei der selbsternannte „Judenstaat“ (ist eine solche exklusive und ethnonationalistische Selbstdefinition nicht auch rassistisch?) Menschenrechte verletzt und Kriegsverbrechen begeht und diese stets mit einem unausgesprochenen Verweis auf den Holocaust legitimiert.

Auch Ihr beim MiGAZIN scheint Euch leider an diese strikten scheinheiligen Diskursvorgaben zu halten, die strukturellen gesellschaftlichen Wandel in Deutschland unmöglich machen.

Diese deutsche Stagnation und Unverbesserlichkeit ist es, weshalb auch ich die Bundesrepublik in Richtung Britannien verlassen habe letztes Jahr. Dort muss man sich als „migrantische“ Person nicht verbiegen, um im Leben weiter zu kommen. Und die Leute machens auch nicht. Deswegen werden sie von ihren weißen britischen Mitbürgern auch ernster genommen als PoCs hier in Deutschland, die nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz buchstäblich geduckt durch die Gegend rennen (achtet mal drauf, es ist faszinierend, was für einen Einfluss struktureller Rassismus auf die Körperhaltung und Körpersprache von ethnischen Minderheiten in Deutschland hat).

Eines der ersten Dinge, die einem in London auffällt: dass PoCs auf der Straße allesamt erhobenen Hauptes ihren Tagesgeschäften nachgehen: mit einem Selbstbewusstsein, wovon „Migranten” in Deutschland, die sich mit ihrer unterwürfigen Rolle schon lange abgefunden haben, auch wieder nur träumen können.

In Deutschland kommt man nur als „Guter Ausländer“ weiter. Und „Guter Ausländer“ fasst nach diesem Austausch mit Euch bezüglich der Veröffentlichung bzw. Nichtveröffentlichung meines Beitrags leider auch meine gegenwärtige Meinung zu Eurer Publikation zusammen. Ihr habt Euch meiner Ansicht nach in dieser Angelegenheit statt für migrantische Selbstbestimmung für die Onkel-Tom-Lösung entschieden. Und das ist ganz schön traurig.

Kindern bringt man stets bei: „Sei du selbst! Achte nicht drauf, was andere von Dir denken!” Dass Euch wichtiger ist, ob Almans Euch für Antisemiten halten statt mutig „Euer Ding” zu machen, ist sinnbildlich für die unerwachsene und fremdbestimmte Diskurskultur in Deutschland, in der es ausschlaggebender ist, was Andere (und damit meine ich Weiße) von einem denken mögen, statt was man selbst denkt und zu sagen hat. Es gibt auch ein anderes Wort für dieses typisch linksliberal und bürgerliche urdeutsche Phänomen des Nichtaneckenwollens: Feigheit.

Wie dem auch sei: Ich danke Dir trotzdem für Deine Zeit liebe M**** und schicke Euch irgendwann dann gerne wieder einen Beitrag, der es nicht wagt, am Konsens weißer deutscher Vorherrschaft zu rütteln, damit ja niemand Euch, denen per Grundgesetz die gleichen unveräußerlichen Rechte zu stehen wie weißen Deutschen auch, für antisemitisch halten kann.

“Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden” heißt es in Artikel 3 unserer Verfassung. Das sollte auch “migrantische” Menschen einschließen, die Israel kritisieren wollen.

Sollte Euch ernsthaft an echter Diskurskultur und Meinungsvielfalt gelegen sein, dann verseht Ihr diese Mail mit einer kontextualisierenden Einleitung und veröffentlicht sie auf Eurer Seite. Ich finde, die Leute sollen wissen, wie schlecht es in Deutschland um die Meinungs- und Pressefreiheit bestellt ist, wenn sogar ein angesehenes “migrantisches” Magazin wie Ihr es seid legitime “migrantische” Perspektiven auf Antirassismus aus Angst vor rassistischen Antisemitismusvorwürfen nicht veröffentlichen kann, darf, oder möchte.

Da muss man auch kein Lügenpresse-auf-die-Fresse-Rechter sein, um das zu bemängeln.

Freue mich über eine Rückmeldung und liebe Grüße,

Timo Al-Farooq

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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