Das Wunder vom Golf

Katar/AFC Asien Cup 2019 Katar kann keinen Fußball? Der Ausrichter der WM 2022 steht nun im Finale des Asien-Cups. Was das auch über deutsche Arroganz und globale Machtverhältnisse aussagt

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Relativ abseits des deutschen Medieninteresses hat sich vergangenen Dienstag am Persischen Golf ein kleines sportliches Wunder ereignet: bei der Fußballasienmeisterschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) hat ausgerechnet Katar unter widrigsten Bedingungen innerhalb und außerhalb des Stadions den Gastgeber mit einem demütigenden 4:0 besiegt und steht zum ersten Mal in seiner Geschichte im Finale des Turniers.

In einem nicht nur sportlich brisanten Halbfinale in der Hauptstadt Abu Dhabi, zu dem - wie zuvor schon bei den vorherigen Spielen - aufgrund der mittlerweile anderthalb Jahre andauernden saudisch-emiratisch geführten Luft, -Land- und Seeblockade gegen den Nachbarn (dem ausgerechnet Saudi Arabien, die Heimat von 9/11 Architekt Osama bin Laden und 15 der 19 Todespiloten Terrorunterstützung unterstellt) keine katarischen Staatsbürger einreisen durften, wurde darüber hinaus die katarische Nationalhymne von Pfiffen und Buhrufen begleitet und flogen Flaschen und Schuhwerk auf die katarischen Spieler.

Die aggressive, anti-katarische Stimmung auf den Rängen schwappte schnell aufs Spielfeld über und fand ihren Höhepunkt in der 89. Minute beim Stand von 0:3 aus Sicht der Gastgeber, als der Emirati Ismael Ahmed für einen Ellbogen-Check gegen einen katarischen Spieler nach Prüfung durch den Videoschiedsrichter die glattrote Karte sah. Trotz allem bewies die Mannschaft vom spanischen Trainer Félix Sánchez Bas bei diesem "Blockade-Derby", wie Medien das Match zuvor getauft hatten, einen ruhigen Kopf und Siegeswillen, Teamgeist und sportliches Temperament, und versprühte mit vier wunderbar herausgespielten Toren auch noch interkontinental konkurrenzfähigen, fußballerischen Glanz.

Während das katarische Team sich nun auf das Finale gegen Japan am kommenden Freitag vorbereitet, hat der asiatische Fußballverband AFC eine Untersuchung zu den unsäglichen Vorkommnissen des vergangenen Spieltages eingeleitet. Darüber hinaus steht auch der Vorwurf im Raum, emiratische Entitäten hätten im Auftrag der Regierung das Gästekartenkontingent aufgekauft, die Tickets unter die eigenen Fans verteilt und somit aktiv zur aufgeheizten aggressiven Stimmung beigetragen.

La Masia in der Wüste

Völlig überraschend ist Katars Achtungserfolg jedoch nicht: Denn er ist keineswegs ein Zufallsprodukt, sondern logische Konsequenz einer mühsamen Evolution, die bereits im Jahr 2004 ihren Anfang nahm: Mit der Eröffnung der Aspire-Akademie, einem der modernsten Sport-Nachwuchsleistungszenten der Welt, wurde bereits damals der Grundstein für eine rasenballsportliche Entwicklung sondergleichen gelegt. Auch der FC Bayern hat den Standortvorteil des Emirats Katar erkannt und hat erst kürzlich wieder seine Wintervorbereitung auf die Bundesliga-Rückrunde in diesem hypermodernen Trainingskomplex westlich der Hauptstadt Doha abgehalten.

In dieser "La Masia in der Wüste" (La Masia ist die weltberühmte Jugendakademie des FC Barcelona) werden seither junge Talente mit den innovativsten Trainingsmethoden und -technologien ausgebildet, die man sich für Geld kaufen kann: Juwelen wie der 22-jährige sudanesischstämmige Stürmer Almoez Ali, der im Halbfinale das 2:0 schoss und mit acht Toren im laufenden Wettbewerb zu Buche geht. Oder der gleichaltrige Akram Afif, der beim spanischen Erstligisten FC Villareal unter Vertrag steht und derzeit an seinen Heimatklub Al Saad aus Doha verliehen ist. Beide sind Teil einer hausgemachten Generation an Perspektivspielern, geadelt mit dem Made-in-Qatar-Qualitätssiegel.

Zusammen mit älteren Teamkollegen wie dem 28-jährigen Mittelfeldroutinier Abdulaziz Hatem, der im Viertelfinale gegen Südkorea das späte Siegtor schoss, ist hier ein Kollektiv entstanden, über das Nationaltrainer Sánchez Bas während der Vorbereitung auf das Turnier sagte, es funktioniere gut und er sei glücklich mit dem Fortschritt, den die Mannschaft mache."

Dass der FC Barcelona bei der Entwicklung des katarischen Fußballs Pate stand, ist unverkennbar: Sánchez Bas, gebürtiger "barcelonés", war in einem früheren Leben Jugendtrainer bei den Katalanen. 2006 heuerte er bei Aspire an, wo er 2013 die U19 übernahm, mit der er im folgenden Jahr die U19 Asienmeisterschaft gewann.

Auch bezeichnend für den Einfluss der Ausbildungsphilosophie des FC Barcelona auf Aspire ist die Tatsache, dass die führenden Mitarbeiter unterhalb der Management-Etage, etwa in den Bereichen Koordination und Scouting, allesamt Spanier und Niederländer sind: Wer sich mit europäischer Fußballgeschichte auskennt, der wird um den orangenen Einfluss beim katalanischen Hauptstadtklub wissen, der seine Lehr-und Spielkultur in den 1970ern von Ajax Amsterdam importierte, auch dank eines aufkeimenden Weltstars namens Johan Cruyff, der den FC Barcelona und den niederländischen Fußball prägen sollte wie niemand zuvor.

Was Katar also im Hexenkessel des Mohammed Bin Zayed Stadions in Abu Dhabi zustande gebracht hat, hat nicht nur einen nicht minder erfolgreichen Vorlauf, sondern war auch irgendwie abzusehen. Und ist darüber hinaus vom Karriereweg der Aspire-Azubis 1:1 vergleichbar mit der Evolution der Goldenen Generation der Blaugrana aus Barcelona um Xavi und Iniesta, Pique und Puyol, die alle Jugendmannschaften durchliefen, um 2008 unter Pep Guardiola alle sechs national und international zu holenden Titel gewannen und das Herzstück der aufeinanderfolgenden spanischen WM- und EM-Triumphe 2008, 2010 und 2012 bildeten.

Hierzu passt auch, dass Katar’s erstes Engagement im internationalen Spitzenfußball ausgerechnet nach Barcelona geführt hat: 2010 als Trikotsponsor des Vereins (erst mit der Non-Profit-Organisation Qatar Foundation, dann mit Qatar Airways), der auch immer "mes que un club" war, weil er sich bis dahin vehement geweigert hatte, die Brust seiner Spieler für Firmenwerbung zweckzuentfremden, und lieber ehrenamtlich der Kinderhilfsorganisation UNICEF dieses Privileg zuteil werden ließ.

A gift that keeps on giving

Allein der Sieg des hierzulande unliebsamen WM-Diebes Katar über Südkorea müsste jedem eingefleischten DFB Fan und saisonalen Partynationalisten säuerlich aufgestoßen sein. Zur Erinnerung: Südkorea war jenes Team, das Deutschland schon in der Vorrunde aus dem Turnier gekickt hatte. Was sagt das über den Zustand des deutschen Fußballs aus, wenn der Deutschlandbezwinger selbst aus einem Turnier geschossen wird, und das auch noch von einem Underdog? Katar kann nicht kicken? Nach dessen Sieg über Südkorea müsste das Narrativ neu erzählt werden: Es ist wohl eher das erfolgsverwöhnte, arrogante Deutschland, das nicht mehr das Runde ins Eckige zu befördern weiß, wie man auch ganz gut in der aktuellen UEFA Nations League beobachten konnte.

Ganz zu schweigen von der späten Genugtuung über eine weiteres Nachtreten des sogenannten Fußballgottes, (der jetzt wohl ein islamischer ist, Allah sei Dank!), auf das rassistische Anti-Özil Fußballdeutschland, das es sich im Sommer 2018 mit zelotischem Eifer nicht nehmen ließ, einen international gefeierten Weltstar und einen ihrer wichtigste Akteure mit hemmungslosem Sadismus zu mobben und der - anders als der türkischstämmige Schwede Jimmy Durmaz, der sich ähnlichen Anfeindungen von den eigenen angeblichen "Fans" ausgesetzt sah - nicht einmal vom Kollektiv seiner eigenen Teamkollegenin Schutz genommen wurde.

Das ist ausgleichende Gerechtigkeit im Langzeitabo: Deutschlands berechtigte WM-Schmach wahrlich "a gift that keeps on giving", wie es im Englischen so schön heißt.

Traditionen fallen nicht vom Himmel

Zur Erinnerung: Eines der Kernargumente hierzulande gegen Katars Ausrichtung der WM lautet nach wie vor: es sei kein "traditionelles Fußballland", was immer das bedeuten mag. Wer legt fest, ab welcher Zeitspanne etwas verdient, "traditionell" genannt zu werden? Oder ist Tradition an Qualität gekoppelt, im Sinne von sportlichem Erfolg, national wie international? Oder gar an Quantität, gemessen daran, wie viele Menschen in einem Land Fußball spielen, egal wie gut? Kroatien ist nach kerneuropäischer Lesart wohl auch kein "traditionelles Fußballland", stand bei der WM in Russland jedoch überraschenderweise im Halbfinale und belegt aktuell auf der FIFA Weltrangliste der Männer einen beachtlichen vierten Platz.

Traditionen können genauso wenig statistisch vermessen werden wie sie sich zeitspannentechnisch eingrenzen lassen. Sie fallen auch nicht vom Himmel, sondern haben einen Ursprungspunkt, von dem aus sie sich entwickeln, um retroakiv dann als solche wahrgenommen und benannt zu werden.

Hassan al-Thawadi, der Vorsitzende des katarischen WM-Organisationskomitees, sagte kürzlich dem BBC am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos, er sähe die WM 2002 in Japan und Südkorea als Vorbild für Katar: "Schauen Sie sich jetzt an, wo ihre Mannschaften und Ligen nach der Ausrichtung jenes Turniers heute stehen. Zweifelsohne wird auch Katar einen solchen Knock-On-Effekt erleben." Im Falle Katars, wo seit Aspire und im Zuge der WM die Fußballbegeisterung von jung und alt, ob Einheimischer oder Expat, unaufhaltsam weiterwächst, hat dieser Knock-On-Effekt mit dem bis dato größten sportlichen Erfolg der katarischen Nationalmannschaft beim Halbfinale in Abu Dhabi bereits heute begonnen.

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Willkommen in der multipolaren Welt

Fußball ist ein globaler Sport, kein europäisches und südamerikanisches Monopol, wie es nicht wenige in Deutschland gerne hätten. Die FIFA - bei aller berechtigten Kritik gegen die Organisation - hat wenigstens diesen Grundgedanken der globalen Teilhabe verstanden, egal aus welchen finanziellen Hintergedanken; der (all)gemeine deutsche Fußballfan, der sich bis heute im Namen eines abstrusen Traditionsgedankens über die Internationalisierung von europäischen Spitzenligen ärgert und für die Beibehaltung von überholten, isolationistischen Konzepten wie 50+1 auf die Barrikaden geht, als stünde die Existenz von Staat und Volk auf dem Spiel, bis heute nicht.

Dabei täte auch dieser gut daran, sich an die neuen multipolaren Machtverhältnisse - in der internationalen Politik wie auch im globalen Sport - zu gewöhnen: ein Prozess, der schon bei der WM in Südafrika begonnen wurde (der ersten WM auf dem afrikanischen Kontinenten), über Russland geführt und 2022 in Katar eine weitere logische Wegmarke in einer längst überfälligen emanzipatorischen Entwicklung passieren wird. Ein Meilenstein, den die katarische Nationalmannschaft während des gesamten Asien-Cups und natürlich beim Wunder von Abu Dhabi auch sportlich untermauert hat.

Sollte Katar am kommenden Freitag im Finale gegen Japan verlieren (Anstoß 15.00 MEZ im Zayed Sports City Stadium in Abu Dhabi), bleibt es trotzdem der ganz große Gewinner des Turniers. Denn bereits jetzt - vier Jahre vor Austragung des beliebtesten Sportereignisses der Welt im eigenen Land - hat es in aller Deutlichkeit - und Bescheidenheit! - allen Unkenrufern und Kritikern hierzulande Lügen gestraft.

2022 kann kommen. Yallah Qatar!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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