Quo Vadis, Qatar?

Katar Das Narrativ fehlender Fußballkultur hat ausgedient: Katar ist Asienmeister 2019. Welche sportliche und geopolitische Bedeutung hat das für die WM 2022 im eigenen Land?

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Vor wenigen Wochen hatte kaum jemand sie auf dem Schirm, jetzt werden sie liebevoll "The Maroons" genannt: die im bordeauxroten Heimdress spielenden Herren der katarischen Fußballnationalmannschaft wurden am vergangenen Freitag nach einem souveränen 3:1 Sieg gegen Japan zum neuen Asienmeister gekürt.

In einem spannenden Turnier in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) setzte sich die von dem Spanier Félix Sánchez Bas trainierte Mannschaft souverän und unter schwierigsten geopolitischen Bedingungen in der K.O.-Runde gegen den Gewinner von 2007 Irak, Deutschland-Bezwinger Südkorea, den Gastgeber und schließlich gegen die Japaner durch, um den größten Triumph der jungen katarischen Sportgeschichte zu feiern. Und das ausgerechnet in jenem Land, das seit Juli 2017 zusammen mit Saudi Arabien, Bahrain und Ägypten einen diplomatischen und wirtschaftlichen Boykott gegen den Ausrichter der WM 2022 verhängt hat.

Wie konnte Katar diesen Achtungserfolg einfahren? Und was bedeutet er für die Golfkrise, insbesondere im Hinblick auf die Austragung der ersten Weltmeisterschaft in der arabischen bzw. muslimischen Welt?

Ein Sieg mit System

Der katarische Sieg war kein Betriebsunfall, sondern mühsames und geduldiges Stückwerk: 15 Jahre hat es gedauert, bis die Saat, die mit Gründung der treffend benannten Aspire Academy im Jahre 2004 westlich der Hauptstadt Doha gelegt wurde, wo nach dem Vorbild der Nachwuchsleistungszentren europäischer Topklubs wie La Masia (übersetzt: der Steinbruch, FC Barcelona),De Toekomst (niederländisch für "die Zukunft", Ajax Amsterdam) und die Jugendakademie des FC Porto junge Talente ausgebildet werden, Früchte getragen hat.

Und wie schon im Fall des englischen Erstligisten Manchester City, das 2008 von Sheikh Mansour, einem Mitglied der Herrscherfamilie von Abu Dhabi und stellvertretendem Ministerpräsident der VAE, aufgekauft wurde, hat auch bei der katarischen Nationalmannschaft westliche Arroganz, die nicht selten mit orientalistischen Stereotypen unterlegt ist, die morgenländische Befähigung zu Ernsthaftigkeit, Arbeitsdisziplin und langfristigen Visionen eklatant unterschätzt.

Fußballkultur ist schon lange kein europäisches oder lateinamerikanisches Prärogativ mehr: nach Japan und Südkorea ist mit Katar nun ein weiterer Player aus Asien aufgetaucht, der die Fiktion einer geschützten Ursprungsbezeichnung, mit der protektionistische Eurozentristen den beliebtesten Ballsport der Welt auch in Zeiten der Globalisierung für sich monopolisieren wollen, als vermessene Chimäre enttarnt hat.

Darüber hinaus darf man die anderen Kräfte, die zu diesem sportlichen Erfolg geführt haben, nicht außen vor lassen und muss letzteren kontextuell in Katars allgemeinen sportpolitischen Aspirationen einbetten. Mahmoud Amara, Sportwissenschaftler an der Qatar University und Autor des Buches "Sport, Politics and Society in the Arab World" sagte in der Al Jazeera Talkshow-Sendung "Inside Story" vom 3. Februar, verschiedenste Akteure hätten am katarischen Asiencuperfolg ihren Anteil: Aspire bilde zwar die Fußballer aus, aber das Training und das sportliche Know-how würden gleichermaßen komplementiert von sportmedizinischer und gesundheitswissenschaftlicher Forschung und Implementation.

Auch ist der Standort Katar als Ausrichter der WM 2022 sportpolitisch keine große Überraschung: Katar hat bereits 2005 erfolgreich die Asian Games ausgetragen. Dieses Turnier sei der Schlüsselmoment für Katars Strategie gewesen, Sport als Vehikel für gesellschaftliche Entwicklung zu nutzen, so Amara. Zehn Jahre später war das Emirat bereits Gastgeber eines interkontinentalen Turniers: der IHF Handball-WM der Männer 2015. Das Land ist also kein unbeschriebenes Blatt in der Sportwelt.

Wer also glaubt, Katars derzeitiger fußballerischer Glorienschein sei eine Eintagsfliege, der irrt gewaltig. Dabei ist nicht einmal wichtig, ob die Mannschaft bei ihrer Heim-WM für eine Sensation sorgen wird oder in der Gruppenphase bereits herausfliegt. Denn wer ein gesamtes Turnier nicht nur komplett ohne Heim-Fans bestreitet, denen aufgrund der Blockade die Einreise verweigert wurde, so dass es schließlich kuwaitische und omanische Fans waren (Kuwait und Oman sind die einzigen Mitglieder des Golfkooperationsrat, die sich der Blockade gegen Katar nicht angeschlossen haben), die mit katarischen Fahnen und Fanschals in den Stadien die Mannschaft anfeuerten, der hat jetzt schon eine Resilienz unter Beweis gestellt, die auch der Stoff von zukünftigen Fußballmärchen sein könnte.

Trainerlegende Bora Milutinovic, der Mexiko 1986 im eigenen Land ins Viertelfinale geführt hatte und heute als Botschafter der WM 2022 fungiert, sagte kürzlich in einem Interview mit Al Jazeera: "I'm sure Qatar will prepare very well." Vielleicht nicht unbedingt gut genug, um den Titel zu holen, so der als "Meister der Underdogs" bekannte Serbe lächelnd, aber gut genug, um womöglich die K.O.-Runde zu erreichen.

Allein ein solcher Teilerfolg auf der größten internationalen Bühne würde alle Kritiker der fehlenden "Fußballkultur" Katars weiter Lügen strafen.

Gianni Infantino: Friedensstifter oder saudisch-emiratischer Erfüllungsgehilfe?

Wenn der Asiencup 2019 in den Emiraten eines gezeigt habe, dann die Erkenntnis, dass Sport und Politik unentwirrbar miteinander verbunden seien, so James Dorsey von der S Rajaratnam School of International Studies (RSIS) in Singapur in derselben Sendung.

Hier stellt sich die Frage: Was bedeutet das für die weitere Organisation der WM 2022 im eigenen Land? FIFA Präsident Infantino, der schon in Katar das Turnier von 32 teilnehmenden Teams auf 48 aufgestockt sehen möchte, treibt hier ein Game of Thrones-würdiges Spiel: Laut Dorsey gäbe dieser sich einerseits als Friedensstifter à la IOC-Präsident Thomas Bach, der die beiden Koreas zu den vergangenen olympischen Winterspielen in Pyeongchang zusammengeführt hatte; gleichzeitig sei unschwer zu erkennen, dass Infantino primär den Saudis und Emiratis zuarbeite.

Das macht Sinn: Denn wie lässt sich ansonsten erklären, dass ein Turnier, das bereits vergeben ist, alle Auflagen erfüllt und voll im Zeitplan liegt, heute wieder auf der Kippe steht? Die Saudis und Emiratis würden auch gerne ein Stück vom Kuchen haben wollen, so Dorsey, weswegen sie Infantinos Ausweitungspläne für 2022 euphorisch unterstützen: Denn dann wäre aus ihrer Sicht Katar im Idealfall gezwungen, die Austragungsrechte mit seinen unliebsamen Nachbarn zu teilen. Doch nach seiner eigenen Einschätzung halte er eine WM mit mehreren Gastgebern für "a pie in the sky."

Dorsey nennt auch einen weiteren finanzkräftigen Akteur in Infantinos Divide-and-Rule-Plänen: die japanische Holding-Gesellschaft SoftBank ist bereit, 25 Milliarden in die FIFA zu investieren bei ihrem Vorhaben, die Klub-WM auszuweiten, die bereits viermal in den VAE ausgetragen wurde, und ein neues Turnier aus der Taufe zu heben. Zu der Investorengruppe um die SoftBank gehören neben amerikanischen und chinesischen auch - wenn wunderts - saudische Entitäten.

#stoptheblockade

Sollte die Blockade bis zum Beginn der WM im Winter 2022 nicht aufgehoben werden, dürfte das erhebliche organisatorische Probleme für Katar mit sich bringen, insbesondere bei einer Ausweitung der Teilnehmer auf 48 Mannschaften: Katar hat vor Beginn der fremdbestimmten Isolation darauf spekuliert, dass Fans auch im nahegelegenen Dubai oder Abu Dhabi untergebracht werden könnten und an Spieltagen ein- und ausfliegen würden.

Die logistischen Herausforderungen eines Worst-Case-Szenarios würden dann sowohl Katar als auch die Blockadenationen betreffen: bereits beim Asien-Cup musste aufgrund der gekappten Direktflugverbindungen zwischen Doha und den VAE die katarische Mannschaft über Kuwait nach Abu Dhabi fliegen. Darüber hinaus würden die Blockadenationen einer Situation gegenüberstehen, in der sie entweder ihren eigenen Boykott aufgeben müssten, damit die eigenen Staatsbürger die Spiele besuchen könnten, oder einen innenpolitischen Backlash frustrierter Fußballfans riskieren, die wegen der politischen Machtspiele ihrer Obrigkeiten nicht zur ersten WM in einem arabischen Land einreisen könnten. Eines, das auch noch in ihrer eigenen Subregion liegt.

Dass die Bevölkerungen in Saudi Arabien, den VAE und Bahrain bezüglich Katar nicht zwangsläufig der Linie ihrer autokratischen Regenten folgen, lässt sich gut in den sozialen Netzwerken erkennen, wo der katarische Sieg als gesamtarabische Errungenschaft geframet und gefeiert wird. Dies dürfte den Herrscherhäusern der Al Sauds und Al Khalifas (Bahrain), Al Nayans (Abu Dhabi) und Al Maktoums (Dubai) säuerlich aufstoßen, die teilweise geäußerte Solidarität mit Katar seit Beginn der Blockade mit drakonischen Eilgesetzen kriminalisiert haben: Wer etwa in den Emiraten in den sozialen Medien Sympathien für Katar bekundet, riskiert 3-15 Jahre Haft und eine Geldstrafe von 500,000 Dirham ( ca. 119,000 Euro), so das emiratische Justizministerium.

Ein aktueller Fall sorgt dabei für internationales Aufsehen: wie der Guardian am Dienstag vor dem Hintergrund des Papstbesuches in Abu Dhabi berichtete, sitzt derzeit der 26-jährige britische Urlauber Ali Issa Ahmad aufgrund dieses Gesetzes in Haft. Sein Vergehen: er hat beim Achtelfinalspiel Katars gegen den Irak ein katarisches Trikot im Stadion angehabt. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft wurde er von Sicherheitsleuten zusammengeschlagen: als Ahmad dies bei der Polizei anzeigen wollte, wurde er erneut festgenommen. Die VAE, wo es seit 2016 ein Ministerium für Toleranz gibt und dessen Führung 2019 als "Jahr der Toleranz" ausgerufen hat, zeigen hier einmal wieder ihr anderes, repressives Gesicht jenseits von medienschlauer Oberflächenkosmetik.

Die regierungsnahen emiratischen Zeitungen taten ihr übriges, die ansteckende panarabische pro-Katar-Stimmung nach dem Finale im Keim zu ersticken, in dem sie den souveränen, aus eigener Gestaltungskraft erfolgten Durchmarsch Katars während des Turniers (alle Spiele gewonnen, 19:1 Tore) strategisch herunterspielten, Katar nicht einmal beim Namen nannten und den Cupgewinn der Glücklosigkeit Japans zuschrieben: "Unlucky Japan come up short in Asian Cup final", so die Gulf News; "Unlucky Japan lose AFC Asian Cup final", so die Khaleej Times. Unsportlicher und parteiischer geht es wohl kaum.

Vom Menschenrechtsverletzer zum Meister der Herzen

Was auch immer passieren wird bezüglich der derzeitigen Golfkrise: das Narrativ hat sich jetzt schon zu Gunsten Katars verschoben: vor nicht allzu langer Zeit noch ausschließlich auf sein Menschenrechts-Track-Record bezüglich der ausländischen Gastarbeiter im Land und auf die Undurchsichtigkeit der WM-Vergabe 2010 reduziert, geht auch Beobachtern hierzulande langsam ein Lämpchen auf, dass das wahrhaftig reformorientierte Katar (im Gegensatz zu den Scheinreformen in Saudi Arabien unter dem Kronprinzen und mutmaßlichen Auftragsmörder Mohammad bin Salman) heute womöglich doch mehr Opfer als Täter ist.

Menschenrechtsorganisationen loben die Schnelligkeit der bereits umgesetzten Reformen in Sachen Gastarbeiterrechten in Katar. Auch der Vorsitzende des WM-Organisationskomitees Hassan al-Thawadi betont immer wieder nicht nur die Fortschritte in diesem Bereich, sondern auch die Arbeit, die noch zu tun sei, wie zuletzt während eines Interviews mit CNNs Business-Korrespondent Richard Quest am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Das zeigt ehrlichen Verbesserungswillen und Fähigkeit zur Selbstkritik: etwas, wovon sich Saudi Arabien, dessen großangekündigten Reformen sich im besten Fall durch "A sagen und B machen" beschreiben lassen, eine gehörige Scheibe von abschneiden könnten.

Die sympathische, bescheidene Art, mit der auf geoplitischer Ebene der katarische Staat seit Beginn der Blockade auf die unilaterale saudisch-emiratisch-bahrainisch-ägyptische Aggression reagiert hat, stets mit ausgestreckter Hand und Verhandlungsbereitschaft, und mit der auf sportlicher Ebene die "Maroons" allen Widerständen zum Trotz stramm und stoisch ihr Programm durchgezogen haben, dürfte niemandem, der sich mit globalem Sport und internationaler Politik beschäftigt, entgangen sein. Das ist Fairplay in Reinkultur.

Sollte Katar die WM 2022 mit denen teilen müssen, die in dem Emirat einen Feind sehen, dann würde das Argument, bei der WM-Vergabe an Katar sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, völlig ausgedient haben und wäre ein ohnehin schon opaker Vergabeprozess gänzlich ad absurdum geführt worden. Denn wie glaubwürdig wäre eine ohnehin schon unbeliebte, undemokratische und als korruptes Lügengebäude angesehene FIFA noch, wenn sie jemandem einfach ein Turnier wegnimmt, das dieser in einem langen Vergabeprozess zumindest nach Maßstäben der FIFA "fair and square" gewonnen hat, und sie dann an andere umverteilt wie Almosen?

Hoffen wir, dass es zu einer solchen Zwangsenteignung, die einem Bestechungsgeschenk an Saudis und Emiratis bestechend ähnelt, nicht kommt. Ein solcher Akt wäre nicht nur katastrophal für die ohnehin schon angeschlagene Glaubwürdigkeit internationaler Sportpolitik, sondern auch nicht gerade förderlich für das bereits angespannte innerarabische Nachbarschaftsverhältnis am Persischen Golf.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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