Erstveröffentlichung auf Medium.com (https://medium.com/@talrooq/stell-dir-vor-es-ist-corona-und-keinen-interessierts-4506b4b588b7)
Gib jemandem den kleinen Finger, und er nimmt die ganze Hand: Auch wenn die bundesweiten Stay-at-home-Vorgaben trotz Lockerungen weiterhin gelten, scheint man in der deutschen Hauptstadt nicht viel davon zu halten. Beweisstück A: das obige Foto von stockendem Verkehr bis Stau auf der Berliner Stadtautobahn 100, das ich Mittwoch Nachmittag vor zwei Wochen gemacht habe, dem Auftakt ins verlängerte Himmelfahrtswochenende.
Echt faszinierend wie viele Berufspendler in einer so sozial ungleichen Stadt wie Berlin ein Auto haben. Und wie viele Berliner plötzlich einen Zweitwohnsitz in Brandenburg und Schleswig-Holstein. Denn eigentlich durften an dem Wochenende nur die in diese Bundesländer reisen.
So sieht also „Regieren“ in der Krise aus.
Apropos: wer bis heute nicht weiß, wer nach Wowis Abgang unser „Regierender“ Bürgermeister ist: es ist ein Mann namens Michael Müller. Nicht schlimm, wenn niemand ihn kennt und noch weniger ihn Ernst nehmen: er leidet nämlich unter sozialer Phobie, was ihn, der die Öffentlichkeit meidet wie Hypochonder in diesen pandemischen Zeiten das Rausgehen, relativ regierungsunfähig macht. An dieser Stelle muss ich mich fragen, was eigentlich Frau Merkels Entschuldigung für die letzten 15 Jahre ist.
Aber dafür besitzt der Herr die Gabe der Unsichtbarkeit. Mancher Superheld, der Spinnweben an Wände schmeißt oder einfach nur unermesslich reich ist wie Bruce Wayne, würde dafür töten. Und ein anderer ganz grün werden vor Neid.
Böse Geister halten diesen „Michael Müller“ sogar für ein Gerücht. Andere ihn für ein Marketing-Gag eines gleichnamigen Molkereikonglomerats. Manchmal huscht er während der “Abendschau” durchs Bild. Aber das könnten auch die anachronistischen Special Effects des RBB sein. Oder der Demenz der Zuschauer geschuldet sein.
Denn laut dem Berliner Tagesspiegel liegt das Durchschnittsalter der Abendschauzuschauer bei 68 Jahren. Das entspricht übrigens dem Altersdurchschnitt des RBB-Fernsehens insgesamt, heißt es weiter.
Da hilft es auch nicht, wenn ich mit meinen zarten 42 Jahren ab und an mal mit reinschaue, wenn mal wieder in Berlin. Ich wohne übrigens mittlerweile in England: da haben 68-jährige Menschen es nicht so gut. Boris Johnson wollte sie schon kollektiv einsperren oder als Kanonenfutter für sein patentiertes Herdenimmunitäts-Strategem im britischen Einfrontenkrieg gegen Corona opfern. In einem Akt kosmischer Bestrafung landete ein coronaerkrankter Boris prompt auf der Intensivstation.
Berliner im Rentenalter sollten also froh sein, dass sie den mittlerweile legendären „technischen Störungen“ in der pannenanfälligen Abendschau beiwohnen dürfen. Ganz zu schweigen von den alten Berliner “Tatort”-Re-runs, natürlich. Als Kommissare noch nach echten Männern klangen, wie Ritter und Stark (auch wenn Stark noch bei Mutti gewohnt hat), und keine medialen Zugeständnisse an den pseudoprogressiven hauptstädtischen Hipsterzeitgeist der Nachnuller Jahre waren.
So wie es die fiktive Nina Rubin ist, eine promiskuitive (heute nennt man das „open to non-monogamy“), durchgeberghainte Single-Rabenmutter jüdischen Glaubens, die ihre Polizeiarbeit so ernst nimmt wie AfD-Wähler Müslifresser*innen mit taz-Abo und gendergerechte Sprache.
Juden sind in Berlin übrigens wieder in: eine willkommene Abwechslung zum Holocaust und zu einer Zeit, als das Hallesche Tor keine von fliegenden Ratten zugeschissene Hochbahn- und von Junkies hausbesetzte Untergrundbahnstation war, sondern ein richtiges Tor: bis zum Preußischen Judenedikt von 1812 sogar das einzige Tor im Süden Berlins, das Juden passieren durften.
Heute steht am Halleschen zurecht das Jüdische Museum. Und stehen Palästinenser etwas weniger zurecht an israelischen Militärcheckpoints in den von Israel illegal besetzten palästinensischen Gebieten, sobald sie — auf ihrem eigenen Territorium — von A nach B wollen.
Berlin aber ist derweil so hip, dass sogar junge Israelis zuhauf nach Kreuzberg und Nordneukölln ziehen (im Gentrifizierersprech auch „Kreuzkölln“ genannt) und “Unorthodox” auf Netflix in der ersten Releasewoche hierzulande die Glasfaserkabeln heiß laufen ließ.
“Unorthodox” hat natürlich auch die nach Geltung und Teilhabe dürstenden neu- und möchtegernberliner Herzen höher schlagen lassen. Während Ur- und Altberliner – besonders die mit einem Migrationshintern bestückten – ganz orthodox TNTs “4 Blocks” treu blieben. Loyal diese.
So wie ich Wiederholungstäter, der – sobald er schlechte Laune hat – auf YouTube sich die Szene reinzieht, in der die Schutzgeld eintreibenden Hamadis den zugezogenen australischen Klischeehipster-Kiezkneipenbetreiber für seine Selbstüberschätzung und aufmüpfige Art ganz cool und ohne große Ankündigung einfach mal waterboarden. Und ihm somit ganz unmissverständlich mit auf den Weg geben, wer im „Neuen Berlin“, wie es der Berliner Rapper Alpa Gun in einem gleichnamigen Track lamentiert hat, nach wie vor das Sagen hat.
Jedes Mal, wenn ich den Clip anschaue, geht es mir direkt besser. Beste Gentrifizierungskritik ever.
By the way: Ich habe Khida Khodr Ramadan einmal vor seinem Frisörladen im Kreuzberger Wrangelkiez angetroffen und diesem patenten Kerl händeschüttelnd zu seinem Grimme-Preis gratuliert (damals hat ein Händedruck mit einem Fremden einen nicht gleich das Leben gekostet).
Im Gegenzug bedankte auch er sich, und zwar mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, der sich zu fragen schien, woher ein daherjeloofener Kiezkänäk in Picaldis und ausgelatschten Air Max mit einem schmutzigen Stoffbeutel voller Leergut auf dem Weg zu Nahkauf eigentlich wusste, was ein Grimme-Preis ist.
Apropos Re-run: Abendschau-Moderator Sascha Hingst würde jetzt mit den spitzen Mundwinkeln seines souveränen Milchbubengesichts (Alta, der Typ ist fast fuffzig!) in die falsche Kamera grinsen und sagen: „Re-run, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer [unter 68-jährigen werden Geschlechteridentitäten noch binär ausgelegt]: das ist Englisch für Wiederholungsfolgen.“ Und würde rigoros weiter schmunzeln, bis der angekündigte Beitrag mit awkwarder Zeitverzögerung endlich losgeht.
Aber zurück zu diesem in Anführungszeichen Michael Müller: Ich persönlich glaube bis heute nicht so richtig daran, dass er wirklich existiert. Vielleicht ist er auch eine Erfindung des RBB. Menschen, die 68 sind, finden ihn nämlich richtig knorke. Für mich ist er wie Bielefeld: ein weiteres Gerücht, das sich bis heute hartnäckig hält.
Oh nein, bin ich jetzt Verschwörungstheoretiker? Dann brauche ich definitiv einen neuen Namen: Xavier Timoo. Oder Attila Al-Farooq. Und kann danach sofort bei den Reichsbürgern anheuern. Die mögen zwar die Bundesrepublik Deutschland nicht, aber gegen PoCs scheinen die nichts zu haben, da sind die erstaunlich PC die Kollegen von der Reichsbürgerwehr. Der olle Naidoo findet die ja auch ganz dufte.
Ick mag die Bundesrepublik Deutschland och nicht, by the way. Deswegen wohne ich ja auch mittlerweile in London: da wird man als Mensch mit etwas dunklerem Teint — anders als im gentrifizierten, ach so multikulturellen Berlin, das im Vergleich zu London so multikulturell ist wie die Steiermark — nicht gleich angeglotzt wie ein exotisches Tier. Oder automatisch für einen Dealer gehalten. Ein Kreuz, das auch der Ramadan tragen muss, wenn Kids mit Boxerschnitt ihn auf der Straße nach Weed fragen.
Ausländerfreundliche Reichsbürger? Hildmanns, die Attila mit Vornamen heißen? Von wegen Deutschland bewegt sich nicht vorwärts. Aber in Berlin gibt es etwas, das so widerspenstig ist, dass es auch in Zeiten von Corona nicht so richtig in die Gänge kommen möchte: nämlich der Verkehr auf der Berliner Stadtautobahn.
Gridlock auch während eines Lockdowns: dit ist Berlin.
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