Südasiens Palästina

Kaschmir Das hindunationalistische Indien festigt seinen Würgegriff um den von ihm besetzten Teil der Region Kaschmir. Und wie in Palästina schaut die (westliche) Welt tatenlos zu

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Idyllisch das obige Foto, nicht wahr? Doch der schöne Schein trügt: denn würdet Ihr dieses atemberaubende Gebirgstal mit ethnischen Säuberungen, stillem Völkermord, Kriegsverbrechen, Folter, Besatzung, Ausgangssperren, Entrechtung, Polizeigewalt, Hypermilitarisierung, Vergewaltigungen durch „Sicherheitskräfte“ und alltäglichen Schikanen der Zivilbevölkerung in Verbindung bringen?

Höchstwahrscheinlich nicht. Doch genau das ist seit 1949 graduell bittere Realität geworden in „Indian administered“ Kaschmir (nur wenige Monate, nachdem sich Israel Palästina gekrallt hat und 80% der angestammten arabischen Bevölkerung in ethnischen Säuberungen von ihrem Land vertrieben hat), ein zynischer Euphemismus, der Rechtsstaatlichkeit vorgaukelt, Brutalität beschönigt und von militärischer Besatzung und Siedlerkolonialismus ablenken soll.

Der sogenannte „Kaschmirkonflikt“, der wie der „Nahostkonflikt“ fälschlicherweise moralische Parität suggeriert, ist natürlich kein Konflikt, sondern ein glasklarer Fall von einer Partei, die eine andere unterdrückt. Im Falle Kaschmirs: die indische Armee, welche die kaschmirische Bevölkerung auf der indischen Seite der Line of Control seit Jahrzehnten terrorisiert. Seit Beginn des bewaffneten Aufstandes gegen die indische Zentralregierung vor zwanzig Jahren verloren über 70 000 Menschen ihr Leben.

So wie Israel seit der Wahl Donald Trumps noch straffreier als zuvor sein Apartheidregime konsolidieren, die Bantuisierung der besetzten verbliebenen palästinensischen Gebiete und die Gewalt gegen Gaza vorantreiben kann, hat Indien nun seinen eigenen Trumpschen Freifahrtschein genutzt und in den letzten Tagen die Schlinge um das Kaschmirtal deutlich enger gezogen.

Ohne Vorwarnung hat es unilateral den verfassungsrechtlichen Sonderstatus des Bundesstaates Jammu und Kaschmir (der offizielle Name des aus den Divisionen Kaschmirtal, Jammu und Ladakh bestehenden indischen Teil der Region Kaschmir) aufgehoben, tausende zusätzliche Truppen entsandt, politische Gegner verhaftet und Telefon- und Internetverbindungen gekappt. All das in einem Gebiet, dass ohnehin schon als die militarisierteste der Welt gilt. So sehen keine „Sicherheitsmaßnahmen“ aus, wie die hinduextremistische BJP unter Narendra Modi sein Vorgehen rechtfertigt, sondern Schlussoffensiven in Eroberungskriegen.

Indiens Erzfeind Pakistan, das abzüglich des chinesischen Aksai Chin den großen Rest von Kaschmir kontrolliert, reagierte umgehend mit der Ausweisung des indischen Botschafters und dem Einfrieren bilateraler Handelsbeziehungen: der Beginn eines Maßnahmenkatalogs mit offenem Ende.

Kaschmir-Expertin Goldie Osuri von der University of Warwick sagte dem Sender Al Jazeera, es handele sich bei dieser Eskalation um die dritte Stufe eines indischen Kolonialprojekts: Die erste Stufe sei die Besatzung nach Ende des ersten Indo-Pak-Krieges gewesen, die zweite die Militarisierung des besetzten Gebietes, und die dritte die Aufhebung konstitutioneller Safeguards wie Artikel 370 (der den Sonderstatus Kaschmirs regelt) und 35a (der Nichtkaschmiris verbietet, sich dort Land zu kaufen und dauerhaft niederzulassen sowie lokale Regierungsämter zu bekleiden). Eine Einschätzung, die auch von der Washington Post in ihrem Op-Ed-Artikel „India's settler colonial project takes a disturbing turn“ geteilt wurde.

Jaja, „Incredible India“, wie die nationale Tourismusbehörde die größte illiberale Demokratie der Welt gerne international fehlrepräsentiert und das mit einem schleichenden Völkermord davon kommt wie Israel in Palästina und China mit seinem kulturellen Genozid an den muslimischen Uiguren, ist anno 2019 nichts weiter als ein hindunationalistisches islamfeindliches „shithole country“, um Donald Trump zu zitieren. Und wie die USA ein Schurkenstaat mit Atomwaffen. Die linksliberalen Inseln Kerala, West Bengalen und der Sikhmehrheitsbundesstaat Punjab mal ausgenommen, wo die radikalreligiöse BJP, die Indien immer wieder regiert, doch noch nie so extremistisch und eisern wie heute, so gut wie keine Schnitte hat.

Geführt von dem demokratisch gewählten! Massenmörder Narendra Modi, der in seiner Zeit als Chief Minister wegen seiner Verstrickung in antimuslimischen Pogromen als „Schlächter von Gujrat“ in die moderne indische Geschichte eingegangen ist und der in der jüngsten Parlamentswahl dank seiner populismusanfälligen, gewaltbereiten Ottonormalranjitbasis (die subkontinentale Version des weißen MAGA-verrückten und schusswaffenvernarrten Trumpwählers) mit überwältigendem Volksmandat seine Sitzmehrheit in der Lok Sabha ausbauen konnte, macht Indien nun da weiter, wo es vor der Wahl nicht aufgehört hat: mit der juristischen - und notfalls gewalttätigen - Hinduisierung des Vielvölkerstaats und der Auslöschung seiner islamischen Identität.

Die de-facto Annexion Kaschmirs vor einigen Tagen ist eine zentrale Front in diesem Make- Hindu-India-Great-Again-Endgame. Mit dem Wegfall des Sonderstatus und der vorgesehenen Aufteilung von Jammu und Kaschmir in zwei separate Unionsterritorien, die direkt von Neu- Delhi aus regiert werden sollen, steht der Hinduisierung des mehrheitsmuslimischen Kaschmirtals nichts mehr im Wege.

Die Blaupause dieses gewaltsamen Bevölkerungsaustausches liefern China mit seiner Sinisierung Tibets und Xinjiangs und Israel in Palästina, wo mit dem illegalen jüdischen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten die arabische Bevölkerungsmehrheit immer mehr judaisiert werden soll. Wo demographische Maßnahmen an ihre Grenzen stoßen, helfen Apartheidgesetze und klassische militärische Kontrollgewalt nach. Letztere hat schon lange vor der aktuellen indischen Eskalation aus Kaschmir ein riesiges Freiluftgefängnis gemacht wie Gaza.

Und die heuchlerische westliche Welt? Sie feiert Indien natürlich: schließlich hat es jüngst gleichgeschlechtlichen Sex entkriminalisiert und könnte irgendwann die Homo-Ehe einführen, der neue westliche Gradmesser universeller Menschenrechte und einer offenen Gesellschaft.

Macht nüscht, wenn du deine Muslime abschlachtest, deine Frauen im öffentlichen Nahverkehr gruppenvergewaltigst, du Menschen in Kasten einteilst und deine Dalits schlechter als Hundekot behandelst, deine soziale Ungleichheit trotz Middle-Income-Country-Aspirationen steigt, du im Giftsmog von Neu-Delhi keine drei Meter gucken und drei Sekunden atmen kannst und eine wachsende Mittelschicht in ihrer blinden Westoxifizierung sich und seine Kinder mit amerikanischer Fast-Food-Scheiße vollstopft und aus falschem Statusdenken auch noch stolz ist auf seine fettleibigen und zuckerkranken privilegierten Rotzgören. Solange Schwule und Lesben heiraten dürfen (was natürlich ihr gutes Recht ist), giltst du in der westlichen Welt - zumindest in Europa - als ganzheitlich liberal, demokratisch und progressiv. Holismus geht definitiv anders.

Gleiches gilt übrigens für Israel: macht nüscht, wenn du wöchentlich unbewaffnete Palästinenser abschießt wie auf dem Schießstand und ihre Häuser sprengst, um sie für illegale jüdische Siedlungen freizuräumen. Solange du mit Tel Aviv als LGBTQ-Hauptstadt deine siedlerkolonialen Schwerverbrechen pinkwashen kannst, giltst du als freiheitlich-demokratisch und somit schwer in Ordnung.

Von den spirituell ausgemergelten, orientalisierenden, kulturklauenden, bollywoodvernarrten privilegierten weißen Touristen gar nicht zu sprechen, die ins ach so exotische „Incredible India“ pilgern, um mittels Slumtourismus und Yoga-Retreats zu sich selbst zu finden und dabei willentlich die Augen vor den indischen Menschenrechtsverletzungen gegen Muslime und andere Minderheiten und soziale Gruppen verschließen.

Denn was interessieren den westlichen Vogel Strauß schon Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, Besatzung und Unterdrückung: solange der eigene Narzissmus und Hedonismus bedient werden kann, rechtfertigt das einen Partyurlaub in Israel und eine „spirituelle“ Reise nach Indien. Das Leid der Menschen in Palästina oder Kaschmir ist da nur störend.

Westliche Linksliberale zögern keine Sekunde, Trump oder Dirty Duterte oder Brasiliens Amazonasausrotter Bolsonaro zu kritisieren, sind aber auf beschämendste Weise still, wenn es um Narendra Modi (und Binyamin Netanyahu by the way) geht. Ein Großmaul wie der Grünenpolitiker Volker „Crystal Meth“ Beck fordert Boykotte gegen Malaysia und den Oman, weil diese Homosexualität kriminalisieren; gegen das zutiefst rassistische, misogynistische und religiös-extremistische mehrheitshinduistische Indien, wo regelmäßig Hindumobs auf Muslimjagd gehen und Lynchjustiz nach Rape Culture unter Modi zum alten neuen Volkssport geworden ist wie weißer Terrorismus unter Trump (die zeitgemäßere Version des „racial terror“ der Jim-Crow-Zeit, Sturmgewehr statt Schlinge), hört man Ersteren jedoch nie wettern den Heuchler.

Und gegen Israel, wo unter Netanyahus rechtsextremer Regierung gerade alle möglichen anti-palästinensischen Sadismen ausprobiert werden (und die bereits erprobten verfeinert) sowieso nicht. Denn das wäre ja Antisemitismus.

Dabei ist Narendra Modi mindestens genauso ein faschistischer Antidemokrat wie die
eben genannten Mörder Donald, Jair und Roddy
. Und ja, seit El Paso und Dayton geht es definitiv in Ordnung, Trump als den Führer eines gescheiterten Staates, der so unzivilisiert ist, dass es nicht einmal möglich ist, in die Schule oder in den Supermarkt oder ins Kino zu gehen, ohne von einem weißen Terroristen erschossen zu werden, einen Mörder zu nennen.

In diesem Sinne: Free Kashmir! Free Palestine! Fight White Supremacy!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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