Syria Matters

Syrien Im Museum für islamische Kunst im katarischen Doha erinnert eine Ausstellung an die reiche Kulturgeschichte des heute zum Bürgerkriegsland verkommenen Syriens. Ein Besuch

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Erinnerungskultur wird für gewöhnlich erst nach Abschluss eines historiographisch relevanten Geschehens oder Zeitraums betrieben: die Statue, die dem glorreichen Kämpfer einer längst vergangenen Schlacht huldigt; das naturkundliche Museum, das ausgestorbene Tierarten wieder auferstehen lässt; das Mahnmal, das vor der Wiederholung eines Krieges oder Völkermordes warnt.

Das renommierte Museum of Islamic Art (MIA) in der katarischen Hauptstadt Doha erinnert derzeit in einer Sonderausstellung hingegen an ein Land, das es heute noch gibt: zumindest als politische Entität, denn seit 2011 befindet sich Syrien in einem Bürgerkrieg, der große Teile des Landes zerstört hat, und ist in unserer Wahrnehmung mittlerweile einzig und allein als solches „Bürgerkriegsland“ verankert. Man braucht nur irgendjemanden fragen, was das Erste ist, was ihm oder ihr zum Stichwort Syrien einfällt, und die Antwort dürfte „Krieg" sein.

Die Sonderausstellung „Syria Matters“ im Erdgeschoss des vom Stararchitekten I.M. Pei entworfenen und 2008 eröffneten Gebäudekomplexes möchte dieser aktuellen narrativen Reduzierung eines Staates auf einen Kriegszustand entgegenwirken, indem sie die lange und reiche Kulturgeschichte Syriens wieder aufleben lässt.

Idyllisch gelegen auf einer künstlichen Insel vorgelagert vor Dohas sieben Kilometer langer Corniche und vor dem Hintergrundpanorama der in der Ferne sich erstreckenden Skyline des Businessdistrikts West Bays, steht das fotogene MIA auf der Bucket List jedes internationalen Touristen. Die derzeitige Sonderausstellung bietet Besuchern einen tagesaktuellen Referenzpunkt, von dem aus sie sich auf eine Reise in die islamische Hochkultur begeben können, und zwar in einem speziell syrischen Kontext.

Über 130 Exponate, von denen knapp die Hälfte aus heimischen katarischen Sammlungen stammt, lassen levantinische Geschichte auferstehen: Beginnend bei den prä-islamischen Kulturen über die Blütezeit des Islams im Nahen Osten bis hin zur Einverleibung ins Osmanische Reich führt der chronologisch angeordnete historiographische Streifzug durch eine labyrinthartige, abgdunkelte Ausstellungshalle, in der die meist in beleuchteten Glaskästen aufgebahrten archäologischen Fundstücke und andere Exponate wie historische Gemälde und moderne Videoinstallationen die Dunkelheit punktuell durchbrechen, als solle der Ruhm der Geschichte die Tragik der Gegenwart vergessen machen und überstrahlen.

Von Ugarit über Umayyad bis Osman

Ugurit, Tell Halaf, Palmyra: Bereits die vorislamische Frühgeschichte Syriens ist reich an kulturellen Errungenschaften und macht deutlich, wie weit zurück die historische Tradition ethnischer Diversität des heutigen Landes eigentlich geht.

Die Hafenstadt Ugarit etwa aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. ist ein prägnantes Beispiel für jenen Multikulturalismus, der typisch für das moderne Syrien ist: in dem einst wichtigen Handels- und Kulturzentrum lebten Kaufleute aus Ägypten, Palästina, der Ägäis und Anatolien Seite an Seite mit der lokalen Bevölkerung. Hier wurde zum Beispiel eine Lautschrift entwickelt, in der ein Symbol einen Laut darstellte, und mit deren Hilfe die zahlreichen dort gesprochen Sprachen transkribiert werden konnten.

Die überdimensionale Basaltstatue eines Greifvogels - Leihgabe des Vorderasiatischen Museums Berlin - ist das wohl beeindruckendste Ausstellungsstück aus der Zeit des im ersten Jahrtausend v. Chr. von aramäischen Stämmen gegründeten Stadtstaates Gozan, besser bekannt als Tell Halaf. Nach den dortigen Ausgrabungen Anfang des 20. Jahrhunderts wurden viele Fundstücke nach Berlin „gebracht“, wo sie im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Bombardements zerstört und später mühsam restauriert wurden.

Die Faszination europäischer Orientalisten des 18. und 19. Jahrhunderts mit Palmyra grenzte oft an orientalistischer Romantisierung, besonders im Hinblick auf die mythenumrankte Königin Zenobia: Diese spaltete Palmyra vom Römischen Reich ab und eroberte innerhalb kürzester Zeit Ägypten und Kleinasien, bevor Kaiser Aurelian (214-275 n. Chr.) den abtrünnigen Staat in Schutt und Asche legte. Die ausgestellten Gemälde des französischen Landschaftsmalers Louis-François Cassas und der Australierin Amy Bosworth sind beispielhaft für diese Mystifizierung einer sagenumwobenen Kultur, in der sich Historizität mit der eigenen subjektiven Vorstellungskraft und der Sehnsucht nach einer Projektionsfläche für die eigene Nostalgisierung des Orients vermischt. Unter der Terrormiliz IS (hier in der Region als Daesh bekannt) wurden 2015/16 große Teile des historischen Weltkulturerbes Palmyras zerstört.

Die größte Aufmerksamkeit widmet das MIA naturgemäß dem islamischen Zeitalter Syriens, vom Ummayaden-Kalifat bis zum Untergang des Osmanischen Reiches. Nach dem Tod des Propheten Mohammed und der Eroberung Syriens durch seine Nachfolger wurde Damaskus im Jahr 661 die Hauptstadt des ersten dynastischen islamischen Reiches, das sich auf seinem Höhepunkt von Indien bis Spanien erstreckte.

Riesige Videoleinwände der Großen Moschee sowie der Zitadelle von Damaskus, die der legendäre kurdische Feldherr, Befreier von Jerusalem und Gründer der Ayyubiden-Dynastie Saladin der Große (1137/38-1193) nach seiner Eroberung Syriens zu seiner königlichen Residenz machte und die heute Teil eines UNESCO-Weltkulturerbes ist, lassen diese Zeit der kulturellen Blüte und politischen Umbrüche zum Anfassen nah auferstehen. Hinzu kommen ausgestellte Alltagsgegenstände wie kunstvoll gestaltete Schach- und Backgammonspiele sowie Schriftzeugnisse wie Koranfragmente und ein Manuskript des islamischen Theologen Ibn Taymiyyah (1263-1328), dessen schon zu Lebzeiten polarisierende Werke maßgeblichen Einfluss auf wahhabistische, salafistische und jihadistische Ideologien von heute gehabt haben (alle drei werden leider in deutschen Diskursen fälschlicherweise über einen Kamm geschert und unter dem islamophoben Begriff „Islamismus“ subsumiert).

Empathische Geschichtsschreibung

„Wodurch also nützt dem Gegenwärtigen die monumentalistische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Classischen und Seltenen früherer Zeiten?“ fragt Nietzsche und antwortet: „Er entnimmt daraus, dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird.“

Genau darum geht es den Organisatoren von „Syria Matters“: Mut zu machen und in all der Hoffnungslosigkeit nach acht Jahren Bürgerkrieg den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Zeit, die ja mal war, wieder herzustellen. Auf der Informationstafel am Eingang zur Ausstellung heißt es: „For over seven years Syria has been experiencing the worst human and cultural tragedies in the world [...] It is for this reason the Museum of Islamic Art has chosen to draw attention to Syria’s unique cultural heritage, its key role in artistic and intellectual world history.”

Während die Führung Katars seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges die anti-Assad-Rebellen logistisch, militärisch und finanziell unterstützt, ist diese Ausstellung der kulturpolitische Beitrag des Staates Katars für Frieden in dem zerstörten Land. Sie hat auch eine persönliche Dimension für die Herrscherfamilie: die 36-jährige Sheikha Al Mayassa, Vorsitzende der Qatar Museums Authority (QMA) und Schwester von Emir Sheikh Tamim, war für einige Jahre Botschafterin ihres Landes in Syrien, wo auch ihr ältester Sohn geboren wurde.

Mit dem Nachrichtensender Al Jazeera (zumindest mit der englischsprachigen Version) hat Katar genügend Erfahrung damit, die eigene subjektive politische Haltung aus einer erzählten Geschichte weitestgehend herauszuhalten: Die Ausstellung selbst vermeidet es daher, syrische Kulturgeschichte zu politisieren und für die eigenen geopolitischen Zwecke zu instrumentalisieren. Die gegenwärtige Tragik wird - ohne jegliche Schuldzuweisung - lediglich am Anfang und Ende des Rundgangs thematisiert: diese Konstellation erlaubt Besuchern einen lehrreichen Eskapismus dazwischen, ohne jedoch den tagesaktuellen Kontext aus dem Blick zu verlieren.

Zum Schluss führt die Ausstellung an einer Nische vorbei, an deren Eingang Fächer mit Stiften und Blankozetteln zu finden sind. Unter der Überschrift „How does it matter to you?” steht hier in der Manier eines überdimensionierten Curved-Fernsehers eine riesige Schwarz-weiß-Luftaufnahme einer kriegszerstörten syrischen Stadt, die den Hintergrund für eine Klagemauer bildet, an der Besucher ihre geschriebenen Kommentare befestigen können. „No one should suffer a fate like this. We love Syria and hope it will be better one day. We should all help it in any way we can” heißt es anonym und eindringlich auf einem der Zettel. „I am very sad about destroying the cultural heritage...” schreibt Gesa aus Deutschland in feinstem sinnverkehrendem Denglish auf einem anderen, das ihrer bewundernswerten Empathie jedoch keinen Abbruch tut.

Arabische Geschichte, von Arabern erzählt

Auch wenn die musealen Sahnestücke Leihgaben großer europäischer Kulturinstitutionen sind (was natürlich die Frage aufwirft, wie sie dort hingekommen sind und was sie da verloren haben: Stichworte Provenienzforschung und Beutekunst): bis auf die von der Museumsbehörde zur Unterhaltung der westlichen Besucher verordneten Selbstorientalisierung in Form von Museumsangestellten, von denen fast alle sudanesische Gastarbeiter sind, die jedoch genötigt werden, die traditionell golfarabische Kaffiyah und Dischdascha anzuziehen (Berufsbekleidung als karnevalistische Dauerverkleidung), wird hier auf erfrischende und seriöse Weise arabische Geschichte von Arabern erzählt. Und mit einem jährlichen Anschaffungsetat von einer Milliarde US-Dollar (Quelle: Bloomberg) ist die QMA, eines der Herzstücke in der Transformation des reichsten Staates der Welt zur subsistenten und nachhaltigen Knowledge-Economy, auf dem besten Weg, ihre eigenen Sammlungen massiv auszubauen.

Die konternarrative anti-eurozentrische Perspektive geht sogar im Souvenirshop des Museums weiter: neben dem für sehr teuer Geld zu kaufenden Ausstellungskatalog liegt ein Buch des im Westen eher für seine Romane bekannten libanesischen Schriftstellers Amin Malouf, mit dem Titel: „The Crusades - An Arab Perspective.“ Eine junge weiße Touristin nimmt sich das letzte verbliebene Exemplar und beginnt zu lesen, und tut dies zu meiner hellen Freude immer noch, als ich selbst das Buch schon längst weggelegt habe. Na wer sagts denn, denke ich: Europäer können ja doch über ihren eurozentrischen Tellerrand schauen, sie müssen nur die Gelegenheit dafür bekommen.

Das MIA ist ein solcher Ort, wo ihnen diese Gelegenheit gegeben wird. Und mit der Ausstellung „Syria Matters“ sind es nicht nur westliche Besucher, die einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der islamischen Welt im Allgemeinen und der Kulturgeschichte Syriens im Besonderen erhalten.

Die Sonderausstellung „Syria Matters“ im Museum of Islamic Art in Doha ist noch bis zum 30. April zu sehen. Qatar Airways bietet günstige mehrtägige Stopoverpakete für Transitpassagiere an. Deutsche und türkische Staatsbürger zählen zu den über 80 Nationen, die mittlerweile visumsfrei nach Katar einreisen können. Wer es nicht bis zum 30. April nach Doha schaffen sollte, der kann die nicht minder sehenswerte Dauerausstellung des Museums besuchen, sowie das kürzlich unter großen Fanfaren und in Anwesenheit internationaler Prominenz eröffnete National Museum of Qatar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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