Das Abendessen schlug ein wie eine Bombe. Kaum hatten die Teilnehmer einer Fortbildung des Arzneimittelherstellers Sandoz ihre Suppenteller geleert, da bekamen es gleich zehn Personen mit Zitteranfällen, Krämpfen und Kopfschmerzen zu tun. Einer der Erkrankten landete sogar im Krankenhaus. Doch die Symptome verschwanden so plötzlich, wie sie aufgetreten waren: Nach zwei Stunden ging es allen Betroffenen wieder gut. Die Probe aus dem sichergestellten Suppentopf ergab einen hohen Gehalt des Geschmacksverstärkers Glutamat, weshalb der Fall aus dem Jahr 1989 vom zuständigen gerichtlich-medizinischen Institut der Universität Bern als so genanntes China-Restaurant-Syndrom festgehalten wurde.
Obwohl sich solche Phänomene bereits seit Ende der sechziger Jahre in de
ahre in der Fachliteratur niederschlagen, wird ihre Existenz von den meisten Wissenschaftlern angezweifelt. Auch die Fülle von Fallberichten, wonach Zusatzstoffe in unserer Kost bei Kindern und Erwachsenen zu Hyperaktivität (Zappelphilipp-Syndrom) führen, verweisen die Experten gerne in das Reich der Anekdoten. Doch handelt es sich dabei wirklich nur um Hirngespinste? Oder hat manche Substanz tatsächlich ungeahnte Effekte auf unser Nervensystem, die sich bei empfindlichen Personen bemerkbar machen? Immerhin ist inzwischen bekannt, dass Zusatzstoffe genauso wie Arzneimittel nicht nur Allergien hervorrufen können, sondern auch Pseudoallergien, also Unverträglichkeitssymptome, die nicht auf klassischen allergischen Reaktionen beruhen.Es besteht kein Zweifel daran, dass ein Zusatzstoff vor seiner Zulassung hohen Anforderungen genügen und "gesundheitlich unbedenklich" sein muss. Mit toxikologischen Tests wird deshalb an Tieren und Zellkulturen primär geprüft, ob er krebserregend wirkt oder das Erbgut schädigt. Weil sich die Ergebnisse aus den Tierversuchen aber nicht so leicht auf den Menschen übertragen lassen, ist keine endgültige Aussage über die gesundheitlichen Effekte von Zusatzstoffen möglich. So hält sich beispielsweise verzehrtes Glutamat im menschlichen Blut in bis zu fünffach höheren Konzentrationen als im Blut von Mäusen, die als empfindlichstes Tiermodell gelten. Von den bestehenden Unsicherheiten beim Analogieschluss Tier-Mensch zeugt vor allem die Praxis, dass die festgelegten Höchstmengen neu zugelassener Stoffe stets Sicherheitszuschläge enthalten, welche laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung zumindest eine "Annäherung" an die realen Verhältnisse ermöglichen sollen.Wenngleich Versuche am Menschen vor der Zulassung von Lebensmitteladditiven verboten sind, werden sie danach anscheinend umso eifriger durchgeführt. Denn mittlerweile liegen methodisch saubere Studien vor, die den Effekt von Farb- und Konservierungsstoffen an hyperaktiven Kindern getestet haben. Ihr Ergebnis: Meist konnten die Eltern - obwohl sie nicht wussten ob ihre Sprösslinge eine zusatzstoffreiche oder -freie Kost erhielten - immer dann ein deutlich ruhigeres Verhalten der Kinder beobachten, wenn diese keine Additive verzehrten. Die klinischen Tests der Wissenschaftler, die ebenfalls Verhaltensauffälligkeiten erfassten, konnten diese Eindrücke jedoch nicht bestätigen. Damit bleibt weiterhin offen, ob Überempfindlichkeiten auf diverse Substanzen zu Symptomen wie Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen führen können - selbst wenn, wie man inzwischen weiß, die klassische Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ihre Ursache in einer veränderten Hirnfunktion hat, die häufig vererbt wird.Beim China-Restaurant-Syndrom ist die Datenlage eindeutiger. Hier haben brauchbare Provokationstests gezeigt, dass es tatsächlich Personen gibt, die bereits auf zulässige Mengen an Glutamat mit Beschwerden reagieren. Wird der Geschmacksverstärker in Flüssigkeit gelöst auf leeren Magen aufgenommen, beispielsweise beim Genuss einer süßsauren Suppe als Vorspeise, kann der Glutamatspiegel im Blut besonders eindrucksvoll ansteigen - was die Wahrscheinlichkeit des Syndroms erhöht. Nachdem Stichproben in asiatischen Restaurants in Deutschland aufdeckten, dass die Höchstmenge bei der Hälfte aller Fälle überschritten war und die Spitzenwerte gar das Fünffache des Erlaubten erreichten, wird nachvollziehbar, weshalb das Phänomen bevorzugt in jener Gastronomie auftritt, nach der es auch benannt wurde.Natürlich kann es keine Garantie dafür geben, dass jeder neue Zusatzstoff für alle Menschen gleichermaßen absolut unbedenklich ist. Sobald sich aber die Beweise für eine ernst zu nehmende Nebenwirkung des einen oder anderen Additivs erhärten, zeugt es nicht von Seriosität, wenn die Wissenschaft diese Zusammenhänge weiterhin ignoriert oder gar leugnet. Gerade darauf jedoch deuten nicht zuletzt die Ergebnisse der "Hohenheimer Konsensusgespräche" zu Glutamat hin, an denen neben Wissenschaftlern auch die Glutamatlobby teilnahm. Dabei stellten sich die Experten selbst ins fachliche Abseits, indem sie beteuerten, dass Glutamat selbst "in hohen Dosen keine spezifischen Nebenwirkungen aufweist". Bedenkliche Studienergebnisse gingen also allem Anschein nach im "Konsens" unter, das heißt im Austausch von Artigkeiten gegenüber den Glutamatherstellern.Dass es auch anders geht, haben die US-amerikanischen Hersteller von Babynahrung bewiesen. Als 1969 erstmals an neugeborenen Mäusen gezeigt wurde, dass eine Überdosis an Glutamat Hirnschäden verursachen kann, reagierte die Branche sofort: Sie verzichtete freiwillig auf den Zusatzstoff, auch wenn sie jede mögliche Gefährdung für den Menschen abstritt. Diese Maßnahme gab den Verbrauchern Sicherheit und ersparte den Herstellern fruchtlose Diskussionen mit der Öffentlichkeit. Ausschlaggebend waren damals übrigens die Versuche des amerikanischen Neurowissenschaftlers John W. Olney, welche - obwohl anfangs umstritten - immerhin dazu geführt haben, dass hochkonzentriertes Glutamat inzwischen als Nervenzellgift anerkannt ist.