Beherrschbar bleiben

Israel Selbst Dreijährige gelten als Bedrohung für die Präsenz und Interessen der Siedler im Westjordanland
Ausgabe 30/2020
Palästinensischer Junge in Gaza Stadt
Palästinensischer Junge in Gaza Stadt

Foto: Mohammed Abed/AFP/Getty Images

Adam Hemo ist erst dreieinhalb Jahre alt, als in seinem Namen 2017 eine Petition beim Obersten Gerichtshof in Tel Aviv eingereicht wird. Darin ist die Bitte enthalten, ihm die Erlaubnis zu erteilen, mit seiner Mutter und den vier älteren Geschwistern vom Gazastreifen in die Westbank zu ziehen. Letztere waren im von Israel kontrollieren Register der palästinensischen Bevölkerung als „Einwohner der Westbank“ eingetragen. Das bedeutete nach den israelischen Einreisebestimmungen, sie konnten beantragen, dorthin zurückziehen zu dürfen – aber Adam, als „Gaza-Bewohner“ registriert, durfte nicht mit.

53 Jahre nach der mit dem Sechs-Tage-Krieg erfolgten Besetzung, 27 Jahre seit dem Oslo-Abkommen und 15 Jahre nach dem Rückzug aus dem Gazastreifen besitzt Israel weiterhin die exklusive Macht, um zu entscheiden, wer nach Gaza gehört und wer in die Westbank. Kann ein Bürger aus dem Gazastreifen keine Legitimation vorweisen, um im Westjordanland zu leben, gilt er dort als „illegaler Ausländer“ – auch ein Dreijähriger. Die anhaltende Kontrolle über das palästinensische Einwohnerregister sichert die nötige Macht, um über das Schicksal von Millionen Menschen zu bestimmen. Das betrifft ganz alltägliche, aber ebenso einschneidende Fragen. Es wird unter anderem entschieden, wen man lieben und wo sein Leben zubringen darf, welche Lebensmittel im Supermarkt um die Ecke zu haben sind, welches Unternehmen welche Waren und welche Dienstleistungen anbieten kann.

Ob die Westbank nun in Teilen annektiert wird oder nicht, ob Donald Trumps Nahostplan umgesetzt wird oder nicht – Israels Kontrolle der Freizügigkeit bleibt. In den vergangenen Jahren erhielt diese Politik den Namen „Teilungspolitik“. Ohne dass die damit verfolgten Ziele je formal erklärt wurden, sind Vertreter des Staates mit Eifer dabei, sie vor Gerichten bei Fällen wie denen des jungen Adam zu verteidigen. Begründung: Die Minimierung von Kontakten und Reisen diene dazu, einen „Transfer terroristischer Infrastruktur“ zu verhindern. Auch wenn der Antragsteller ein Dreijähriger ist und nicht einmal Kekse aus Gaza City nach Ramallah geliefert werden dürfen? Adams Geschichte wirkt so absurd wie bezeichnend. Seine Mutter Kawthar stammt zwar ursprünglich aus der Westbank, heiratete aber einen Palästinenser aus dem Gazastreifen und folgte ihm dorthin. 2012 gelang es ihr, sich und vier ihrer Kinder als Westbank-Bewohner registrieren zu lassen – nicht jedoch ihren jüngsten, 2013 geborenen Sohn.

Dynamik der Besatzung

Prompt geriet Kawthar in ein unlösbares moralisches Dilemma. Sie hatte die Wahl: entweder vier Kindern die Chance auf ein Leben in der Westbank ohne grassierende Armut und häufige Luftangriffe bieten, indem sie ihr jüngstes Kind im Gazastreifen zurückließ, oder die Familie zusammenhalten und dort ausharren. So wurde Adam 2017 einer der jüngsten Antragsteller vor Israels Oberstem Gericht. Nach einem über zwei Jahre andauernden Rechtsstreit wurde ihm schließlich kurz vor seinem sechsten Geburtstag die Erlaubnis erteilt, mit der Familie ins Westjordanland überzusiedeln.

Die Besatzung dauert schon so lange an, dass ihre Bürokratie über eine eigene Dynamik und Logik verfügt. Das heißt, es lässt sich einfach nicht mit dem Gebot der Sicherheit argumentieren, wenn man den Umzug eines Dreijährigen von hier nach dort blockiert. Stattdessen wird durch ein bürokratisches System dafür gesorgt, dass so wenige Palästinenser wie möglich in der Westbank leben.

Der Territorialanspruch und die Ziele des israelischen Staates dort sind eindeutig. Immer mehr Siedlungen befinden sich nicht aus Sicherheitsgründen in diesem Gebiet, sondern weil ein Teil der Gesellschaft, der enorme Macht besitzt, der Ansicht ist, er dürfe über dieses Land verfügen. Und das ohne jede Verpflichtungen gegenüber den Palästinensern, die nebenan wohnen. Die Siedler und ihre Helfer verstecken sich nicht einmal mehr hinter der heiligen Kuh „Sicherheit“. Sie tun alles, um eine Realität zu zementieren, in der die Palästinenser auf unbestimmte Zeit beherrschbar bleiben.

Tania Hary ist Geschäftsführerin der israelischen Non-Profit-Organsation Legal Center for Freedom of Movement. Dieser Text erschien zuerst bei der Zeitung Haaretz

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

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