Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat mit seiner Aufsatzsammlung Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung im Jahr 2000 das eurozentrische Geschichtsbild herausgefordert und zurechtgerückt. In seinem soeben erschienenen Buch The Climate of History in a Planetary Age fragt Chakrabarty, was der Klimawandel für eine Sozialwissenschaft wie die Geschichtsschreibung bedeutet. Seine These: Das, was wir bisher unter Begriffen wie Geschichte oder Globalisierung verstanden, muss samt und sonders neu gedacht werden.
der Freitag: Herr Chakrabarty, Sie waren einer der ersten Historiker, die sich mit dem Anthropozän auseinandergesetzt haben, also der Idee, dass wir in ein neues Erdzeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen und atmosphärischen Prozesse auf unserem Planeten geworden ist ...
Dipesh Chakrabarty: Wir Historiker waren damit sehr spät dran. Seit der Rio-Konferenz der Vereinten Nationen 1992 stand die Frage der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Klimawandel auf der Agenda. Zunächst haben sich die Ökonomen mit den Risiken des Anthropozäns auseinandergesetzt, später auch einige Philosophen. Aber die Historiker haben das lange nicht wahrgenommen. Im Jahr 2000 bat die American Historical Review einen Historiker aus Harvard, Charles Maier, um eine Art Zusammenfassung des 20. Jahrhunderts. In dem Artikel schrieb Maier über die beiden Weltkriege, über Nationalsozialismus und Faschismus, über Dekolonialisierung, Feminismus und die Bürgerrechtsbewegung in den USA – aber mit keinem Wort über den Klimawandel. Erst in den vergangenen 20 Jahren ist uns dessen Bedeutung bewusst geworden. Und das, obwohl die Fakten längst bekannt waren. Bereits 1988 hatte der Klimaforscher James Hansen den US-Kongress eindrücklich darüber aufgeklärt, dass der steigende CO₂-Gehalt in der Atmosphäre zur Erderhitzung führt.
Warum haben die Historiker so lange gebraucht?
Edward Said, Homi Bhabha, Stuart Hall und auch ich, wir haben uns vor allem mit der Dekolonialisierung und der Globalisierung beschäftigt. Unsere Annahme war, dass es bei den wirklichen Problemen der Geschichte der Menschen um Fragen der Gerechtigkeit und Ungleichheit geht – und dass diese Probleme nur gelöst werden können, indem man den Kapitalismus infrage stellt oder zumindest einen Kapitalismus mit einem starken Sozialstaat anstrebt. Aber wir waren blind für Umweltfragen.
Das, obwohl man im Globalen Süden schon früh begann, sich mit der Klimaveränderung auseinanderzusetzen?
Auf der Rio-Konferenz 1992 argumentierten die indischen Delegierten, die Erderhitzung sei zwar jedermanns Problem, aber nicht jedermanns Verantwortung. Der Westen sei wegen seines Überkonsums verantwortlich. Damit haben die indischen Delegierten die Frage des Imperialismus in die Klimadebatte gebracht.
Aber damit hatten sie ja durchaus recht: Es sind schließlich die reichen, kapitalistischen Industrieländer des Nordens, welche die Hauptverantwortung für die Klimakrise tragen. Um das zu benennen, sprechen viele Wissenschaftler*innen nicht vom Anthropozän, sondern vom Kapitalozän. Was halten Sie davon?
Als ich begann, mich mit dem Klimawandel zu beschäftigten, waren die Begriffe Kapitalozän oder auch Plantanozän – das Zeitalter der Plantagenwirtschaft – sehr wichtig für mich. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt wird diese Debatte unproduktiv. Natürlich hat der Kapitalismus etwas mit dem Anthropozän zu tun, aber nicht nur der Kapitalismus, sondern die Idee von Entwicklung im Allgemeinen, ob sie nun von einer sozialistischen oder einer kapitalistischen Regierung vorangetrieben wird.
Zur Person
Dipesh Chakrabarty, 73, wurde in Kalkutta, Indien, geboren. Chakrabarty war Gründungsmitglied des Redaktionskollektivs der Zeitschrift Subaltern Studies. Derzeit ist er Professor für Geschichte und Südasiatische Sprachen an der Universität Chicago. 2014 wurde er mit dem Toynbee Foundation Prize ausgezeichnet. Jüngst forscht Chakrabarty zur politischen Ideengeschichte Südasiens sowie zu einer Kulturgeschichte des muslimisch-bengalischen Nationalismus.
Sie haben den Planeten als neue humanistische Kategorie in die Debatte gebracht. Was ist denn der Unterschied zwischen dem Globus und dem Planeten?
Der Planet ist das, was die Wissenschaftler das Erdsystem nennen. Das unterscheidet sich von dem, was die Astronauten sehen, wenn sie aus dem Fenster gucken: dem Globus. Der Globus ist die vernetzte Sphäre, die wir durch Infrastruktur und Technik geschaffen haben: eine menschliche, eine anthropozentrische Konstruktion. Wenn man die Geschichte der Globalisierung erzählt, kommen darin Menschen als Helden vor. Das Erdsystem, der Planet, ist etwas ganz anderes. Der Held der planetaren Geschichte ist ein abstraktes Etwas: komplexes multizelluläres Leben. Oder eher die Tatsache, dass sich das Leben auf der Erde erhalten hat. Im planetaren Denken geht es um Habitabilität, also darum, die Erde als einen Ort, auf dem Leben möglich ist, zu erhalten.
Was können wir dafür tun?
Nun, dazu gibt es unmittelbar-praktische Vorschläge und solche, die die fernere Zukunft betreffen. Letztere, etwa von Bruno Latour oder Donna Haraway, sprechen über das politische Zusammenleben von menschlicher und nicht-menschlicher Welt. Sie denken in Richtung einer Demokratie, die auch nicht-menschliches Leben einschließt: also die Utopie einer planetaren Regierung, die eine Assoziation aller Spezies ist. Dazu bräuchten wir aber eine gemeinsame Sprache, in der wir mit Eisbären, Hunden, Elefanten und Mikroben kommunizieren können.
Utopisch, in der Tat. Und die praktischen Vorschläge?
Die praktische Lösung wäre, dass die Nationalstaaten etwas von ihrer derzeitigen Macht abgeben. Ein Beispiel: Die Flüsse, die aus den Gletschern des Himalaja gespeist werden, versorgen acht oder neun Länder mit Wasser. Aber diese Gletscher werden allesamt als jeweiliges nationales Eigentum betrachtet, es gibt kein multilaterales Abkommen dazu zwischen China, Indien, Pakistan und Bangladesch. So etwas bräuchte es aber. Auch Corona hat gezeigt, wie wichtig die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist. Die Nationalstaaten müssen dazu etwas von ihrer Macht abgeben.
Welche Rolle wird der Kapitalismus dabei spielen? Ist die Dekarbonisierung der Wirtschaft eine Lösung?
Natürlich sollen die kapitalistischen Volkswirtschaften dekarbonisiert werden, so tiefgreifend wie möglich und so schnell wie möglich.
Wird sich der Kapitalismus durch den Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise im Anthropozän selbst retten?
Ich denke, der Kapitalismus kann sich nur dadurch retten, dass er sich radikal von seiner derzeitigen konsumorientierten Version wegbewegt – das, was oft als neoliberaler Kapitalismus bezeichnet wird. Diese von Thatcher und Reagan geförderte Spielart des Kapitalismus geht davon aus, dass sie sich die Welt – also Biosphäre, Atmosphäre und Lithosphäre – zu eigen machen kann. Solange wir mit Kapitalismus eine Weltwirtschaft meinen, in der jeder und jede auf dem Niveau der wohlhabenden Schichten in den USA oder anderen entwickelten Volkswirtschaften konsumiert, wird der Kapitalismus auf lange Sicht nicht überleben. Aber wenn wir unter Kapitalismus ein System verstehen, das Unternehmergeist mit einer sozialen Regulierung von Technologie und einem großen Einsatz für soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit und Biodiversität verbindet, dann sollten wir das anstreben.
Halten Sie es für wünschenswert, dass sich der Kapitalismus auf diese Weise erneuert?
Der Kapitalismus ist das, was wir derzeit haben, in verschiedenen Formen, von der chinesischen zur US-amerikanischen oder einer deutschen oder europäischen Spielart. Im weiteren Verlauf der Geschichte werden sich dann vielleicht postkapitalistische Optionen auftun: Entweder, weil der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, an den drohenden Umweltkrisen scheitern wird, denen die Menschheit entgegensieht, oder weil diese Krisen dazu beitragen, den Kapitalismus auf eine Art und Weise zu verändern, die ziemlich radikal erscheinen mag. Stellen Sie sich eine kapitalistische Welt vor, in der es ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle gibt, in der sich Formen demokratischen globalen Regierungshandelns herausgebildet haben und in der man sich um soziale Gerechtigkeit und die Umwelt kümmert. Eine solche Welt wird jenseits dessen liegen, was wir heute als neoliberalen Kapitalismus bezeichnen.
In Deutschland hat das Wuppertal Institut die Diskussion um Postwachstum geprägt.
Postwachstum ist wahrscheinlich der Weg, auf den wir zusteuern wollen. Die Menschheit als Ganzes wird lernen müssen, genügsamer zu leben, als es die derzeitigen Konsummuster der Reichen nahelegen. Ich persönlich glaube aber nicht, dass wir global gesehen schon in die Postwachstumsphase steuern. Es gibt immer noch Massenarmut in vielen Ländern der Welt, etwa in Indien und China. Um den Armen der Welt – einem sehr großen Teil der Menschheit – die materiellen Vorteile der menschlichen Zivilisation, also lebensrettende Technologien, Gesundheit und Bildung, zukommen zu lassen, bräuchten wir mehr und nicht weniger Energie, größere und nicht kleinere Volkswirtschaften. Allerdings ohne die Umwelt dabei zugrunde zu richten.
Wie ließe sich das erreichen?
Wir müssen eine Welt-Ethik der Fürsorge für andere Formen des Lebens und auch für nicht-lebende Dinge und Prozesse entwickeln. Es ist ein langer Weg, den uns eine Ethik der Suffizienz und der Postwachstumsbegriff als Leitideen weisen. In Indien, vielleicht auch außerhalb Indiens, bleibt die Figur Gandhis in dieser Hinsicht beispielhaft.
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