Mit 21 hat er eine Biogärtnerei gegründet und mit 50 ein Studium abgeschlossen, inzwischen ist er Master of Social Banking and Social Finance. Aus seinen Erfahrungen in der Biolandwirtschaft hat Christian Hiß die Idee der Regionalwert AG entwickelt: eine Bürgeraktiengesellschaft, die Biobauernhöfe und Lebensmittelhandwerker finanziert und Restaurants gründet, um damit regionale und ökologische Wertschöpfungsketten aufzubauen.
der Freitag: Herr Hiß, in Ihrem Buch „Richtig rechnen“ fordern Sie eine Reform der Finanzbuchhaltung – um damit endlich die ökologische Transformation unserer Gesellschaft voranzubringen. Wo verrechnen sich denn die Buchhalter?
Christian Hiß: Mit der Einführung der doppelten Buchhaltung in die Landwirtschaft im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat man übersehen, dass sich die Bedingungen der Agrarwirtschaft grundsätzlich von der Ökonomie anderer Branchen unterscheiden. Im Handelsbetrieb kommt es im Wesentlichen darauf an, Waren einzukaufen und sie mit wohlkalkulierten Aufschlägen auf den Einkaufspreis wieder zu verkaufen. In der Landwirtschaft ist das anders: Dort findet kein Einkauf statt, sondern die wiederkehrende Nutzung der natürlichen Ressourcen Boden, Wasser und Biodiversität. Die aber unterliegen den Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen. Das bedeutet, dass sie zwar grundsätzlich unerschöpflich sind, aber bei andauernder Nutzung ohne Phasen der Regeneration kontinuierlich abnehmen.
In der betriebswirtschaftlichen Bilanz werden die natürlichen Ressourcen eines Hofes wie die Fruchtbarkeit der Böden, die Artenvielfalt oder die Reproduktionsfähigkeit der Nutzpflanzensorten nicht berücksichtigt, obwohl sie zwingend zum Wirtschaftskapital eines landwirtschaftlichen Betriebes zu zählen sind.
Zur Person
Christian Hiß, Jahrgang 1961, in Freiburg gründete er 2006 die Regionalwert AG. Drei Jahre später wurde ihm vom Nachhaltigkeitsrat der Preis „Social Entrepreneur der Nachhaltigkeit“ verliehen. 2015 erschien sein Buch Richtig Rechnen! Durch die Reform der Finanzbuchhaltung zur ökologisch-ökonomischen Wende
Es ist eigentlich uraltes Bauernwissen, dass Boden, Saatgut und Biodiversität ein wichtiges Kapital für einen Hof sind. Wie konnte das überhaupt aus der Rechnung fallen?
Die Ursache dafür ist eine unvollständige betriebswirtschaftliche Rechnungslegung. Das Instrument der Buchhaltung und Bilanzierung ist bis heute blind auf dem Auge des Natur- und Sozialkapitals. Das Problem beginnt, so banal es scheint, tatsächlich mit der Methode der Buchhaltung. Die Buchhaltungskonten sind so etwas wie Sensoren für den realen Betriebsprozess. Sie nehmen die Daten und Informationen nach einem vorgegebenen Schema auf. Gibt es kein Konto für ökologische Belange des Wirtschaftens, werden dazu auch keine Daten und Werte erhoben. Ein existentiell wichtiger Einfluss auf die Wirtschaftskraft eines Betriebes fällt so aus der Sichtbarkeit und der Bewertung heraus. Die Effekte verstärken sich mit der Zeit. Um dies zu ändern, muss der landwirtschaftliche Kontenplan künftig neue Konten für soziale und ökologische Leistungswerte enthalten.
Sie haben lange einen landwirtschaftlichen Betrieb geführt und wollen nun das gesamte Wirtschaftssystem transformieren. Was hat Sie dazu gebracht?
Ich bin auf einem der ersten Biohöfe Deutschlands, in Eichstetten am Kaiserstuhl in der Nähe von Freiburg im Breisgau geboren und aufgewachsen. Meine Eltern haben Anfang der 1950er Jahre den Bioanbau begonnen. Ich lernte Gemüsegärtner, machte mich sehr jung mit einem eigenen Biobetrieb selbständig. Ich habe einen vielfältigen Betrieb aufgebaut und viele ökologische, soziale und regionalwirtschaftliche Leistungen erbracht. Um die Jahrtausendwende herum ist der Öko-Landbau zunehmend industrialisiert worden und der Bio-Betrieb der alten Schule wurde zunehmend unrentabel, weil er die Leistungen nicht mehr über den Preis abdecken konnte.
Ich habe mich dann auf die Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung gemacht und festgestellt, dass der Bio-Anbau von denselben betriebswirtschaftlichen Treibern gesteuert wird wie die konventionelle Landwirtschaft in den Jahrzehnten davor. Die Bio-Bewegung hat es versäumt, darauf rechtzeitig zu reagieren und auch die Betriebswirtschaft neu auszurichten.
Und deshalb haben Sie die Bürgeraktiengesellschaft als Alternativmodell entwickelt?
Wir haben die Regionalwert AG Bürgeraktiengesellschaft gegründet und versucht, das notwendige Kapital für nachhaltig wirtschaftende Betriebe der Land- und Ernährungswirtschaft von den Bürgern einzuwerben. Damit war die Hoffnung verbunden, dass Privatleute die sozialen, ökologischen und regionalwirtschaftlichen Leistungen eher wertschätzen als die konventionelle Kapital- und Finanzwirtschaft. Die Regionalwert AG verkauft Aktien und erhält dadurch Kapital, mit dem sie dann kleine und mittlere Betriebe in der Region finanziert. Die Regionalwert AG vergibt kein Fremdkapital, also keine Darlehen an die Betriebe, sondern echte Beteiligungen. Die Bürgerinnen und Bürger sind somit über die Regionalwert AG gewinn- und verlustbeteiligte Mitgesellschafter. Ihnen, die ja von der Leistungsfähigkeit der regionalen Land- und Ernährungswirtschaft als Konsumenten profitieren, gehören Anteile der Betriebe, sie sind Miteigentümer.
Warum ist Ihnen die Regionalität so wichtig?
Unser Ziel ist die regionale Ernährungssouveränität. Dazu ist es notwendig, dass die gesamte Wertschöpfungskette für Nahrungsmittel in der Region aufgebaut wird. Auch Saatgut und Dünger sollen aus der Region kommen und nicht wie bisher aus der Ferne. Das ist leider selbst bei einem regional produzierten Produkt wie einem Blumenkohl heute üblich. Regionale Versorgungssicherheit ist ein Vermögenswert, der über Jahrzehnte keine Rolle gespielt hat, aber nun in Zeiten der Krise ganz oben steht.
Sie wollen die sozialen und ökologischen Leistungen von Betrieben erfassen und honorieren. Wie wollen Sie die messen?
Genau das haben wir in unserem Projekt „Richtig Rechnen in der Landwirtschaft“ erforscht. Wir als Regionalwert AG Freiburg haben zusammen mit der Forschungsgesellschaft Die Agronauten und vier landwirtschaftlichen Betrieben erarbeitet, wie Nachhaltigkeitsleistungen von Betrieben schematisch erfasst, bewertet und monetarisiert werden können. Ganz unterschiedliche Betriebe haben mitgemacht: ein konventioneller und ein biologisch arbeitender Gemüsebaubetrieb, ein biologisches Obstgut mit Gemüsebau und Hühnerhaltung und ein Bio-Gemischtbetrieb mit Viehhaltung. Unser Ziel war, so vollständig wie möglich abzubilden, was die Betriebe für die Erhaltung der Lebensgrundlagen und für ihre Region leisten. Etwa wie viele Facharbeitskräfte und wie viele Saisonarbeitskräfte beschäftigt sind. Hat ein Betrieb mehr als 50 Prozent saisonale Kräfte, so arbeitet er nicht nachhaltig und krisenfest.. Aber wir haben auch weitere Indikatoren für die Widerstandskraft bei Krisen erarbeitet. Insgesamt sind wir auf 150 Leistungsindikatoren gekommen. Nachdem wir ein ganzes Geschäftsjahr lang die Daten erfasst hatten, haben wir alles zusammengerechnet und den Betrieben ihre Nachhaltigkeitsbilanz vorgelegt. So konnten sie sehen, wie viel an Wert sie in die Erhaltung von Bodenfruchtbarkeit, in die biologische Vielfalt oder in die Schaffung von Wissen und Fähigkeiten investiert hatten. In der üblichen Buchhaltung gehen diese Werte unter.
Diese Leistungen müssten aber doch vergütet werden. Wie kann das gehen? Und wer sollte dafür zahlen?
Die Nachhaltigkeitsleistungen könnten dem Betrieb aus öffentlichen Mitteln wie den EU-Ausgleichszahlungen vergütet werden. Oder sie könnten dem Betriebsvermögen zugeschrieben werden. Auch eine steuerliche Begünstigung wäre denkbar. Am sinnvollsten wäre, man würde die Mehrleistung dem Produktpreis zuschlagen.
Aber dann wären die nachhaltigen Produkte doch teurer als die nicht nachhaltig produzieren. Das wollen Sie doch vermeiden?
Das ginge nur, wenn gleichzeitig auch Abgaben oder Risikorückstellungen für nicht nachhaltige Produktionsweisen eingeführt würden, etwa für CO2, Pestizide oder importiere Futtermittel. So würden Produkte, die nicht nachhaltig produziert sind, teuer und nachhaltig produzierte im Verhältnis günstiger.
Überall in Deutschland sind Landwirte in den letzten Monaten auf die Straße gegangen, weil sie für ihre Produkte oft weniger Geld bekommen, als es kostet sie zu erzeugen. Und weil sie fürchten, dass sie sich Insektenschutz und Wasserschutz nicht leisten können, ohne dabei pleite zu gehen. Keine guten Zeiten, um noch mehr Nachhaltigkeit einzufordern, oder?
Doch, denn Frage, wie landwirtschaftliche Betriebe nachhaltiger arbeiten und dabei noch rentabel wirtschaften können, mobilisiert derzeit viele. Zwischen dem realen Preisdruck und berechtigten Forderungen nach sozialen, ökologischen und regionalökonomischen Leistungen besteht ein Spannungsfeld, das sich zu einer gesellschaftspolitischen Kontroverse von enormem Ausmaß aufgebaut hat. Es wird in diesem Zusammenhang viel von ´Wertschätzung´ gegenüber den Lebensmitteln und der Arbeit der Landwirtinnen und Landwirte gesprochen. Ein durchaus richtiger Ansatz, doch darüber, wie diese ,Wertschätzung‘ in der Praxis operationalisiert werden kann, darüber herrscht Unklarheit. Man kann noch so viel Wertschätzung einfordern, am Ende ist der betriebswirtschaftliche Erfolg entscheidend. Solange das Anreizsystem von der maximalen Externalisierung ökologischer und sozialer Verluste und Risiken ausgeht, wird sich selbst durch höhere Erzeugerpreise nicht viel ändern; im Gegenteil, die soziale und ökologische Ausbeutung wird sich eher noch beschleunigen.
Deshalb müssen sich Umwelt- und Nachhaltigkeitsleistungen in der Buchhaltung niederschlagen?
Die Anpassung der Erfolgsrechnung, sprich der betrieblichen Buchhaltung und Bilanzierung an die Erfordernisse der Zukunft, ist die einzige Möglichkeit für eine sinnvolle Lösung der Situation. Den landwirtschaftlichen Betrieben müssen Instrumente und Methoden zur Werteermittlung an die Hand gegeben werden, die ihnen ermöglichen, ihre Leistungen für nachhaltiges Wirtschaften aufzuzeigen. Die Betriebsleiter müssen lernen, ihre geschaffenen Werte und Leistungen, aber auch Risiken und Schäden zunächst ins eigene Bewusstsein, dann in die betriebliche Abstraktion und schließlich ins Bewusstsein ihrer Marktpartner und letztlich der Gesellschaft zu heben. Das ist die entscheidende Voraussetzung für eine leistungsgerechte Bezahlung ihrer Arbeit. Nachhaltiges, sowie auch nicht-nachhaltiges Wirtschaften muss sich im betriebswirtschaftlichen Zahlenwerk abbilden, denn wie vielfach bekannt, ist das betriebswirtschaftliche Ergebnis von durchschlagender Wichtigkeit bei der Kapitalbeschaffung, der Preisbildung und der Beurteilung des Betriebserfolgs.
Um wie viel Geld geht es denn da?
In unserem Projekt haben wir errechnet, dass durchschnittlich etwa zusätzliche zwölf Prozent vom jetzigen Umsatz der Betriebe ausreichen würden, um die wesentlichen Nachhaltigkeitsleistungen finanzieren zu können. Das ist nicht viel – angesichts der großen Wirkung, die damit erreicht werden kann. Schon 300 Euro pro Hektar reichen, um Ackerboden fruchtbar zu halten. Rechnet man unsere Ergebnisse hoch auf die deutsche Landwirtschaft, bräuchte man circa fünf Milliarden Euro, um die Landwirten für eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu bezahlen. Die Agrarausgleichszahlung der EU an die deutschen Landwirte beträgt jährlich um die sechs Milliarden. Das Geld wäre also vorhanden, man müsste es nur leistungsgerechter auszahlen. Wichtig dabei ist, dass die Betriebe das Geld nur für die in der Buchhaltung nachgewiesenen sozialen, ökologischen und regionalwirtschaftlichen Leistungen erhalten dürfen.
Das klingt schlüssig, aber gibt es realistische Chancen, das umzusetzen?
Ja, ohne Zweifel, denn bereits vor der Corona-Krise haben sich einige wichtige Unternehmen und Institutionen auf den Weg gemacht, die Reform der Erfolgsmessung von Unternehmen, nicht nur der Landwirtschaft, im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeitsleistungen auf den Weg zu bringen. Allen voran die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Sie hat Ende 2019 ein Merkblatt herausgegeben, in dem Banken und anderen Finanzinstitute aufgefordert werden, die Risiken, die sich aus nicht nachhaltigem Wirtschaften ergeben, in ihrer Bilanz zu berücksichtigen. Damit wurde eine über Jahrzehnte bestehende Forderung nach Internalisierung externer Effekte in die Unternehmensrechnung auf den Weg gebracht. Wenn Banken bald ihre Risiken, die sich aus nicht nachhaltigem Wirtschaften ihrer Kreditnehmer ergeben berücksichtigen müssen, werden wir automatisch eine andere Landwirtschaft erhalten. Die EU hat mit ihrem neuen Megaprogramm, dem New Green Deal, den politische Rahmen dafür geschaffen. Da ich in diese Bewegung sehr involviert bin, weiß ich, dass wir jetzt eine sehr große Chance haben, die notwendige Transformation im Wirtschaften umzusetzen. Wir von der Regionalwert AG Freiburg und drei weitere Unternehmen arbeiten mit dem Softwareunternehmen SAP an einer Methode, wie Werte, die sich aus den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, den SGDs, ergeben, in die Unternehmenssteuerung implementiert werden können. Quarta Vista heisst das Projekt, es wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.
Läuft die Nachhaltigkeit im Zuge der Corona-Pandemie nicht Gefahr, aus dem Fokus zu geraten?
Die Corona-Krise wird den Prozess der Transformation der Land- und Ernährungswirtschaft hin zu neuen Wertsetzungen enorm beschleunigen, weil sie die Risiken in der Landwirtschaft und der Versorgung mit Lebensmitteln schlagartig sichtbar und spürbar macht. Dabei hatte ich immer sehr gehofft, dass wir ohne eine Krise, nur aus der betriebswirtschaftlichen und unternehmerischen Vernunft die Transformation schaffen.
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