Wer in den vergangenen Jahren Debatten über Agrar- und Ernährungspolitik verfolgt hat, hörte immer und immer wieder dasselbe Fazit: So, wie es läuft, kann es nicht weitergehen. Zu viele Verlierer, zu großer Schaden. Jedes Mal sind sich fast alle auf dem Podium einig: Ja, jeder muss etwas tun und beitragen, Landwirt*innen wie Konsument*innen. Vor allem aber braucht es politischen Willen. Die Agrar- und Ernährungspolitik muss sich ändern. In Brüssel, in Berlin und in den Bundesländern. Dann nicken alle und gehen auseinander und wieder passiert viel zu wenig. Bis zur nächsten Diskussionsrunde oder Demonstration.
Egal ob bei „Wir haben es satt“ Zehntausende Natur- und Umweltschützerinnen mit Bäuerinnen durch Berlin ziehen o
n ziehen oder Tausende Protestbauern von „Land Schafft Verbindung“: Eine grundsätzliche Richtungsänderung der Agrarpolitik bleibt bis heute schlicht und einfach aus.Währenddessen wird da draußen alles immer schlimmer: Die Wildbienen, Käfer und Vögel verschwinden, die Höfe sterben, junge Turteltauben verhungern, Naturschützer verzweifeln und junge Landwirte blockieren Zentrallager von Lebensmittelketten. Der elende Stillstand der vergangenen Jahre ließ sich nur ertragen, weil es nach der Bundestagswahl anders würde, das haben viele gehofft. Weil es sonst gar nicht mehr auszuhalten wäre.Der Transformationsdruck ist so hoch wie nie: Die Klimakrise erfordert einen anderen Umgang mit dem Boden und die Abkehr von viel zu viel Fleischproduktion. Die ist wiederum mit für die bedenklich zu hohen Nitratwerte im Grundwasser verantwortlich, die schon in einigen Gegenden höhere Wasserpreise verursachen. Die Biodiversitätskrise erfordert eine radikal andere Landwirtschaft mit viel weniger Pestiziden und viel mehr Vielfalt, mit Bäumen, Hecken, Streuobstwiesen, breiten Feldrändern und großen zusammenhängenden Weidelandschaften mit Rindern und Schafen als Landschaftsgestaltern.Wir stecken mitten im sechsten großen Massenaussterben der Erdgeschichte, Ökologinnen warnen vor dem Kollaps ganzer Ökosysteme, da reichen kleine Naturschutzgebiete innerhalb von Agrarwüsten nicht mehr aus. Gleichzeitig brauchen die um ihre Existenz kämpfenden Höfe endlich faire Erzeugerpreise, um ihre Ställe tiergerecht umzubauen und ihre Felder und Weiden vielfältiger zu gestalten. Das bedeutet: Sie müssen mit weniger Tieren und mit weniger Ertrag mehr Geld verdienen.Ob die Ampel sich was traut?Schließlich steckt Deutschland in einer Ernährungskrise: Wir haben ein Ernährungssystem geschaffen, das viele Menschen krank werden lässt durch falsche Ernährung – zu süß, zu fett, zu einseitig, zu hoch verarbeitet, zu viel Fleisch. Die Krankenkassen rechnen vor, dass die Kosten durch ernährungsbedingte Krankheiten Milliardenhöhe erreichen. Auch sie fordern ein Handeln der Politik, weil die Forschung zeigt, dass es eben nicht den Einzelnen überlassen werden darf, aus der ungesunden Ernährung auszubrechen, wenn ihr Weg zur Arbeit von Werbeplakaten und Fastfood-Restaurants gesäumt ist, und die gesunden Alternativen zu teuer sind und nicht in ihren Alltag passen.Man würde davon ausgehen, dass all das auch für die kommende Ampelkoalition Priorität hat. Doch zumindest in ihrem Sondierungspapier klaffte ein merkwürdiges Loch. „Wirksame Maßnahmen zum Schutz der Natur“ wurden da zwar versprochen, auch die Landwirtschaft wolle man „unterstützen“ – aber wie genau, das blieb seltsam unkonkret. Dabei wäre doch auch der Zeitpunkt günstig wie selten gewesen; die Medien waren voll von Berichten über den Klimagipfel in Glasgow und den Biodiversitätsgipfel in Kunming. Die hatten den Rahmen gesetzt: Es geht ums Überleben.Im Sondierungspapier hieß es noch, der „Einsatz von Pflanzenschutzmitteln“ soll „auf das notwendige Maß beschränkt werden“ – was je nach Anbausystem etwas völlig anderes bedeutet. Gleichzeitig wurde sowohl auf ein Tempolimit als auch auf Steuererhöhungen verzichtet – die es aber bräuchte, um den Umbau der Landwirtschaft anzupacken. Ob der Ampelkoalitionsvertrag diese Leerstellen korrigieren würde, war zu Redaktionsschluss noch nicht abzusehen.Eigentlich wären die Zeiten richtig gut für den großen Aufbruch: In den letzten Jahren haben die wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien eine Reihe von Vorschlägen erarbeitet, wie der dringende Umbau der Landwirtschaft in Deutschland gelingen und finanziert werden könnte. Auch das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung – die sogenannte Borchert-Kommission – hat Finanzierungsvorschläge für eine bessere Haltung für alle Tiere gemacht, die weit über eine bloße Haltungskennzeichnung hinausgeht – und zwar nach Stakeholder-Dialogen mit allen Akteuren, mit Landwirt*innen und Tierschützer*innen. Ebenso die Zukunftskommission Landwirtschaft, die Angela Merkel als Reaktion auf die Treckerproteste 2019 einsetzte. Darin waren Verbände vertreten, die sich über Jahre spinnefeind gewesen waren, nun aber – motiviert durch zwei konstruktive junge Frauen – gemeinsame Empfehlungen für eine tier-, natur- und klimafreundlichere Landwirtschaft erarbeitet haben.Deshalb müsste es für eine neue Regierung selbstverständlich sein, auf die vielen Lösungsvorschläge der Kommissionen und Beiräte aufzubauen, sie umzusetzen und weiterzuentwickeln: von der Vorarbeit der innovativen Macher der ökologischen, regenerativen und solidarischen Landwirtschaft, vom Agroforst zu den Ernährungsräten. Und welche Synergien dabei freigesetzt werden könnten!Die Vorarbeit ist getanMan stelle sich vor, die Landwirt*innen würden in Zukunft eine große Vielfalt unterschiedlicher Arten und Sorten anbauen, um die Menschen in ihrer direkten Umgebung vielfältiger zu ernähren, und gleichzeitig Bäume und Hecken pflanzen, die Kohlenstoff binden würden. Die Vielfalt auf den Feldern hätte einen direkten Nutzen für die Biodiversität, die Vielfalt auf den Tellern hätte einen direkten Nutzen für die Gesundheit der Menschen. Gleichzeitig würden Boden und Wasser geschützt.Um das zu organisieren, bräuchte es ein neues Leitbild, das nicht mehr auf die Entwicklung einzelner Höfe als Rohstofferzeuger für die Weltmärkte setzt, sondern Agrarpolitik als Landschaftsgestaltung sieht, etwa so, wie es im Leitbild der Deutschen Agrarforschungsallianz DAFA steht: eine „Landschaftswirtschaft mit koordinierter Ökosystembewirtschaftung“. Natürlich finanzieren die Märkte all das nicht, deshalb schlagen sämtliche Papiere eine öffentliche Förderung für diesen Umbau vor.Öffentliche Kantinen könnten ihren Teil beitragen: Hätten sie den Auftrag und das Geld, vielfältige ökologische oder nachhaltig angebaute Lebensmittel aus der Region zu fairen Preisen zu verarbeiten, wäre das eine Chance für Landwirtschaft und Ökosysteme gleichermaßen. Dazu sollte es regionale Foren geben, in denen alle Akteure aus Naturschutz, Landwirtschaft, Bildung, Lebensmittelverarbeitung Gastronomie, Wasserwirtschaft und Energieversorgung gemeinsam regionale Ernährungs- und Biodiversitätspläne entwerfen, sich vernetzen und bürokratische Hürden aus dem Weg räumen. Und schließlich eine Wirtschaftsförderung für starke regionale Wertschöpfungsketten.