Kein Bruch! Ein Übergang

Brasilien Die demokratische Revolution des Präsidenten Lula will ohne historisches Vorbild sein

Unter den linken Intellektuellen Brasiliens, die früher das politische Projekt des Gewerkschaftsführers "Lula" da Silva und seines Partido dos Trabalhadores (PT) unterstützt haben (s. Freitag 29/2003), kommt eine immer ungehaltenere Kritik am Präsidenten "Lula". Dessen Widersacher hatten stets ein politisches Dogma bekämpft, das Rezession und Erwerbslosigkeit als entscheidende Bedingung einer wirtschaftlichen Erholung rechtfertigt. Jetzt müssen sie mit Befremden feststellen, dass sich in der Regierung die Überzeugung durchsetzt, es genüge, die Inflation niedrig zu halten und ein marktwirtschaftliches Image zu haben, dann würden sich alle Probleme in Wohlgefallen auflösen. Zu den Verteidigern Lulas gehört Tarso Genro, derzeit in Brasilia Minister des Sekretariats für wirtschaftliche und soziale Entwicklung und Mitglied der Nationalen Leitung des PT. Zuvor war er Bürgermeister der PT-geführten Administration in der Millionenstadt Porto Alegre.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums jubeln die Verteidiger des Neoliberalismus und Gegner unserer Partei. Sie loben die Regierung, ironisieren mit viel Schadenfreude den "verflossenen Radikalismus des PT" und sonnen sich in dem Gefühl, schon immer im Recht gewesen zu sein, die augenblickliche Politik des Präsidenten Lula bestätige das.

Nach meiner Auffassung verfolgt die Regierung nicht mehr und nicht weniger als eine traditionelle Politik, indem sie versucht, zunächst einmal die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für einen neuen Entwicklungsweg zu schaffen. Unter den gegebenen internationalen Bedingungen soll ein Übergang - kein Bruch! - vollzogen werden. Der einzige Übergang, der möglich erscheint - es sei denn, man entschließt sich zur Revolution -, führt über Verhandlungen und zwar nach außen und innen. Priorität genießt die soziale Basis des Wandels, im Parlament und in der Gesellschaft. Wir sind davon überzeugt, dass der Markt nicht einfach toleriert werden sollte, sondern dass wir uns sehr intensiv mit ihm auseinandersetzen müssen, um mittelfristig aus dem Sumpf der Spekulation heraus zu kommen, der sich in der brasilianischen Ökonomie seit den Tagen der Regierung von Collor de Mello (1990-1992) ausgebreitet hat. Der Weg mag zwar schmal sein, doch es gibt ihn. Die Tatsache, dass ihn bis heute kein einziges Land in Lateinamerika und darüber hinaus beschritten hat, legt uns nahe, die Debatte in aller Bescheidenheit zu führen.

Die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts suchten nach inneren Akkumulationen, um große wirtschaftliche Sprünge zu finanzieren, indem sie vorzugsweise Banken und Industrieunternehmen enteigneten. Diese Akkumulationsquellen versiegten allerdings recht bald, und der Staat ging dann dazu über, die verbleibende Arbeitskraft mit aller Brutalität auszubeuten. Es ist daher historisch unpräzise und falsch, wenn behauptet wird, dass es die "Oberen" gewesen seien, die in Osteuropa die Entwicklung ihrer Länder bezahlen mussten. Denn die finanziellen Ressourcen, die den dortigen Revolutionen zur Verfügung standen, haben stets nur gereicht, um den Staat für einige wenige Monate zu alimentieren.

Es war der Staatskapitalismus - nicht der Sozialismus -, der 1949 die halbfeudale Ordnung in China und den amorphen autokratischen Staat 1917 im alten Russland ersetzt hat. Es ist daher kein Zufall, dass die Sowjetunion 1990/91 nicht mit Getöse, sondern mit einem Stöhnen zusammenbrach, während China schon Ende der siebziger Jahre den traditionellen Typ der Revolution ignorierte, um in die härteste Gangart einer Reformpolitik zu verfallen. Deren Credo lautete: Integration in den Weltmarkt, Börsenausrichtung, globaler Wettbewerb und wirtschaftlicher Progress nicht vorrangig dank technologischer Innovation, sondern dank brutaler Mehrwertbildung zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung, die ohne gewerkschaftliche und politische Rechte bleibt. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass wir in Brasilien vor einer wirklich atypischen Transition stehen. Wir sind davon überzeugt, dass die herrschende Wirtschaftskrise auf ein Scheitern des neoliberalen Modells hinweist, aber keine Überlebenskrise des Kapitalismus ist.

Unsere Situation ist daher in gewisser Weise "postrevolutionär", weil sie einerseits einen Abgleich mit den fehl geschlagenen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sucht, ohne diese zu kopieren, und weil wir andererseits keine Militarisierung der Gewerkschaften zulassen und jeden Versuch, die regierende Mitte-Links-Koalition mit ihrer parlamentarischen Mehrheit zu destabilisieren, für unverantwortlich halten. Es geht darum, ein Modell zu installieren, das sich durch folgende Merkmale auszeichnet: Hohe wirtschaftliche Zuwachsraten, die dank eines weltweit kompatiblen Produktionssektor möglich werden, und eine demokratische Einkommensverteilung - getragen von breiten politischen Allianzen.

Was in Brasilien auf dem Spiel steht, ist keine Transition zum Sozialismus oder zu einer Volksdemokratie. Unser Horizont ist viel bescheidener. Wir suchen eine produktive, zivilisatorische und demokratische Plattform und hoffen, damit Bedingungen zu schaffen, die es den Menschen erlauben, für einen anderen Sozialismus zu kämpfen. Jedenfalls möchten wir uns in einer Situation wiederfinden, in der jeder Rückschritt hin zur Barbarei und zur Erstarrung ausgeschlossen bleibt. Wir wollen damit nicht zuletzt dem Schicksal der Länder entgehen, deren Revolutionen sich während des zurückliegenden Jahrhunderts in bürokratischen Diktaturen verloren haben.

Wir können Brasilien heute durchaus mit der Lage in Spanien nach dem Ende der Franco-Diktatur im Jahre 1976 vergleichen. Wäre dort gleich zu Anfang die marxistische Linke in den sozialen Verhandlungsprozess für die Transition eingestiegen, hätte man größere Fortschritte erzielen können, obwohl auch so die Mittel- und Arbeiterschichten für sich bedeutende Errungenschaften auszuhandeln vermochten. Wenn Lulas Regierung genau für dieses soziale Segment, besonders für die Arbeiterschaft, in Brasilien ähnliche "Eroberungen" vorweisen kann, wie sie seinerzeit im postfranquistischen Spanien möglich waren, dann können wir von einer demokratischen Revolution sprechen. In Spanien gewann die traditionelle marxistische Linke zu Beginn der Übergangsperiode nach Franco mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen - 25 Jahre später hat sich dieser Anteil halbiert, weil die entsprechenden Parteien der heutigen spanischen Gesellschaft keine attraktiven Angebote unterbreiten können und - schlimmer noch - völlig chancenlos sind, einen Lula an die Spitze der Regierung und des Landes zu bringen.

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