Nur Tanja wird übrig bleiben

Bluse mit Matrosenknoten Das Tagebuch einer zwölfjährigen Leningraderin aus den Jahren der Blockade zwischen 1941 und 1944

Beide waren sie beinahe gleichaltrig und schrieben über das Gleiche: das Schicksal ihrer Familien und den Schrecken des Faschismus. Beide starben, ohne dessen Niederlage zu erleben: die russische Mädchen Tanja Sawitschewa im Juli 1944, das jüdische Mädchen Anne Frank im März 1945. Die zwölfjährige Leningraderin hatte Ende Dezember 1941, etwas früher als Anne Frank, damit begonnen, ihr Tagebuch zu führen.

Ein Buch mit dem Titel Das Tagebuch der Tanja Sawitschewa wurde jedoch nie gedruckt. Jedoch lagen die erschütternden Aufzeichnungen über den Untergang einer großen Familie im Leningrad der Blockadezeit zwischen 1941 und 1944 als Dokument dem Nürnberger Tribunal vor - sie gehörten zu den Beweismitteln der Anklage im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher.

Augenblicklich ist Tanja Sawitschewas Tagebuch im Petersburger Museum für Geschichte ausgestellt, eine Kopie außerdem in einer Vitrine der Gedenkstätte Piskarjowskoje, der letzten Ruhestätte für 570.000 Opfer der 900 Tage dauernden Blockade Leningrads, bei der fast eine Million Menschen starben.

Blumen über Blumen

Tanja schrieb, von Hunger entkräftet, ungleichmäßig, nüchtern und wortkarg. Die durch unerträgliche Leiden zerbrochene Seele schien am Ende zu keinem Gefühl mehr fähig. Tanja protokollierte einfach die letzten Monate und Wochen ihres Lebens: die ständigen "Besuche des Todes in unserem Haus", wie sie schreibt.

"28. Dezember 1941. Schenja ist heute kurz nach Mitternacht gestorben."

"Oma ist am Nachmittag gegen drei Uhr gestorben, wir haben den 25. Januar 1942."

"Ljoka um fünf Uhr morgens gestorben, am 17. März 1942."

"Onkel Wassja um zwei Uhr nachmittags am 13. April 1942 verstorben."

"Onkel Ljoscha haben wir heute um vier Uhr nachmittags für immer verloren. 10. Mai 1942."

"13. Mai 1942, Mutti gegen acht Uhr früh gestorben. Jetzt sind fast alle tot. Nur ich bin übrig geblieben. Was soll nun werden?"

Tanja Sawitschewa ist die Tochter eines Bäckers und einer Schneiderin, das Nesthäkchen der Familie und von allen geliebt. Große graue Augen unter einem kastanienbraunen Pony, eine Bluse mit Matrosenknoten trägt sie oft und hat eine reine, helle Engelsstimme, die vielleicht eine Karriere als Sängerin verspricht. Alle Sawitschews sind musikalisch begabt. Maria Ignatjewna, die Mutter, bildet ein kleines Familienensemble: Zwei Brüder, Ljoka und Mischa, spielen Gitarre, Mandoline und Banjo. Tanja singt, die anderen begleiten sie im Chor.

Der Vater, Nikolai Rodionowitsch, ist schon früh gestorben, die Mutter muss danach die fünf Kinder allein groß ziehen. Doch als Schneiderin eines Leningrader Modehauses hat sie Mitte der dreißiger Jahre bald viele Kundinnen und verdient gut. Kunstvolle Stickereien schmücken die Wohnung der Sawitschews - Fenstervorhänge, Läufer, Tischdecken. Auch Tanja stickt viel: Blumen über Blumen, Vögel, Landschaften ...

Den Sommer 1941 wollen die Sawitschews in einem Dorf bei Gdow in der Nähe des Peipussees verbringen, aber nur Bruder Mischa schafft es noch, dorthin zu fahren. Mit dem 22. Juni, als über Straßenlautsprecher und im Rundfunk der deutsche Überfall und damit der Ausbruch des Krieges verkündet werden, sind alle Pläne hinfällig. Die Familie Sawitschew hört die Stimme Molotows und beschließt, in Leningrad zu bleiben, zusammenzuhalten und der Front zu helfen und damit der Stadt, die bald Front sein wird. Maria Ignatjewna, die Mutter, näht nun Soldatenblusen. Bruder Leonid, der wegen seiner schlechten Augen nicht einberufen wird, arbeitet als Transportarbeiter im Admiraltejski-Werk. Tanjas Schwester Schenja schleift Minengehäuse und dreht Granathülsen, Nina hebt Panzergräben aus. Tanjas Onkel - Wassili und Alexej Sawitschew - sind für die Luftabwehr eingeteilt.

Wenig Schnee

Auch Tanja macht sich nützlich. Zusammen mit anderen Kindern und Halbwüchsigen hilft sie den Erwachsenen, Brände zu löschen und verschüttete Keller freizulegen. Der Ring der Blockade zieht sich immer enger um die Stadt: Hitler will Leningrad "durch Hunger abwürgen und dem Erdboden gleichmachen".

Eines Tages kommt Schwester Nina nicht nach Hause, als die Stadt besonders heftig beschossen wird. Die Sawitschews warten voller Unruhe auf das Mädchen. Als ein Tag um den anderen verstreicht, schwindet auch die Hoffnung, es könnte doch nichts passiert sein. Nina war mit anderen Frauen zu Schanzarbeiten eingesetzt, als ein Bombenangriff begann, und soll verschüttet worden sein. Obwohl man nach ihr sucht, gefunden wird sie nicht.

Die Mutter schenkt Tanja ein kleines Notizbuch, das einmal Nina gehört hat, es soll ein Andenken an die Schwester sein. Ende Dezember 1941 beginnt Tanja ihre Chronik der Ereignisse auf die Seiten dieses Büchleins zu schreiben: "Es gab in diesem Jahr bisher wenig Schnee, alles verweht. Erst gestern hat es richtig geschneit. Wir können die Wohnung nicht mehr heizen."

Wenig später stirbt Schwester Schenja direkt im Betrieb. Sie muss oft zwei Schichten hintereinander arbeiten bei einer Lebensmittelration von drei Scheiben Schwarzbrot am Tag. Außerdem spendet sie Blut, aber die Kräfte reichen nicht mehr, sie bricht zusammen und stirbt. Bald darauf müssen sie die Großmutter auf den Piskarjowskoje Friedhof bringen, ihr Herz hat versagt - wenig später schieben sie den Karren mit dem Leichnam von Bruder Leonid ("Ljoka") über den gleichen Weg. In der Chronik des Admiraltejski-Werkes steht: "Leonid Sawitschew arbeitete fleißig und umsichtig, obwohl er zuletzt sehr erschöpft war. Eines Tages kam er nicht zur Schicht - in der Halle erfuhr man, er sei gestorben."

Tanja greift immer häufiger zu ihrem Tagebuch und vermerkt, wie einer nach dem anderen für immer geht. Auch Wassili und Alexej, die Brüder ihrer Mutter, sind in ihrer Flakstellung gefallen. Eines Tages schreibt sie: "Bald werden alle tot sein - nur Tanja wird übrig bleiben."

Es klingt, als ob schwache Klopfzeichen von weit her kommen, als ob jemand versucht, aus einem verschütteten, längst aufgegebenen Keller gehört zu werden, und sich damit abfinden muss, unentdeckt zu bleiben.

Was Tanja nicht mehr erfährt, die vermisste Schwester Nina ist gerettet und ins Hinterland evakuiert worden. Im Mai 1945 kehrt sie nach Leningrad zurück und findet in der leeren Wohnung ihrer Eltern zwischen nackten, geborstenen Wänden, inmitten von Schutt, Splittern und bröckelndem Putz, das Notizbuch mit Tanjas Aufzeichnungen. Nach einer schweren Verwundung an der Front hat auch Tanjas Bruder Mischa überlebt.

Evakuiert nach Gorki

Tanja selbst, die vor Hunger das Bewusstsein verloren hat, wird Ende Januar 1944, als die Rote Armee den Blockadering um Leningrad sprengt, von den Mitgliedern einer Sanitätseinheit entdeckt, die in den Häusern der Stadt nach Überlebenden suchen. Sie kommt zusammen mit 140 anderen völlig ausgehungerten Kindern in die Siedlung Schatki im Gebiet von Gorki (heute Nischni Nowgorod). Die Bewohner geben an Lebensmitteln, was sie entbehren können. Viele der Evakuierten erholen sich, Tanja aber bleibt liegen, kann sich nicht mehr aufrichten, verliert immer wieder das Bewusstsein. Monate lang kämpfen die Ärzte um das Leben des Mädchens, aber die Entkräftung des Körpers erweist sich als unumkehrbar. Tanja kann ihre zitternden Arme und Füße nicht mehr beherrschen, sie leidet unter grausamen Kopfschmerzen. Am 1. Juli 1944 stirbt sie und wird auf dem Friedhof von Schatki beerdigt.

Neben dem Grab errichtet man erst später, in den fünfziger Jahren, eine kleine Stele, die ein Relief ihres Gesichtes zeigt und einige Sätze aus ihrem Tagebuch zitiert. Sie finden sich auch in den grauen Stein eines Denkmals bei Sankt Petersburg eingemeißelt, das an einer der heftig umkämpften Straßen aus der Blockadezeit steht. "Tanja, Tanja, das Herz darf nichts vergessen, sonst zerbricht unser Menschengeschlecht", heißt es in einem Lied der russischen Sängerin Edita Pjecha.

Übersetzung aus dem Russischen von Nina Letnewa

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