Die NSU-Akten: Eine Chronologie der hessischen Verhältnisse

NSU Das „ZDF Magazin Royale“ und „Frag den Staat“ haben die NSU-Akten veröffentlicht. Die Debatte darum ist aber nicht neu. Der Versuch einer Systematisierung.

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Der hessische Verfassungsschutz hat im Fall NSU an etlichen Stellen versagt
Der hessische Verfassungsschutz hat im Fall NSU an etlichen Stellen versagt

Foto: Guenter Schiffmann/AFP via Getty Images

Vor einer Woche haben „Frag den Staat“ und das „ZDF Magazin Royale“ die sogenannten „NSU-Geheimakten“ veröffentlicht. Diese Veröffentlichung hat eine bundesweite Debatte ausgelöst. Die hessische CDU-Fraktion sah gar die „Grenzen der Pressefreiheit“ überschritten und gegen die vermeintlichen Whistleblower*innen wir nun ermittelt. Ich möchte daher an dieser Stelle eine ausführliche Einschätzung zur Debatte um die veröffentlichten „NSU-Geheimakten“ vornehmen.

Starten möchte ich mit einem Rückblick: Anfang Juni 2012 wurde erstmals massive Vorwürfe gegen den Verfassungsschützer Andreas Temme und dem hessischen Verfassungsschutz im Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat durch den Freitag erhoben. Der Freitag schlussfolgerte in besagtem Artikel, dass das Wiesbadener Innenministerium damals massiv die Ermittlungen er Polizei zum Mord an Halit Yozgat behinderte. Ende Juni formulierte die hessische Linksfraktion einen umfassenden Fragenkatalog zu diesen Themen, den der damalige hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) öffentlich im Landtag beantworten musste.

Zwei Tage bevor Rhein der LINKEN Rede und Antwort stehen musste, wies er den hessischen Verfassungsschutz an, sämtliche Rechtsextremismus-Akten seit 1992 auf NSU-Bezüge zu prüfen. Die Prüfkriterien wurden später um Bezüge zu Waffen und Sprengstoff sowie Untergrundorganisationen erweitert, auch wenn der Verfassungsschutz darin keine direkten Verbindungen zu NSU-Personen finden konnte.

Aus dieser Anweisung entstand später das, was heute als „NSU-Geheimakte“ diskutiert wird. Der Verdacht liegt nahe, dass erst durch den massiven öffentlichen Druck und den Fragenkatalog der hessischen Linksfraktion der geheime Bericht überhaupt entstanden ist.

2014 wurde dieser dann endgültig fertiggestellt – unter dem damals frisch ins Amt gelangtem Innenminister Peter Beuth (CDU). Der Bericht zeichnete ein katastrophales Bild der Arbeit des Verfassungsschutzes in den 2000er-Jahren: Über 950 Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz von Neonazis ist der Verfassungsschutz nicht nachgekommen. Mehrere hundert Akten waren verschwunden, Teilweise wurden einzelne faschistische Strukturen zwar beobachtet, dem Verfassungsschutz fehlte jedoch die analytische Kompetenz, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Beobachtungsobjekten herzustellen und das „Bigger Picture“ zu sehen.

Da dieser Prüfbericht für den hessischen Verfassungsschutz eine solche Blamage darstellte und kein gutes Haar an der eigenen Arbeit ließ, wurde er von Beuths Innenministerium für 120 Jahre als „geheim“ eingestuft.

Verantwortlich für den desaströsen Zustand des Verfassungsschutzes in den 2000er-Jahren war der damalige Innenminister und spätere Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Boris Rhein – mittlerweile selbst hessischer Ministerpräsident - versuchte in seiner Amtszeit als Innenminister zaghaft im eigenen Laden aufzuräumen, nach dem der öffentliche Druck zu groß wurde. Spätestens sein Nachfolger Peter Beuth beerdigte diesen Versuch jedoch wieder und schloss das Dokument weg.

2017 fand DIE LINKE zufällig in den Akten zum NSU-Untersuchungsausschuss einen Hinweis auf diesen geheimen Prüfbericht. Es dauerte mehrere Monate, bis eine geschwärzte Version des Geheimberichtes den Mitgliedern des NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen zugänglich wurde und dieser öffentlich im Ausschuss thematisieren durften. Ohne diesen Zufallsfund wüsste die Öffentlichkeit eventuell bis heute nichts von der Existenz dieses Berichts.

Das Theater, das seitdem um den Bericht gemacht wird, ist jedoch absurd und trägt massiv zu dessen Mystifizierung bei: Die Mitglieder des hessischen NSU-Ausschuss erhielt damals eine stark geschwärzte und unvollständige Version, in welcher der sehr ausführliche und wichtige Anhang an das Dokument fehlte. Nur den Abgeordneten selbst war es gestattet, die vollständige Version im Geheimschutzraum des Landtags einzusehen – ohne sich jedoch Notizen machen zu dürfen oder mit irgendjemandem darüber zu sprechen.

Mittlerweile durften jedoch mehrere Journalist*innen Einsicht in eine geschwärzte Version des Berichts nehmen. So zum Beispiel Stefan Aust und Dirk Laabs, deren Recherche für DIE WELT am Sonntag aufdeckte, dass der Name des Mörders des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke elf Mal in dem Geheimbericht auftauchte. Auch Martin Steinhagen konnte den Bericht einsehen und widmete diesem in seinem Buch „Rechter Terror - Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ ein eigenes Kapitel. Eine Petition mit über 130.000 Unterschriften forderte die Freigabe des Berichtes. Sie ist damit die größte Petition in der Geschichte des Landes Hessen. Die schwarzgrüne Landesregierung lehnte die Petition jedoch unter der Angabe von fadenscheinigen Argumenten ab und stimmte im Hessischen Landtag dagegen.

Dem Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke liegt der Bericht ebenfalls vollständig und inklusive Anhang vor. Auch hier wurde er so eingestuft, dass die Abgeordneten und Mitarbeiter*innen den Bericht geschwärzt einsehen und in öffentlicher Sitzung darüber sprechen dürfen. Obwohl also mittlerweile eine Vielzahl an Menschen den Bericht gesehen haben, mit ihm arbeiten, seine Inhalte längst überall zu finden sind und den öffentlichen Diskurs teilweise seit Jahren bestimmen, wird er von der hessischen Landesregierung noch immer für mittlerweile „nur“ noch 30 Jahre als geheim eingestuft. Begründet wird das nach wie vor mit dem Schutz der Quellen, V-Leuten und Informant*innen. Für diese bestünde Gefahr für Leib und Leben, sollten die Informationen des Berichts öffentlich werden.

Dass die Behörden hier mit zweierlei Maß messen, wird an einem anderen Beispiel deutlich: Die hessische Linksfraktion entdeckte in den Akten zum Lübcke-Untersuchungsausschuss zufällig die ungeschwärzte und eigentlich geheime Adresse der NSU-Opfer-Anwältin Seda Başay-Yıldız. Başay-Yıldız erhält seit 2018 Morddrohungen durch den sogenannten „NSU 2.0“. Diese Drohschreiben erhalten auch persönliche Daten wie ihre private Wohnanschrift und wurden höchstwahrscheinlich von hessischen Polizeicomputern abgerufen. Başay-Yıldız musste umziehen und lies ihre neue Adresse sperren. Trotzdem landete auch diese wieder in den Händen der Drohbriefschreiber*innen. Dass sich diese sensiblen Informationen ungeschwärzt in den Datensätzen des Lübcke-Untersuchungsausschuss befinden, ist also durchaus ein Politikum. Vor allem, da dadurch auch die AfD Zugriff auf die Daten erhält, die für ihre Nähe zur Extremen Rechten bekannt ist und Verbindungen ist rechtsterroristische Milieu unterhält. In diesem Falle nehmen es die Behörden also mit dem Schutz von Menschenleben nicht allzu genau, beim NSU-Geheimbericht jedoch schon?

In Wahrheit geht es den Behörden nicht darum, Menschenleben zu schützen. Es geht darum, mit dem Bericht das Beweisstück für das eigene strukturelle Versagen möglichst hinter Verschluss zu halten.

Jetzt könnte man ja denken, was interessiert uns heute noch die Selbsteinschätzung des Verfassungsschutzes zu seiner Arbeit in den 1990er und 2000er Jahren? Das sei doch höchstens noch von historischem Interesse. Mittlerweile habe man aus den eigenen Fehlern gelernt und die Behörde ganz anders aufgestellt.

Spätestens seit dem Mord an Walter Lübcke und der Arbeit im Lübcke-Untersuchungsausschuss wissen wir, dass dem mit Nichten so ist. Der Verfassungsschutz ist immer noch nicht strukturell in der Lage, rechte Netzwerke und rechten Terror zu durchschauen, zu begreifen und zu bekämpfen. Das liegt zum einen in der DNA einer im verborgenen arbeitenden Behörde: Quellenschutz wird hier grundsätzlich höher bewertet, als das Interesse an Aufklärung oder Prävention von Gewalt- oder Terrortaten. Zum anderen ist der Verfassungsschutz noch immer nicht in der Lage, die Extreme Rechte systematisch zu fassen, Netzwerke zu identifizieren und einzelne Bausteine zusammenzusetzen. Der Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, konnte von den Sicherheitsbehörden nur deshalb als „abgekühlt“ eingestuft werden, da dieser seine Aktivitäten nach der Selbstenttarnung des NSU in Gruppen wie die AfD oder KAGIDA (dem Kasseler PEGIDA-Ableger) verlagerte. Beides Gruppen, die von den Behörden nicht als „extremistisch“ eingestuft wurden – und das entgegen jeder soziologischen oder politikwissenschaftlichen Betrachtung. Das Versagen der Behörden vor dem Mord an Walter Lübcke geht also da weiter, wo es mit dem Auffliegen des NSU geendet hat. Auch das sind hessische Kontinuitäten.

Geheimdienste sind strukturell nicht in der Lage Demokratie und Gesellschaft zu beschützen. Wir brauchen sie daher nicht. Antifaschistische Recherche-Gruppen haben mehr zur Transparenz im Kampf gegen rechts beigetragen als alle Landesämter für Verfassungsschutz zusammen. Ohne ihre wichtige Arbeit wüssten wir fast nichts über die Aktivitäten der Extremen Rechten. Der Verfassungsschutz muss daher aufgelöst werden und durch eine zivile und wissenschaftlich arbeitende Dokumentations- und Beobachtungsstelle für Demokratie und Menschenrechte ersetzt werden.

Der NSU-Geheimbericht muss endlich freigegeben werden. Die Ermittlungen gegen die Whistleblower*innen müssen eingestellt werden.

Alle Akten zum NSU und zu Rechtsterror müssen in einem bundesweiten öffentlichen Archiv gesammelt werden, damit Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Zivilgesellschaft mit ihnen arbeiten können. Auch für die Angehörigen der Opfer hat es eine immense Bedeutung, endlich eine zentrale Anlaufstelle zu haben, an der sie Antworten auf ihre Fragen bekommen können. Ein solches Archiv zu den Taten des NSU wurde erstmals im Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss gefordert. Die Forderungen nach einem breiter gefassten Rechtsterror-Archiv auf Bundesebene hat es mittlerweile auch in den Koalitionsvertrag der Ampel-Bundesregierung geschafft. Dieser Vorschlag ist richtig. Innenminister Nancy Faeser (SPD) sollte diesem nun endlich auch mit Priorität begegnen, damit ein solches Archiv noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tim Dreyer

Linker aus Hessen. Bloggt zu den Themen Politische Ökonomie, Antifaschismus und hessische Landespolitik

Tim Dreyer

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