Homerun Homer

Jambus Emily Wilson hat die Odyssee neu übersetzt. Jetzt kann man sie endlich wieder lesen
Ausgabe 14/2018

Eigentlich ist das gar nichts Aufregendes: Homers Odyssee wurde neu übersetzt. Ins Englische. Es ist die zigste Übersetzung der 24 Gesänge, die wahrscheinlich im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Aber als Emily Wilson im November letzten Jahres ihre Übertragung vorlegte, gab es viel Aufhebens um sie und ihre Odyssee. Die anglophone Literaturwelt zeigt sich anhaltend fasziniert – eine Aufmerksamkeit, wie sie sonst nur literarischen Sensationen zuteil wird. Die Odyssee liefert ja auch, könnte man denken, eine gute Vorlage für eine solche Sensation: Es geht immerhin um ein Epos, das als einer der Grundlagentexte der westlichen Kultur gelten darf und oft in einem Atemzug mit der beinahe 1.000 Jahre jüngeren Bibel genannt wird. Aber Übersetzungen antiker Werke lösen trotz aller Bedeutsamkeit erfahrungsgemäß keinen medialen Wirbel aus – man kennt die Texte ja schon. Was ist an Wilsons Odyssee anders?

Zunächst ist Wilson die erste Frau, die die 12,110 Hexameterverse ins Englische übersetzt hat. Die entstandene „Odyssee für unsere Zeit“, wie sie genannt wurde, ist zudem in Wilsons Händen in eine schlichte Sprache und Rhythmik übersetzt worden, wie man sie von gegenwärtiger englischsprachiger Lyrik kennt: klar, direkt und poetisch, mit hohem narrativen Tempo und ohne die künstliche Kompliziertheit, die in ihr als antikem Text gerne installiert wird. Sie ist, kurz gesagt, etwas anders als die meisten Übersetzungen klassischer Texte, die man bisher vor sich hatte. Zuletzt fallen einem, wenn man Wilsons Übersetzung liest und sie mit älteren vergleicht, noch andere überraschende sprachliche Unterschiede ins Auge. Sie betreffen insbesondere den Blick auf die weiblichen Figuren der Odyssee und darauf, wie sie geschildert werden.

Reim Dich! Oder auch nicht

Da ist zum Beispiel die Szene, in der Odysseus – nach seiner Irrfahrt endlich zurück zu Hause, wo sich allerdings unwillkommene Verehrer seiner Frau Penelope eingenistet haben – befiehlt, die Sklavinnen der Gattin zu töten. Sie sind verdächtig, mit den Hausgästen sexuell verkehrt zu haben. Sohn Telemachos, als Galgenmann auserkoren, spricht hier in früheren Übersetzungen von den Sklavinnen als „whores“, „sluts“ oder auch „creatures“, also „Huren“, „Ludern“ oder einfach „Kreaturen“. Bei Wilson heißt es stattdessen jetzt „these girls“, „diese Mädchen“. Ein anderes Beispiel ist die Charakterisierung der Göttin Kalypso, die den Seefahrer Odysseus eine Zeit lang auf ihrer Insel gefangen hält. Sie wurde in der Vergangenheit oft zu einer sexuell frustrierten Nymphe, einer „absurden Nymphomanin“, wie Wilson mir auf Nachfrage schreibt: „Eine Interpretation, die Welten entfernt vom Griechischen ist.“

Die gebürtige Britin Wilson promovierte in Oxford und ist Professorin für Altphilologie an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Dass ihre Odyssee sich von früheren Übersetzungen absetzt, ist nicht per se ungewöhnlich. Von der englischsprachigen Odyssee, die 1615 zuerst und danach dutzende Male übersetzt wurde, gibt es ebenso viele Odyssee-Versionen, die sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden: Während die Übersetzer George Chapman (1615) und Alexander Pope (1725) ihre Übersetzungen im Paarreim verfassten, ist Robert Fitzgeralds (1961) Odyssee in reimlosen Versen erzählt. Richmond Lattimore (1967) griff das Repetitive der Odyssee, typisch für den Ursprung der Homerischen Epen in der mündlichen Tradition, auf, während Stanley Lombardo (2000) die Wiederholungen aussparte. Lombardo übersetzte auch in modernes Englisch; bei Robert Fagles (1996) stehen mitunter fünf englische für ein griechisches Wort.

Beinahe konservativ könnte man Wilsons Herangehensweise nennen, wovon sie vermutlich aber gar nicht begeistert wäre: Seit Lattimore wurde keine englischsprachige Odyssee mehr vorgelegt, die gänzlich im jambischen Versmaß verfasst ist. All diese Varianten sind der Freiheit des Übersetzers gezollt, um, so hofft man, das Original bestmöglich in der fremden Sprache abzubilden. Wenn nun aber Chapmans merklich christlich geprägte Odyssee einen Odysseus wie einen Jesus hat und die populäre Odyssee Popes, die das Gedankengut des 18. Jahrhunderts aufgreift, einen, den seine tadellose Manieren auszeichnen, könnte man dann nicht sagen: sei’s drum, soll mit Wilson doch jetzt auch ein wenig feministischer Zeitgeist in die Odyssee miteinfließen? Wenn das der Fall wäre.

Denn davon kann keine Rede sein, wenn man der Altphilologin glaubt: Wilson ist überzeugt, dass ihre Übersetzung dem homerischen Gedicht sogar treuer ist, als die der meisten ihrer Vorgänger. Als sie beschloss, die Odyssee neu zu übersetzen, sagt sie, war es ihr um entsprechende stilistische Fragen gegangen, etwa um die formale Herausforderung, eine Zeile Homer in eine Zeile Englisch zu übersetzen, um das erzählerische Tempo des Originals beizubehalten. Als sie ihre Arbeit aber schließlich mit älteren verglich, stellte sich heraus, dass sie Homer noch in einem weiteren Punkt treuer war, was quasi ein Nebeneffekt ist: Denn, sagt Wilson, „ich importiere keine Misogynie, wo sie nicht im Griechischen ist“. Andere Übersetzer wiederum, ob beabsichtigt oder nicht, taten offenbar genau das.

An der Stelle, an der Wilson „these girls“ übersetzt hat und frühere Übersetzer „whores“ und „sluts“ schrieben, an dieser Stelle steht im Originaltext das griechische Wort hai. Hai wörtlich übersetzt wäre ein bloßes plurales „diese“ gewesen, im Englischen „these“ oder „those“. Den zornentbrannten Telemachos einfach „diese Mädchen“ sagen zu lassen, mag den Affekt zwar unzulässig herunterkühlen. Doch von „Huren“ zu sprechen ist zweifellos eine noch ausgefallenere Wahl und ohne Grundlage im Text. „Wenn man sich all die Übersetzungen von Männern zusammen ansieht“, sagt Wilson, „kann man eine Voreingenommenheit erkennen, die, wenn sie auch nicht damit zu tun hat, biologisch männlich zu sein, dann doch damit, dem Geschlecht unkritisch gegenüber zu stehen.“ Dabei geht es nicht nur um die Odyssee. Kürzlich kritisierte sie eine neue Übersetzung Hesiods: Wo im Original von „überwältigen“ oder „bezwingen“ die Rede war, hatte der Übersetzer von „sich hingeben“ gesprochen. Wilson wies darauf hin, dass Hesiod auch hierfür ein Wort habe.

Penelopes Gesicht schmilzt

Bisweilen geht es auch um Nuancen: Penelopes Schmerz über die Abwesenheit ihres Mannes Odysseus wirkt häufig bloß hübsch-trivial – da schmilzt dann Penelopes Herz. Wilson hält sich an jener Stelle genau an das sprachliche Bild im Griechischen. Sie glaubt, dass etwas Profunderes ausgedrückt wird, als bloßer Liebeskummer. Sie übersetzt „ihr Gesicht schmolz (…) ihre schönen Wangen lösten sich auf“, eine komplexe psychologische Metapher dafür, dass Penelope die „Gebundenheit an ihren Ehemann als die Zerstörung ihres Selbst erlebt“. Viel mehr als ein Klischee.

Aber die Übersetzerin ist irritiert davon, dass ihre Arbeit auf Geschlechterfragen und sie auf die erste Übersetzerin des Epos reduziert zu werden droht. „Diese Fragen hatten, wie üblich in Interviews mit mir, viel mit Geschlecht zu tun“, bemerkt sie als Kommentar zu meinen Fragen, „männliche Übersetzer bekommen die Gelegenheit, über andere Dinge zu sprechen.“ Und dann listet sie eine sehr lange Reihe von Themen in der Odyssee auf, über die sie außerdem gerne sprechen würde: „Identität, Zugehörigkeitsgefühl, Entfremdung, Fremdsein, Konservatismus, Gewalt, Täuschung, Anerkennung, Wandel, Sterblichkeit, Klasse, Kolonialisierung, Angst, Familien, Elternschaft, Waffen, Invasionen, Tricks, Schläue und Dummheit, essen und gegessen werden, Namen, Ehre, Storytelling und Magie.“ Die Übersetzerin fügt hinzu, dass für sie „all diese Dinge genauso wichtig sind wie Gender.“ In der Tat kommt Geschlecht in aller Regel erst dann zur Sprache, wenn es um die Leistungen von Frauen geht. In Zweifel gerät auch erst dann die vermeintliche Objektivität ihrer Vorgänger in den Blick. Und trotzdem ist es ein, wenn auch unfreiwilliger, Verdienst Wilsons, dass sie an diesem lange unter der Oberfläche gebliebenen Problem von Übersetzungen kräftig gerüttelt hat:

Gesellschaftliche Voreingenommenheit lässt sich eben immer auch aus Übersetzungen herauslesen. Die übersetzerische Freiheit gibt genügend Spielraum, auch dorthin zeitgemäße Ressentiments zu übertragen, wo sie ursprünglich nicht zu finden waren. Das Ergebnis sind mitunter Übersetzungen, die das Original verzerren; aber gut geeignet sind, um den dereinst aktuellen Stand von Sexismus zu erfahren.Wilsons Neuübersetzung trägt dazu bei, diesen Stand zu ändern. Wenn auch als Nebeneffekt.

Info

The Odyssey Homer Emily Wilson (Übersetzer) Norton & Company 2017 592 S. 26.99 €

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