Jiddisch in der europäischen Sprachenpolitik?

Essay Der jüdische und jiddisch-sprechende Schriftsteller und Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer sagte einst: „Jiddisch ist die Sprache der Toten, keine tote Sprache“

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Wird dieses Kind Jiddisch lernen?
Wird dieses Kind Jiddisch lernen?

Bild: Adam Berry/Getty Images

Als ich einen Blick auf die Liste der geschützten Regional- und Minderheitensprachen der Europäischen Charta geworfen hatte, stellte ich mir die Frage, warum Jiddisch als europäische Sprache nicht in der Bundesrepublik Deutschland geschützt ist. Warum ich ausgerechnet auf die jiddische Sprache gekommen bin? Weil ich für zwölf Monate in einem jüdischen Altenheim in Norwegen gearbeitet habe und mich die jiddische Sprache der älteren Herr- und Frauschaften dort sehr beeindruckt hat. Außerdem interessiere ich mich fortlaufend für die jüdische Gesellschaft, weil sie trotz oder vielleicht wegen all den Verfolgungen und Ermordungen immer noch dem Antisemitismus ausgesetzt ist.

Jiddisch ist eine germanische Sprache, die eng mit dem Deutschen verwandt ist und im Mittelalter (Mitte des 14. Jahrhunderts) durch die jüdischen Einwanderer in Deutschland entstanden ist. Der deutsche Einfluss ist eine Grundlage des Jiddischen mit Anteilen aus dem Hebräischen und Romanischen. Der hebräische Einfluss in der jiddischen Sprache sorgte und sorgt für die Beibehaltung der hebräischen Sprache, was mit der Bewahrung der jüdischen Identität im Zusammenhang steht.

Das Charta-Prinzip des Respekts für regionale Sprachen wird in folgende Staaten für die jiddische Sprache umgesetzt: Bosnien und Herzegowina, Finnland, Niederlande, Polen, Rumänien, Slowakei, Schweden und Ukraine. Hier fehlen definitiv mindestens zwei Staaten. Gerade Deutschland sollte der jüdischen Gesellschaft den nötigen Respekt zeigen und die Sprache als geschützte Minderheitensprache festlegen. Nicht nur wegen der Shoah, sondern auch aufgrund der europäischen bzw. der deutschen Entstehungsgeschichte des Jiddischen. Ebenso Frankreich, denn Frankreich ist mit dem jiddischen Kulturfestival, dem wöchentlichen jiddischen Radioprogramm, der letzten jiddischen Zeitschrift (die schon eingestellt werden musste) in Paris und dem jiddischen Theater in Straßburg ein Land, das durch die jiddische Sprachkultur sehr geprägt wird.

Der geschichtlich geprägte und gegenwärtige Antisemitismus wird durch folgende historische Fakten des Jiddischen klarer: Jiddisch wurde in der Geschichte selten ein offizieller Status zugesprochen. In der UdSSR gab es nur eine Region Namens Birobidschan, in der die jiddische Sprache als Amtssprache festgelegt wurde. In der kurzlebigen ukrainischen Republik erschien Jiddisch neben Russisch und Ukrainisch auf Briefmarken und Papiergeld. Durch die Migration konnte sich das Ostjiddisch im Vergleich zum Westjiddischen in osteuropäischen Gebieten verpflanzen. Grund dafür ist die Mehrsprachigkeit im slawischen Raum1, was erklären würde, dass Polen, Russland, die Ukraine, Rumänien, die Slowakei, Bosnien und Herzegowina heute die jiddische Sprache als Minderheitensprache anerkennen.

Die Verbreitung des Westjiddischen hingegen nahm stetig ab, aufgrund der fortlaufenden sprachlichen Assimilation der Juden. Daher bewerte ich positiv, dass die westeuropäischen Staaten wie Finnland, Schweden und die Niederlande trotz der Rückläufigkeit der Jiddisch-Sprechenden, diese Sprache als Minderheitensprache festgelegt haben. Wie auch in Paris, findet in Amsterdam (und Krakau) regelmäßig das jiddische Kultur-Festival statt. Auch Lieder- und Musikabende werden in diesen Regionen veranstaltet. Diese beinhalten jiddische Klesmer-Musik, Diskussionsrunden und Film- und Theatervorführungen auf Jiddisch.

Mit der jahrzehntelangen Verfolgung der jüdischen Gesellschaft ging zwangsläufig eine geographische Zersplitterung einher. Daher sind die „Hauptzentren“ der jiddischen Sprache nur noch in außereuropäischen Gebieten (USA, Israel) zu finden. Vor dem Holocaust sprachen etwa elf Millionen Menschen Jiddisch. Heute sind es weltweit nur noch zwei bis drei Millionen Menschen.

Um Minderheitensprachen zu schützen, indem man sie fördert und weiterhin am Leben erhält, ist nach meiner Meinung immer auch davon abhängig, wie sich diese Sprechergemeinden organisieren. Erst durch Institutionen und Vereine kann ein Staat auf die Sprechergemeinden aufmerksam gemacht werden. Diese Voraussetzung ist durch die geographische Zersplitterung des Jiddischen nur zum Teil gegeben. Was diesen Punkt anbelangt, fehlt mir vor allem beim deutschen Staat die Bereitschaft und Initiative, sich für die jiddische Minderheitensprache einzusetzen. Um ein Symbol des Respekts zu zeigen und um Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen, sollte Deutschland Jiddisch als eine geschützte Minderheitensprache festlegen.

Die geographische Zersplitterung und der fortlaufende Antisemitismus sorgen dafür, dass die jiddische Sprache vom Aussterben bedroht ist. Sogar in den ultraorthodoxen Gemeinden (Antwerpen, London), in denen heute noch am meisten Jiddisch gesprochen wird, geht der Sprachgebrauch zurück. Zum Glück gibt es durch die modernen Kommunikationsmittel heutzutage die Möglichkeit, dass sich jiddische Gemeinden international vernetzen, um für den Erhalt der Sprache zu kämpfen. Zum Beispiel gibt es mittlerweile internationale Intensivsprachkurse, um wenigstens kurzlebige Sprachinseln zu schaffen. Jiddische Sprachkurse sind jedoch nicht leicht zu organisieren, da es durch die geringe Dichte der Sprecher kein normiertes Jiddisch gibt. Trotz der groben Unterscheidung zwischen West- und Ostjiddisch, besteht die „Mischsprache“ aus einer Vielzahl von Dialekten. Eines der wenigen jiddischen Theater in Tel Aviv ist auch auf internationalen Tourneen unterwegs und deckt somit wenigstens einige Städte ab.

In den wenigen Quellen wurde deutlich, dass die jüdische Gesellschaft unterschiedliche Standpunkte zum Erhalt der jiddischen Sprache hat. Zum Beispiel wird die Weitergabe der Sprache an die Kinder aufgrund von Verleugnung des Jüdischen vermieden, was auf die fortlaufenden Diskriminierungserfahrungen zurückzuschließen ist. Vor allem in Israel besteht zum Teil eine Abneigung gegen die jiddische Sprache, weil es mit den negativen Exilerfahrungen in Verbindung gebracht wird.

Auf der anderen Seite gibt es auch einen Aufschwung des Jiddischen, zumindest im akademischen Bereich. Einige israelische Gymnasien unterrichten auf Jiddisch und in den USA findet sich die Sprache in der Lehre und in der Forschung von Hochschulen wieder. Für die meisten Studierenden ist der Zugang zu der alten Sprache Teil ihrer Suche nach einer jüdischen Identität. In Düsseldorf, Trier, Berlin und an der Heidelberger Hochschule für jüdische Studien wird Jiddisch für deutschsprachige Interessenten an Universitäten angeboten. Auch in den Lehranstalten Germanistik, Judaistik und Orientalistik wird sich zunehmend mit der jiddischen Sprache auseinandergesetzt.

Im Jahre 2013 erfuhr die jiddische Sprache in der Schweiz einen großen Aufschwung unter Nicht-Juden: Der Roman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ von Thomas Meyer enthält jiddische Elementen und wurde zum Bestseller. Seither gibt es viele Nicht-Juden in der Schweiz, die jiddische Sprachkurse besuchen.

Daß sie [die jiddische Sprache] überlebt hat, ist in sich Grund genug, die jiddische Sprache, ihre Literatur und ihr Theater zu erhalten und sie wieder leben zu lassen im Gedenken an die Millionen Jiddisch sprechender Menschen, die in der Shoah umgekommen sind.“2 Jiddische Gemeinden und die Staaten in denen sie leben, sollten den positiven Aufschwung der Sprache nutzen, um sie zu fördern und am Leben zu halten. Gerade das machtvolle Instrument zum Schutz von Regional- und Minderheitensprachen der EU-Charta sollte seine Aufgaben ernst nehmen und ein Zeichen gegen Antisemitismus setzten. Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland.

Fußnoten:

1 Der osteuropäische Raum ist von vielen Kriegen und dem damit einhergehenden staatlichen Grenzwandel geprägt. Die Sprachen sind meist geblieben, weswegen innerhalb bestimmter Staaten viele verschieden Sprachen gesprochen wurden.

2 Shmuel Atznom: Jiddisch: Wiederbelebung einer Sprache, die nie tot war. Jüdisches Leben online.

Quellen:

  • Zitat: „Jiddisch ist die Sprache der Toten, keine tote Sprache“ vom jüdischen und jiddisch-sprechenden Schriftsteller und Nobelpreisträger (1978) Isaac Bashevis Singer.
  • Bondolfi, Sibilla (2013): Sprachenpolitik. Jiddisch neu entdecken. In: Neue Züricher Zeitung: www.nzz.ch

  • Janich, Nina; Greule, Albrecht (2002): Spachkulturen in Europa: ein internationales Handbuch. Tübingen.

  • Shmuel Atznom: Jiddisch (2004): Wiederbelebung einer Sprache, die nie tot war. In: Jüdisches Leben online: www.haGalil.com

  • Zentralrat der Juden in Deutschland (2010): Der Kampf ums Überleben. Die Zahl der Jiddisch-Sprecher geht zurück, doch lernen immer mehr junge Menschen die alte Sprache. www.zentralratdjuden.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tessa Loniki

B.A. Europäische Ethnologie; Skandinavistik M.A. Interkulturelle Bildung, Migration, Mehrsprachigkeit

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