Endstation Knast

Strafen im Kapitalismus Insider und große Teile der Wissenschaft kritisieren unseren Strafvollzug. Dass sich dennoch nur langsam etwas ändert, hängt mit unserem Gesellschaftssystem zusammen

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Endstation Knast

Foto: Christof Koepsel/Getty Images

Während meiner über fünfzehnjährigen Tätigkeit in verschiedenen Gefängnissen hatte ich sicher mit zehntausend Inhaftierten näher zu tun. Diejenigen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium könnte ich an wenigen Händen abzählen, sehr viele hatten keinen Schulabschluss, noch mehr keinen Beruf erlernt. Die überwiegende Mehrheit war süchtig nach illegalen Drogen, und der Anteil von Gefangenen mit Migrationshintergrund war deutlich überdurchschnittlich. Nur eine Minderheit der Gefangenen gehörte vor Begehung ihrer Straftaten zu den Gewinnern unseres kapitalistischen Systems, und bei der Mehrheit war spätestens mit ihrer Strafhaft die Rolle der Verlierer zementiert. Der Knast war ihre Endstation.


Gefängnisstrafen vergrößern eher die Wahrscheinlichkeit weiterer Straffälligkeit, und helfen dabei in vielen Fällen auch den Opfern von Straftaten nicht wirklich. Was hat etwa der Geschädigte eines Diebstahls davon, dass der Täter nun für ein paar Jahre weggesperrt wird, er selbst aber auf seinem Vermögensschaden sitzen bleibt? Auch die Abschreckungswirkung von Strafen aller Art ist viel geringer als die meisten glauben.


Längst gibt es Vorschläge zu grundlegenden Reformen unseres Strafrechts: Eine Entkriminalisierung von Drogen, die Streichung von Bagatelldelikten wie der Beförderungserschleichung ("Schwarzfahren") aus dem Strafgesetzbuch, eine deutliche Erweiterung von Bewährungsmöglichkeiten, ein Ausbau des offenen Vollzuges, die Etablierung von dezentralen Vollzugsformen in Wohngruppen, und ganz grundsätzlich eine Verlegung des Schwerpunktes einer Bestrafung von einem repressiven Schuldstrafrecht hin zu einer weitmöglichsten Wiedergutmachung im Sinne einer restorative justice.


In der Fachwelt besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Freiheitsstrafe in geschlossenen Anstalten nicht resozialisiert, und dass frühzeitige Interventionen etwa durch den Aufbau von Jugendzentren in sog. Problemvierteln die Kriminalität viel nachhaltiger bekämpfen als es jede Strafe könnte.
Dennoch verändert sich das System nur sehr langsam, fortschrittliche Ansätze wie etwa der Vollzug der Freiheitsstrafe in Wohngruppen statt im Gefängnis sind seltene Ausnahmen.

Woran liegt die überwiegende Renitenz des Systems selbst gegen wissenschaftlich fundierte Argumente der Funktionalität und der Menschlichkeit? Zwar ändern sich staatliche Strukturen grundsätzlich nur schwerfällig, doch kommen im Bereich unseres Strafrechts noch weitere Umstände hinzu, die bislang noch zu wenig beleuchtet worden sind.

Eine ganz wesentliche Hürde der Reformfähigkeit liegt unmittelbar in den Mechanismen unseres kapitalistischen Systems, die bei Fragen nach Recht und Gerechtigkeit nur scheinbar eine untergeordnete Rolle spielen, zumal die Justiz ja gerade nicht dem privaten und freien Markt überlassen ist.

Als Beamter im Gefängnis habe ich gutes und sicheres Geld verdient. Seitdem ich wieder als Rechtsanwalt tätig bin, verdiene ich Geld damit, Menschen dabei zu unterstützen, sie vor einer (weiteren) Haft im Gefängnis zu bewahren. Zynisch formuliert könnte man sagen, dass die Zahlungsbereitschaft der Mandanten mit dem Leidensdruck zunimmt. Es ist durchaus bemerkenswert, wenn man innerhalb eines Systems unabhängig davon profitieren kann, welche der widerstreitenden Interessen man vertritt. Keine der beiden Interessensvertretungen ist wohlgemerkt per se zu kritisieren, und viele haben berufliche Motivationen, die über das Geldverdienen hinausreichen. Ein System ist jedoch umso schwerer zu verändern, umso mehr Menschen damit Geld verdienen. In Bereichen wie der Energiewirtschaft oder der Automobilindustrie, wo umweltfreundlichen Entwicklungen oft der Verlust von Arbeitsplätzen entgegensteht, leuchtet das unmittelbarer ein. Es gilt jedoch eben auch für unser Strafsystem.

Einige Milliarden Euro kosten unsere Gefängnisse jedes Jahr. Neben den Justizbediensteten leben viele andere (auch) von diesem Geld. (Psychiatrische) Ärzte/innen, Psychologen/innen, Gutachter/innen, Handwerksbetriebe usw. Zwar sind wir von US – amerikanischen Verhältnissen, wo Gefängnisse durch private Träger betrieben werden, die darauf bedacht sind, dass immer genügend Menschen eingesperrt werden, auch um sie als billige Arbeitskräfte einzusetzen, weit entfernt. Auch bei uns lassen Unternehmen jedoch in den Anstalten günstig produzieren, wobei die inhaftierten Arbeiter nur wenige Euro am Tag verdienen.


So gibt vielfältige Interessen und Bedürfnisse, die sich hinter unserer derzeitigen Art und Weise des Strafens verstecken. Diese erschweren jede Reform des Strafrechts, soweit sie nicht in gleicher Art und Weise befriedigt werden.

Damit zusammenhängend, doch noch erheblich höher ist die Hürde, die sich aus einer Funktion ergibt, die unser Strafrecht und unsere Gefängnisse im gesamtgesellschaftlichen Kontext tatsächlich erfüllen.
Tatsächlich funktioniert das Gefängnis für die „Allgemeinheit“ vor allem als Symbol für Sicherheit und Gerechtigkeit, wobei die Mitglieder dieser Allgemeinheit allerdings weit überwiegend gänzliche anderen Milieus als die Eingesperrten angehören. Der Nutzen des Gefängnisses besteht für die Menschen außerhalb der Mauern weniger darin, sicherer zu sein, sondern vor allem darin, sich sicherer zu fühlen. Und sich gerecht zu fühlen. Der Glaube, es sei zum Schutz unserer Sicherheit und zur Stärkung der Gerechtigkeit notwendig, erlaubt es uns zudem, auch einiges an Straflust auszuagieren.


Und mehr als das: Bei näherem Hinsehen lässt sich auch erahnen, wie wir, ohne es zu wollen, nicht nur vom Strafen, sondern auch von Straftaten und der Existenz von Kriminalität grundsätzlich profitieren. Wie viele Zeitungen werden verkauft, weil über aufsehenerregende Straftaten berichtet wird, wie hohe Einschaltquoten und Klickzahlen werden mit solchen Berichten erreicht, wie viele Krimis konsumiert? Wir ergötzen uns ein wenig wie die Zuschauer von Gladiatorenkämpfen im alten Rom, wenn wir uns als große Masse erst über massenmedial vermittelte möglichst grausame Straftaten empören, Wut und Hass auf die Täter entwickeln, voller Spannung auf ihre Ergreifung hoffen, und uns dann wieder besänftigen und beruhigen lassen, wenn sie zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. So können wir ohne eigene Gefahr, und fast ohne Anstrengung, unsere Ängste und Aggressionen stellvertretend ausagieren lassen. Eine Pornographie des Leids.

Die Erkenntnis dass das, was für die meisten Symbolik ist, für Opfer und Täter Realität ist, lassen die wenigsten zu, und Zweifel darüber, inwieweit unsere Strafen abseits des Symbolischen tatsächlich Straftaten reduzieren, inwieweit sie sinnvoll und menschlich sind, weiß das Gefängnis mit seinem von außen kaum überprüfbaren Versprechen der Resozialisierung und humanen Behandlung seiner Insassen zu beruhigen.

Untrüglichstes Zeichen schließlich für den kollektiven Nutzen von Kriminalität und Strafen ist das gute Geschäft populistischer Politik damit, die Angst vor der Kriminalität aufzugreifen, sie teilweise auch zu schüren, und mit dem Versprechen zu verbinden, Sicherheit und Recht und Ordnung unter anderem mit harten und konsequenten Strafen zu garantieren.

Kriminalität, Strafen und Gefängnis sind also auch Gegenstand von Angebot und Nachfrage, es sind auch Güter auf einem grundsätzlich freien Markt. Und nicht zuletzt hängt es auch mit den Gesetzmäßigkeiten dieses Marktes zusammen, was bzw. wen wir bestrafen und einsperren und wen nicht. Zwar ist beispielsweise der Diebstahl grundsätzlich für jeden Menschen unabhängig davon strafbar, welchem Milieu er angehört. Aber es ist eben sehr stark vom Milieu abhängig, in welchem Maße man die Chancen des freien Marktes und die Regeln unseres Systems für sich nutzen kann, ohne sie zu brechen. Man kann regelkonform andere täuschen, übervorteilen, ausnutzen, unter Druck setzen, ungerecht behandeln oder instrumentalisieren und sich so viel schädlicher verhalten als mancher Straftäter. Wer gegen Flüchtlinge hetzt, kann ins Parlament kommen, wer andere entlässt, um selbst mehr Geld zu verdienen, in die Vorstandsetage.

Unser Strafrecht soll Rechtsgüter wie Eigentum oder körperliche Unversehrtheit vor Schädigungen durch andere schützen, tatsächlich privilegiert es bestimmte Schädigungshandlungen, die in den marktbeherrschenden Milieus die Norm sind, und bestraft vor allem solche, die in sozial benachteiligten Milieus die Norm sind. An den Milieus selbst und ihrer Durchlässigkeit ändert sich aber wenig.

Muss also alles bleiben, wie es ist? Ist unser Strafrecht, sind unsere Gefängnisse gefangen im System? Nicht ganz. Es mag kein besseres System als das einer grundsätzlich freien Marktwirtschaft geben, und die Gefängnisse etwa in sozialistischen Gesellschaften sind ungleich schlimmer als unsere. Wenn unser System jedoch dem Menschen, und nicht der Mensch dem System dienen soll, und die freie Marktwirtschaft tatsächlich auch sozial sein soll, dann muss den systemimmanenten Ungerechtigkeiten bestmöglich entgegengewirkt werden. Es muss darum gehen den Schaden, den wir uns gegenseitig zufügen, möglichst zu reduzieren. Dafür können Strafen notwendig sein, und dafür kann es auch im Extremfall notwendig sein, Einzelnen die Freiheit zu entziehen, um andere zu schützen. Urteile werden jedoch im Namen des Volkes, im Namen von uns allen gesprochen und vollstreckt. Da müssen wir uns die Mühe zu machen, genauer hinzusehen, und für größtmögliche tatsächliche Gerechtigkeit eintreten, anstatt sie vor allem symbolisch dort zum Ausdruck bringen, wo es uns am wenigsten kostet.

Wir sollten uns den Menschen nähern, Opfern wie Tätern, und fragen: was hilft den Opfern tatsächlich, welche Interventionen und Strafen sind bei Tätern sinnvoll, und wo und was muss langfristig vor allem im Kinder – und Jugendbereich investiert werden, um Gewalt wirksam zu reduzieren? Wir sollten den Mut aufbringen, die zum großen Teil irrationalen Anteile unserer Kriminalitätsfurcht zu überwinden.
Und wir müssen verzichten. Darauf, unsere Strafwünsche im bisherigen Umfang mit der Behauptung auszuagieren, es ginge nicht anders. Darauf, den Grundsatz von Schuld und Vergeltung weiterhin zur Grundlage unseres Strafrechts zu machen. Darauf, uns das Gefängnis mit seinem unerfüllbaren Resozialisierungsversprechen schönzureden. Darauf, uns von eigener Verantwortung weitgehend freizuhalten, indem wir die Schuld für Straftaten fast ausschließlich den Tätern zuweisen. Und wir müssen auf einen guten Teil Unterhaltung, Symbolik und Spektakel verzichten.

Mit dieser Mühe und diesem Verzicht könnten wir viele systemimmanente Ungerechtigkeiten des Kapitalismus überwinden, anstatt sie wie derzeit durch das Strafrecht zu vergrößern und zu zementieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas Galli

Autor - Endstation Knast: Ein Gefängnisdirektor packt aus

Thomas Galli

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