Epikurs Schatten

Nicht in Berlin Was macht man eigentlich in einer Philosophischen Praxis? Erbauliches aus Frankfurt am Main
Ausgabe 51/2015
Wie soll man hier denn ein beseeltes Leben führen, Freunde der Weisheit?
Wie soll man hier denn ein beseeltes Leben führen, Freunde der Weisheit?

Foto: Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Ein scharfer Wind weht durch die Stadt der Banken. Zwischen den Wolkenkratzern der Finanzwirtschaft spüren die Menschen auch die zunehmende soziale Kälte. So oder so ähnlich müsste dieser Text beginnen, um verständlich zu machen, warum in Frankfurt am Main die Philosophische Praxis floriert. In der spät-, turbo- und raubtierkapitalistischen Welt haben die Menschen verlernt, was es heißt, miteinander zu sprechen, zu leben und zu lieben. Um es mit Aristoteles zu sagen: Sie haben vergessen, was es heißt, ein beseeltes Lebewesen zu sein oder ein beseeltes Leben zu führen.

An dieser Stelle kommen Ute Gahlings und ihr Kollege Christian Hellweg von der Philosophischen Praxis Frankfurt ins Spiel. Sie sind angetreten, diesem jämmerlichen Zustand unseres Zusammenlebens ein Ende zu bereiten. Mit allem Pathos, das dazugehört. Nachdem das Konzept der Philosophischen Praxis im Deutschland der 80er Jahre Einzug hielt und eine Blüte erlebte, war es zuletzt still geworden um diese Form der Lebenshilfe. Erst seit diesem Jahr existiert wieder eine Philosophische Praxis in Frankfurt, es gibt sie auch in München, Düsseldorf, Hamburg, Berlin.

Alles steril

In den Faltblättern solcher Praxen kann man lesen: „Philosophische Praxis besteht unter anderem in einer Suche nach Orientierung und einer reflektierten Teilnahme an der Lebenssituation eines Menschen. Im Mittelpunkt steht dabei die persönliche Begegnung.“ Während sich andere Methoden wie die Psychoanalyse mit den Neurosen der Patienten befassen, konzentriert sich die philosophische Methode auf die besonderen Lebensumstände ihrer Teilnehmer.

Von deren Gemütslage sollen Rückschlüsse auf allgemeine Gesellschaftszustände gezogen werden, und dann wird überlegt, was Sinn ergibt, was man „positiv“ verändern kann. Grundlage ist die Idee des „gelungenen Lebens“, jener Utopie, die auf die griechischen Klassiker zurückgeht.

Für Aristoteles sollte das Streben nach dem gelungenen Leben das höchste Ziel des Menschen sein. In die Philosophische Praxis von heute sollen Menschen kommen, die weder mit körperlichen noch mit psychischen Problemen kämpfen, sondern ein gewisses Unbehagen in ihrer Lebenssituation verspüren. Die zweifeln daran, dass das Leben, das sie führen, tatsächlich das Leben ist, das sie führen wollen. Menschen, die eine Philosophische Praxis besuchen, gelten deswegen auch nicht als Patienten. Ute Gahlings nennt ihre Kunden Gäste oder Teilnehmer.

Der Ort, an dem sie zu einem besseren Dasein finden sollen, ist eine Praxis, in der eigentlich Gahlings’ Kollege, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, praktiziert. Sie liegt etwas versteckt in einer noblen Frankfurter Einkaufsstraße, die Goethes Namen trägt. Eingezwängt zwischen zwei Edelboutiquen verrät nur ein kleines Klingelschild, wo sich die Arztpraxis befindet. Nur wie soll man sich an dem Ort nicht als Patient fühlen: In dem Empfangszimmer riecht es stark nach Desinfektionsmittel. Dahinter liegt das Sprechzimmer von Gahlings. Statt ausladender Bücherwände, gemütlicher Ledersessel und Kamin eine karge Einrichtung, alles steril. Dass hier Philosophie betrieben wird, erfährt man nur, wenn Gahlings einem vorher Bescheid gesagt hat. Auf Anfrage lädt sie einen zu einem persönlichen Treffen in die Praxis ein. Gahlings ist eine eloquente Frau mittleren Alters mit grauer Mähne. Sie sitzt hinter dem professionellen Glastisch in der HNO-Praxis und berichtet von philosophischer Arbei, sie ist selber promovierte Philosophin.

In Würde gehen

45 Minuten dauert eine Sitzung, sie kostet 75 Euro. Obwohl sich das Angebot aufgrund der hohen Kosten eher an Gutverdiener richtet, sagt Gahlings auch, sie habe ein „humanitäres Kontingent“; einen Gast, den sie zum Mindestlohnsatz von 8 Euro 50 betreut. Die Probleme würden sich ähneln: Menschen, die es im stressigen Alltag nicht schaffen, Anschluss zu finden. Eine Frau, die in die Arbeitslosigkeit gerutscht ist und der es schwer fällt mit der Situation umzugehen, betreut sie etwa. „Uns ist wichtig bei den Menschen zu bleiben“, sagt Gahlings. Das bedeutet, dass sie sich nicht auf diese oder jene Theorie zurückzieht, sondern versucht, den Menschen, die in ihre Praxis kommen, Anleitung zu geben, wie sie selbst zu einem reflektierten und würdevollen Leben zurückfinden können.

Ute Gahlings möchte sie nicht analysieren, sie sucht den Dialog, wenn man so will, im sokratischen Sinn. Sie hilft den Klienten, die Orientierung wiederzufinden und macht ihnen klar, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen, dass diese einen allgemeineren, gesellschaftlichen Ursprung haben. Gahlings geht es darum, Philosophie als „heilsame Lebenspraxis“ zurückzubringen. Das kann durch Lektüre philosophischer Werke geschehen, zum Beispiel Epikurs Brief an seinen Freund Menoikeus (in dem er ihm erklärt, warum man keine Angst vor dem Tod haben muss), durch die Beschäftigung mit Musik oder durch gemeinsame Spaziergänge. „Manchmal mache ich auch kleine Übungen mit den Teilnehmern. Mit einer Frau, die wiederholt von ihrem Ehemann betrogen wurde, habe ich zum Beispiel das Gehen in Würde geübt.“ Die Übung ist ziemlich einfach, erst stellt man sich jemanden vor, der einen würdevollen Gang hat, dann wird das nachgemacht.

Ein bisschen fühlt man sich an das frühe 20. Jahrhundert erinnert, an die Zeit, in der große philosophische und humanistische Ideale noch realisierbar schienen. Ihre Arbeit sei dann beendet, sagt Gahlings, wenn die Menschen, die zu ihr kommen, einen sinnvollen Weg wiedergefunden haben. Sie weiß, so ein Konzept ist nicht für jeden geeignet. Aber sie glaubt, für Menschen, die unter der Einsamkeit der aktuellen Arbeitswelt leiden, ist das Geld für eine philosophische Beratung gut investiert. Man muss die Welt ja nicht gleich ändern, oft reicht es, anderen von seinen Problemen zu erzählen. 45 Minuten, in denen man sich nicht mehr so allein fühlt. Früher gab es dafür Freunde.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Till Hahn

Philosoph, Journalist, Übersetzer. @till_hahn

Till Hahn

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