Es soll Menschen geben, die sich Urlaub nehmen, um von einem Flughafen zum nächsten zu reisen. Sie studieren die jeweilige Architektur oder stellen sich auf die Besucherterrasse, um stundenlang das Rollfeld zu beobachten, Starts und Landungen. „Planespotter“ nennt man jene Zeitgenossen. Manche wohnen auch – unfreiwillig – an einem Flughafen, als Gestrandete, Versprengte. Als „Nicht-Orte“ hat der französische Soziologe Marc Augé Flughäfen einmal bezeichnet: Eigentlich hält sich niemand gern dort auf. Man fährt nur hin, um schnell woanders hinzukommen.
Beim Berliner Flughafen Tegel ist alles etwas anders. Erstens kommt man von dort wirklich ziemlich schnell weg, weil er im Vergleich zu anderen Hauptstadtflughäfen recht kle
recht klein ist. Man ist nicht gezwungen, nach der Landung erst an kilometerlangen Shoppinganlagen vorbeizutapern, bevor die Frischluft wieder erreicht ist. Zweitens gilt das sechseckige Hauptgebäude, das 1974 eröffnet wurde (siehe Kasten), vielen heute als Zeugnis der fortgeschrittenen architektonischen Moderne. Vor allem von oben betrachtet, sieht das zierliche Hexagon einfach gut aus. Ja, Tegel hat Fans.Als solche würden sich die Schwestern Evelyn und Julia Csabai vielleicht nicht bezeichnen. Dennoch haben sie eine enge Beziehung zu Tegel. Eigentlich sind die beiden Schwestern, die in Budapest aufwuchsen, als freie Kreative tätig, im Film- und Medienbereich. Doch seit fast 25 Jahren jobben sie nebenbei am Flughafen. Dabei haben sie viele spannende Menschen kennengelernt. Die verblüffendsten oder lustigsten Anekdoten haben sie jetzt in ihrem Buch Letzter Aufruf Tegel! aufgeschrieben.der Freitag: Wie kamen Sie mit Tegel zusammen?Julia Csabai (JC): Wir haben Anfang der 90er Jahre in Berlin studiert und suchten beide Nebenjobs. Wir haben damals Kundeninterviews für verschiedene Airlines durchgeführt. Dazu mussten wir uns vor den Ankunftgates aufstellen und die Fluggäste abpassen, wenn sie aus dem Flugzeug stiegen. Wir sind irgendwie da hängen geblieben. Heute koordinieren wir die Teams. Wenn bei uns die sonstige Auftragslage gut ist, etwa bei mir als freie Filmemacherin, können wir uns auch immer mal wieder für einige Monate abmelden.Evelyn Csabai (EC): In Tegel arbeitet man entweder drei Tage oder 30 Jahre. Der Job an einem solchen Ort kann schon sehr stressig sein, aber wir haben in all der Zeit niemanden getroffen, der seine Tätigkeit dort nicht zu 100 Prozent geliebt hat. Für die meisten scheint es eine Art Berufung zu sein, an einem Flughafen zu arbeiten. Tegel lebt jedenfalls von den Menschen, den Reisenden und dem Personal.Placeholder infobox-1Und Sie fingen eines Tages an, die Geschichten zu sammeln.JC: An einem Flughafen erlebt man so wahnsinnig viel. Einmal musste ein herrenloser Koffer kontrolliert gesprengt werden. Zum Unglück des Reinigungspersonals war er voll mit Nutella. Ein anderes Mal fiel dem Sicherheitspersonal ein älterer Herr in einem Anzug auf. Er sah etwas müde aus, weil er einen langen Nachtflug hinter sich hatte, und kam mit einem kleinen Rucksack und einem Koffer an. Beim Hinausgehen winkte er seiner Abholerin zu, einer schmalen, großen, rothaarigen Frau mit bemerkenswerter Oberweite. Der Herr im Anzug hob seinen Koffer mit einer heroisch wirkenden Geste hoch, als wollte er ihr zeigen, dass er alles dabeihatte.Und was war daran verdächtig? Wie reagierte das Sicherheitspersonal denn?JC: Man bat den Mann, den Koffer zu öffnen. Es waren lauter kleine blaue Pillen darin, auf jeder war zu lesen: „Viagra“. Es handelte sich um Fälschungen aus Thailand. Der ganze Koffer war bis zum Rand voll mit diesen Pillen, um die 100.000 Stück. Der Mann fing an zu schwitzen und beteuerte: „Es ist alles für den Eigenbedarf!“Eines Tages soll Tegel ja geschlossen werden. Ob und wann es dazu kommt, ist nun aber offen.EC: Als es hieß: Der neue Flughafen BER kommt und hier gehen die Lichter aus, haben wir uns gedacht, dass wir all die Tegel-Erlebnisse festhalten wollen.Sie beschreiben den Flughafen vor allem aus der Perspektive der Angestellten.EC: Ja, wir begannen, andere Mitarbeiter zu interviewen, diejenigen, die bei den Airlines an den Schaltern sitzen, Flugbegleiter, Putzfrauen, Loader, also Gepäckverlader, alle, die wir kriegen konnten. Es gibt ganze Familien, die hier beschäftigt sind, da arbeitet die Mutter als Reinigungskraft, der Vater als Loader und ein Sohn steht bei Lufthansa am Schalter. Als es plötzlich hieß, dass Tegel dichtmacht, ging für viele eine Welt kaputt. Für viele würde es erst einmal Arbeitslosigkeit bedeuten. Als dann klar wurde, dass es sich mit BER hinzieht, waren alle erleichtert. Aber es gab auch ein bisschen Panik, denn die Flüge für BER waren ja schon geplant – und nun mussten die beiden viel zu kleinen älteren Flughäfen, Tegel und Schönefeld, mit alldem zurechtkommen. Tegel ist ja gar nicht für eine so große Menge von Reisenden konstruiert. Irgendwie klappt es jetzt aber doch gut.Warum ist Tegel ein ganz besonderer Flughafen?JC: Vor allem wegen der besonderen Geschichte von Berlin. Früher, als die amerikanische Pan Am noch als Alliierten-Airline hier war, war das schon ein sehr ungewöhnlicher Ort. So international, fast ein bisschen glamourös, aber eben auch so klein. Die Abflugs- und Ankunftsgates liegen in Tegel direkt nebeneinander. Das macht alles weniger anonym. Man kann genau sehen, wer woher kommt und wer wohin fliegen will. Und: Er liegt mitten in der Stadt.EC: Die Technik ist in manchen Bereichen total veraltet, vieles ist auch einfach Schrott. Das wird aber von einer unglaublichen Solidarität zwischen den Mitarbeitern ausgeglichen, egal von welcher Airline sie kommen oder für welche Firma sie arbeiten. Ich glaube, Tegel funktioniert überhaupt nur noch wegen dieser Solidarität innerhalb des Personals.Wie sieht die konkret aus?JC: Die Airlines sind hier keine Konkurrenten, denn alle wissen: Hier funktioniert es nur noch, wenn wir zusammenhalten. Wenn alle anpacken. Wir haben oft erlebt, dass bei Umbuchungen, die normalerweise nur bei der gebuchten Airline vorgenommen werden können, andere Airlines eingesprungen sind – einfach um ein Chaos zu vermeiden. An anderen Flughäfen gibt es so etwas nicht, da ist die Konkurrenz viel größer.EC: Aber man muss auch sehen, dass viel Qualität durch das harte Outsourcing von Dienstleistungen verloren gegangen ist. Besonders im Bereich der Flughafensicherung merkt man das. Diese Leute stehen ständig unter Druck. Sie werden natürlich auch viel schlechter bezahlt als früher.Sie haben die Zeiten erwähnt, in denen die Pan Am noch Tegel anflog. Was genau war damals so glamourös und besonders?EC: Von Tegel sind zunächst nur die drei Alliierten-Airlines Air France, British Airways und Pan Am geflogen. Das hat sich nach der Wende natürlich verändert. Aber wenn die Leute, die damals für die Pan Am hier gearbeitet haben, davon berichten, leuchten ihre Augen. Zum Beispiel konntest du als Mitarbeiter von Pan Am sehr billig reisen. Es gab da Flugbegleiterinnen, die hatten ihren Friseur in Paris, ihren Zahnarzt in Berlin und ihren Mann in Miami. Das kann man sich heute so gar nicht mehr vorstellen.In Ihrem Buch finden sich auch manche Stereotype, etwa: Russen sind immer betrunken.JC: Ja, aber leider stimmen die meisten Klischees. Gerade das über die Russen! Ich glaube, 98 Prozent der Betrunkenen, mit denen ich am Flughafen zu tun hatte, waren aus Russland. Da war zum Beispiel eine russische Managerin, die nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss zurück nach Moskau fliegen wollte. Sie musste drei Mal umgebucht werden, weil sie jedes Mal zu betrunken war, um zu fliegen. Und wenn Sie eine Schlange sehen, in der alle Frauen Pelzmäntel tragen, dann können Sie davon ausgehen, dass sie für den Flug nach Moskau ansteht. Obwohl, es könnte auch ein Flug nach München sein.Über was regen sich Menschen am Flughafen eigentlich am meisten auf?JC: Da fällt mir eine spezielle Frau ein, eine Frau Doktor Ingeborg M., die kurz nach ihrem Check-in nach Istanbul bemerkte, dass ihr auf der Bordkarte etwas äußerst Wichtiges abhandengekommen war: ihr Doktortitel! Sie stürmte zurück zum Schalter und warf der Mitarbeiterin, die mit dem nächsten Passagier beschäftigt war, ihre Bordkarte hin: „Das müssen Sie sofort ändern!“ Aber der Doktortitel war schon bei der Buchung nicht angegeben worden, und so stand die Check-in-Mitarbeiterin vor einem Problem. Die Software war so programmiert, dass sich der Doktortitel nach der Buchung nicht mehr einfügen ließ. Wenn nicht alles storniert und neu gebucht werden sollte, gab es nur die Möglichkeit, den Doktortitel mit der Hand auf die Bordkarte zu schreiben. Da schrie Frau Doktor M. vor den anderen 157 wartenden Passagieren ordentlich herum.Sie beide sind in der DDR, in Ungarn und in Syrien aufgewachsen, Sie sind also weit herumgekommen. Rührt Ihre FlughafenFaszination auch daher?JC: Reisen haben uns auf jeden Fall schon immer fasziniert. Wir sind ja schon als Kinder oft hin und her geflogen. Ich bin in Dresden geboren, meine Schwester in Budapest. Und wir beide sind zum Teil in Damaskus aufgewachsen, weil unser Vater als Ingenieur dort den Bau einer Fabrik beaufsichtigt hat.Wie war das Leben in Damaskus?JC: Wir waren auf einer amerikanischen Schule. Dort hat mich das Internationale besonders fasziniert. Als ich in den 80ern zurück nach Budapest kam, fehlte mir das natürlich. Ich wollte nach Westberlin kommen, Amerikanistik studieren und USA-Korrespondentin werden. Aber ich wollte nicht illegal in den Westen gehen, da ich sonst nicht mehr zurückgekonnt hätte. Ich musste eine Genehmigung beantragen, bin von Amt zu Amt gelaufen, habe Anträge gestellt und viel Geld in weißen Umschlägen verteilt, bis es schließlich geklappt hat. Als meine Schwester ein halbes Jahr später nachkam, war die Grenze dann schon offen.Gibt es zu Tegel eine ganz persönliche Lieblingsgeschichte?JC: Mehrere. Etwa diese: Einmal saß ich in der Frühschicht am Fenster bei Gate 11. Es war ein heißer Tag, die Sonne knallte durch die verschmierte Scheibe. Plötzlich wurde es dunkel. Zuerst dachte ich an eine gigantische Regenwolke. Ich hob den Kopf und sah: Nein, kein Gewitter im Anzug – Helmut Kohl ging am Fenster entlang und blieb direkt vor mir stehen. Er spendete mir kurz Schatten. Als er weiterging, wurde es wieder hell.
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