Die sechste Vorwahl in Folge hat Bernie Sanders am 5. April im US-Bundesstaat Wisconsin im Kampf um die Kandidatur der Demokraten um das US-Präsidentenamt gewonnen. Damit liegt der sozialdemokratische Senator aus Vermont mit 1.058 Delegierten zwar immer noch deutlich hinter seiner Konkurrentin Hillary Clinton mit gegenwärtig 1.748. Doch die Möglichkeit, dass Clinton bis zum Nominierungsparteitag der Demokraten Ende Juli weiter um die für einen Sieg nötige Mehrheit von 2.383 Delegierten zittern muss, besteht fort. An diesem Samstag steigt die nächste Vorwahl in Wyoming, am 19. April dann die Schlacht um New York. Im dortigen Brooklyn ist Sanders aufgewachsen, Clinton hat dort ihre Wahlkampfzentrale.
Der 74-jährige Sanders punktet insbesondere mit der sozial
Clinton hat dort ihre Wahlkampfzentrale.Der 74-jährige Sanders punktet insbesondere mit der sozialen Ausrichtung seines Programms und seiner Ferne zur großen Wirtschaft. Doch seine Forderungen nach höherer Besteuerung großer Unternehmen, der Steigerung des Mindestlohns sowie nach gesetzlichen Sozialversicherungen rufen auch Kritiker auf den Plan. So warf ihm etwa der US-Ökonom Paul Krugman in seiner New York-Times-Kolumne vor, mit „linkem Voodoo“ zu kokettieren. Er bezog sich dabei auf einen offenen Brief, den einige ehemalige Mitglieder des Council of Economic Advisers (CEA) des Weißen Hauses an Sanders verfasst hatten. Darin werfen die Ex-Berater Sanders vor, sein Programm mit Wachstumsprognosen zu rechtfertigen, die jeglicher ökonomischen Evidenz entbehren.Ein umstrittenes PapierDie Kritik kommt nicht von neoliberalen Wall-Street-Lobbyisten, sondern von Ökonomen, die unter Bill Clinton und Barack Obama gegen weitere Austerität und für einen moderaten Mindestlohn eingetreten waren. Sie entzündete sich an einem Positionspapier des Ökonomen Gerald Friedman von der Universität Massachusetts in Amherst. Der ist zwar kein offizieller Berater, Sanders' Kampagne lobte das Papier aber ausdrücklich. Darin prophezeit der Ökonom eine beachtliche Steigerung der Wirtschaftswachstumsrate von 2,1 auf 5,3 Prozent pro Jahr. Bis 2026 werde das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um 20.000 Dollar steigen und ein Mittelschichthaushalt werde dann 22.000 Dollar mehr pro Jahr in der Tasche haben. 26 Millionen zusätzlicher Jobs und eine auf 3,8 Prozent sinkende Arbeitslosenquote hat Friedman berechnet. Verantwortlich dafür: die Stärkung der Binnennachfrage durch die Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar pro Stunde, weitreichende gesetzliche Sozialversicherungsleistungen und die kräftige Steigerung öffentlicher Investitionen für Bildung, Infrastruktur oder etwa Klimaschutz.Nichts als Wunschdenken sei das, warfen die ehemaligen CEA-Ökonomen Friedman vor. Der verteidigte sich gegenüber der Huffington Post damit, dass er lediglich normale volkswirtschaftliche Rechnungen auf Sanders' Programm angewandt habe.Fakt ist, dass es mit Instrumenten wie einem 15-Dollar-Stundenlohn wenige Erfahrungen gibt. Und über die Verlässlichkeit volkswirtschaftlicher Prognosen lässt sich ohnehin streiten. In Seattle, wo die Sozialistin Kshama Sawant nach ihrem Einzug in den Stadtrat 2013 die Einführung der 15-Dollar-Untergrenze erstmals in einer größeren US-Stadt durchsetzen konnte, liegen noch keine Analysen der Folgen für die wirtschaftliche Lage der Stadt vor.Revolution oder Reform?Der Streit um Sanders' Programm steht sinnbildlich für die Gretchenfrage des Verhältnisses der Linken zur Ökonomie: Radikaler Kurswechsel oder moderate Reform? 15 Dollar pro Stunde flächendeckend oder, wegen der „Realitäten des Marktes“, 7,50 Dollar mit Ausnahmen? Das Problem der Moderaten in diesem Spiel ist, dass sie die politischen Prämissen ihrer neoliberalen Gegner übernehmen: Den Glauben an eine sich selbst strukturierende Entität namens „Markt“, die die Bedingungen des Warenaustausches selbstständig festlegt. Wahrscheinlich ist, dass Sanders mit seinen Forderungen nicht am „Markt“, sondern an der Politik – also einer konservativen Mehrheit im Senat – scheitern würde. Dies wiederum ist ein Fakt, den auch die radikalere linke Ökonomen gerne übersehen: Zwar gestehen sie ein, dass die gegenwärtigen Strukturen der Wirtschaft reformbedürftig sind, doch ignorieren sie weitgehend die Tatsache, dass diese von einem politischen Willen geformt worden sind. Auch wenn Radikale kritisieren, Neoliberalismus sei vielmehr Ideologie denn wissenschaftliche Theorie, fehlte es ihnen bis Sanders an politischen Perspektiven.Im gleichen Diskurs steht in Großbritannien der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn. Er hatte angekündigt, seine Partei wieder zu einer linken Alternative zur Austeritätspolitik der regierenden Tories zu machen. Dazu hat er eine Reihe renommierter Ökonomen für ein Beratergremium zusammengerufen, unter anderem Thomas Piketty, Joseph Stiglitz und Mariana Mazzucato. (Ein Interview mit letzterer wird es in der am 29. April erscheinenden Freitag-Ausgabe zu lesen geben.) Auch dieses Team progressiver Ökonomen steht schon wieder vor einer inneren Zerreißprobe, wie der New Statesman berichtete. So kritisierte ein Mitglied des Gremiums die einseitige Konzentration der Partei auf die Austeritätspolitik. David Blanchflower forderte seine Parteigenossen dazu auf, die Realität des Kapitalismus zu akzeptieren und einzusehen, dass Märkte funktionieren. Doch das dürfte schwerfallen; denn hat man das erst einmal akzeptiert, auf welcher Grundlage kann man dann noch Regulierungen desselben fordern, so moderat sie auch immer sein mögen?Über den TellerrandIn einem Punkt hat Blanchflower jedoch recht: Es führt kein Weg daran vorbei, die politische Realität anzuerkennen. Es ist richtig, dass die neo-keynesianische Kritik der gegenwärtigen Ökonomie oft an einer einseitigen Konzentration auf die Abschaffung von Austerität krankt. Die Anerkennung der Realität kann aber nicht – wie die Marktmoderaten glauben – die stumpfe Übernahme der Fiktion vom selbstregulierenden Markt sein. Die Zukunft einer wirklich linken Wirtschaftspolitik in den Industrieländern wird davon abhängen, ob ihre Akteure gewillt sind, über den volkswirtschaftlichen Tellerrand zu schauen. Sie wird davon abhängen, dass anerkannt wird, dass auch Märkte von politischen Gegebenheiten geformt sind.