Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind in Großbritannien muss bereits mit 19.271 Pfund für die Banken einstehen. Man führe sich diese Zahlen einmal klar vor Augen: Über eine Billion Pfund an Rettungsgeldern, Darlehen und staatlichen Garantien für das Geschäftsgebaren der Geldhäuserr, noch dazu binnen weniger Monate und beinahe ohne öffentliche Debatte. Ein kleiner Teil des Geldes wurde letztlich nicht in Anspruch genommen, was den Rest betrifft, haben wir keine Ahnung, wie viel wir davon zurückbekommen werden. Und vor allem, wann das sein wird.
Fast 20.000 Pfund – nach der Erwähnung dieser Summe sucht man bei der Berichterstattung über den jüngsten Bankenskandal vergeblich. Dabei ergibt sich die Tragweite der aktuellen Marktmanipulationen daraus, dass sie von einem Finanzsystem verübt wurden, für dessen Rettung die Steuerzahler beinahe in die Armut getrieben wurden. Es gab den Glauben, die Rettung der Banken sei für das Gemeinwohl unerlässlich.
Wenn es um den Zins-Betrug geht, ist derweil wenig von öffentlichem Interesse die Rede. Stattdessen sprechen Politik und Medien in der Regel von persönlicher Gier oder Marktversagen. So fordert die Daily Mail, die in die Zinsmanipulationen involvierten Banker gehörten aufgehängt. Premier David Cameron und Schatzkanzler Osborne reden die Bedeutung einer Untersuchung darüber hoch, wie der Benchmark-Zinssatz zustande kam.
Solche Forderungen sind zum Teil gerechtfertigt – gehen aber letztlich am Kern der Sache vorbei. Zutreffend ist die Feststellung, dass es sich bei dem, was in den vergangen Tagen ans Licht kam, um einen Skandal handelt: Um Profitmargen und ihre Boni aufzublähen, haben die Banker bei Barclays und anderen Instituten über gefälschte Zinssätze alles verzerrt - von den flexiblen Hypotheken der Hausbesitzer bis zu den Rentenfonds. Allein für Barclays werden sich die Prozesskosten auf Milliarden belaufen.
Steuerlich absetzbar
Verglichen damit spielt die Strafe von 290 Millionen Pfund, die das Unternehmen von den Behörden in Großbritannien und den USA bereits aufgebrummt bekommen hat, kaum eine Rolle. Sie ist steuerlich absetzbar, wodurch sie nur noch dem entspricht, was Barclays innerhalb von 13 Tagen an Gewinn erzielt. Und überhaupt: Zahlen werden die Anteilseigner – weder die Händler noch das Management. Auch als Verwaltungsratschef Marcus Agius über Bord geworfen wurde, wirkte das eher, als hoffe man, auf diese Weise so wenig Konsequenzen wie möglich ziehen zu müssen. Noch gibt es nicht die kleinste Andeutung einer Strafe für Händler C oder Manager E oder sonst irgendeinen von den millionenschweren Plünderern, die sich da per E-Mail untereinander absprachen.
Von offizieller Stelle wird bereits gewarnt, diese Sache werde nicht auf Barclays oder RBS beschränkt bleiben. Es dürfte noch mehr ruchbar werden. Zugleich ist nachvollziehbar, warum Cameron und Osborne die Konsequenzen dieser Krise einzudämmen suchen. Als sie begann, sprachen Politiker, Aufsichtsbehörden und Kommentatoren vom rücksichtslosen Risikogebaren der Finanzinstitute. Sie taten dies vor allem im Zusammenhang mit dem Verkauf von riskanten Anlagen an andere, einwilligende Finanziers. Mit der Zeit aber hat sich herausgestellt, dass sich die britischen Banken im Umgang mit schwachen wie mächtigen Kunden nicht minder skrupellos verhalten haben.
Zu ersteren zählen Familienbetriebe des Fleischerhandwerks, Elektrowaren-Einzelhändler oder bis zu 28.000 weitere Kleinunternehmen, denen überkomplexe und überteuerte Finanzprodukte verkauft wurden. Oder die Privatkunden, denen in milliardenschwerem Gesamtumfang Versicherungen angedreht wurden, die sie nicht brauchten und die sich so gut wie nie auszahlten.
Neues Goldenes Zeitalter
Die Finanzindustrie, der wir die Finanzkrise, eine Double-Dip-Rezession und das größte wirtschaftliche Elend seit Jahrzehnten verdanken, bringt ungerührt einen Skandal nach dem anderen hervor – und das immer in dem selbstherrlichen Gefühl, über dem Gesetz zu stehen. Besonders zeigt sich das in der Unverfrorenheit, mit der man bei Barclays selbst zu Hochzeiten der Krise – als man von den Steuerzahlern mit Subventionen und Garantien gerettet wurde – weiter Zinssätze manipulierte.
Wenn Labour-Führer Ed Miliband eine öffentliche Untersuchung der „Kultur der Banken“ fordert, ist das ein verzweifelter Versuch, so zu tun, als hätten die Politiker nur Statistenrollen inne. Tatsächlich aber stellt sich hier das Bild einer Branche dar, der Aufsichtsbehörden und Regierungen erlaubt haben, vollkommen über die Stränge zu schlagen.
Schon 2008 schrieb das Wall Street Journal auf der Titelseite: Große Banken tragen zum unberechenbaren Verhalten des wichtigsten globalen Kreditrichtsatz bei. Dennoch griffen weder die British Bankers' Association (die für die Fixierung des Liborsatzes verantwortlich ist), noch irgendeine staatliche Aufsichtsbehörde ein. Mehr noch, ist in einem Bericht, den die Financial Service Authority (FSA) vor einer Woche veröffentlicht hat, von „einem Telefonat zwischen einem hochrangigen Barclays-Mitarbeiter und der Bank of England“ zu lesen. Dabei sei über die „externen Wahrnehmungen der Libor-Vorgaben seitens Barclays“ gesprochen worden. Als der Inhalt dieses Gesprächs intern bei Barclays weitergegeben wurde, so die FSA, habe man dort „fälschlicherweise“ geglaubt, man habe aus der Bank of England das Signal erhalten, weiter lügen zu können.
Klar ist, dass Politiker der Konservativen wie von Labour die rücksichtslosen Banken sanktioniert, ja sogar gefördert haben. Nur ein paar Monate vor dem Fall Northern Rocks sprach der damalige Premier Gordon Brown vor Bankern den Satz: „Wir leben in einer Epoche, die als neues Goldenes Zeitalter für die City of London in die Geschichte eingehen wird.“ 2006 erklärte dann der damalige Staatssekretär im Finanzministerium Ed Balls: „Nichts sollte unternommen werden, was einen lockeren, Risiko orientierten rechtlichen Rahmen in Gefahr bringt.“
Mitschuld trifft jedoch nicht nur Labour-Abgeordnete. Im Dezember stürmte Tory David Cameron aus einem Brüsseler Gipfeltreffen, als dort darüber nachgedacht wurde, die Londoner City mit besonderen Restriktionen zu belegen. Er tat dies nach eigener Aussage zum Schutz des „nationalen Interesses“. Bestenfalls kann man dies als töricht bezeichnen und sagen, es zeige, wie weit die Finanzwelt das britische Establishment davon überzeugt hat, dass ihre Interessen mit denen des Landes stets Hand in Hand gehen.
Dabei gibt es mehr als genug Beweise dafür, dass – was die Banker wollen – dem Rest von uns bestenfalls nichts nützt, und schlimmstenfalls schadet. Die Finanzbrache schafft keine Arbeitsplätze: Die Zahl der Menschen, die direkt bei Banken und anderen Geldinstituten arbeiten, ist fast unverändert bei einer Million geblieben. Das Centre for Research on Socio-Cultural Change (Cresc) der Universität Manchester weist in der lesenswerten Analyse After the Great Complacence darauf hin, dass die Steuern, die von den Finanzunternehmen zwischen 2002 und 2008, also während des größten Booms in der Geschichte der Menschheit gezahlt wurden, sich auf lediglich 193 Milliarden beliefen – und unmittelbar durch die bereitwillig vorgestreckten Kosten der staatlichen Bankenrettung neutralisiert wurden.
Die bewusste Drehtür
Vor allem werden die Banken ihrer Verpflichtung nicht gerecht, der Realökonomie Geld zu leihen. Und ich komme hier nicht mit der alten Leier, dass die krisengebeutelten Finanzinstitute den von der Rezession gebeutelten Unternehmen keine Kredite geben. Vielmehr haben sie dem produktiven Teil der Wirtschaft schon seit Jahren kein Geld mehr geliehen: Im März 2008 gingen über drei Viertel (76, 2 Prozent) aller von Banken und Bausparkassen vergebenen Kredite entweder an andere Finanzinstitute oder an Immobilienkäufer. Weniger als ein Viertel (23,8 Prozent) gingen an das, was man den produktiven Teil der Wirtschaft nennen würde. Gemeint sind Unternehmen, die nicht mit Finanz-Produkten oder -Dienstleistungen handeln.
Wenn man bedenkt, wie wenig die Banken dem nationalen Interesse dienen, geschweige denn ihrer eigenen Propaganda gerecht werden, brauchen wir eine bessere Erklärung, warum Politiker ihnen so bereitwillig immer noch eine Chance geben – ohne irgendeine Bedingung daran zu knüpfen und mit 20 Riesen von jedem britischen Bürger. Es gibt eine Drehtür zwischen Regierung und City, die es Tony Blair ermöglicht, aus der Tür von No. 10 zu treten und direkt zu seinem neuen 2,5 Millionen-Teilzeitjob bei JP Morgan chauffiert zu werden. In den oben zitierten Untersuchungen ist auch nachzulesen, dass die Torys heute die Hälfte ihrer Parteispenden von der Finanzindustrie erhalten.
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