200 Jahre und eine Ewigkeit

Darwin-Jahr War Charles Darwin Wegbereiter des Faschismus oder ging es ihm vielmehr um die Bekämpfung des Rassismus und die Abschaffung der Sklaverei?

Im kommenden Jahr wird man an einem Mann und seinem Vermächtnis nicht vorbeikommen: Fernsehserien, Bücher, Debatten, Konferenzen und Ausstellungen werden sich mit Charles Darwin auseinandersetzen, denn dieser hat gleich zwei Jahrestage zu feiern: seinen 200. Geburtstag und das 150. Erscheinungsjahr seines Hauptwerks Über die Entstehung der Arten.

Man könnte meinen, zu Darwin sei schon alles gesagt und geschrieben, doch weit gefehlt – das kommende Jahr wird uns viele neue Bücher bescheren. Los geht es schon diese Woche mit einem Rough Guide to Evolution – Darwins große Idee, die die Welt verändert hat. Und nach Jahresfrist werden dann massig neue Titel zum Thema in den Regalen der Buchhandlungen stehen. Es sieht ganz danach aus, als würde dies das größte Jubiläum, das je einer einzelnen Person zu Ehren gefeiert wurde.
Ganz offensichtlich gibt es hierfür auch gute Gründe. Darwin gehört zusammen mit Marx und Freud zu den drei großen, die Moderne prägenden Intellektuellen des 19. Jahrhunderts. Anders als die beiden letzteren, um deren Reputation und Bedeutung ein Jahrhundert lang erbittert gestritten wurde, ist Darwins Ansehen heute größer denn je. Wissenschaftler und insbesondere Biologen sind voller Ehrfurcht gegenüber einem Mann, der seiner Zeit weit voraus war. Er ist mit Ausnahme Newtons der größte britische Wissenschaftler aller Zeiten und das British Council, das britische Äquivalent zum Goethe-Institut, tut gut daran, die Gelegenheit zu nutzen, an die prestigeträchtige Geschichte der britischen Wissenschaft zu erinnern.

Für das Trara gibt es jedoch, jenseits von patriotischem Fahnengeschwinge und Zelebrierung der Geistesgeschichte, einen Grund mit ernstem Hintergrund. Hinter der Begehung dieser Jahrestage steht die missionarische Absicht, die Öffentlichkeit von der Wahrheit Darwins großer Entdeckungen zu überzeugen. Denn trotz des Berges an wissenschaftlichen Beweisen, wird dem großen Viktorianer immer noch große Skepsis und sogar Feindseligkeit gegenüber gebracht. 2006 ergab eine Umfrage der BBC, dass weniger als die Hälfe aller Briten die Evolutionstheorie als die beste Erklärung für die Entstehung menschlichen Lebens ansehen. Dass es in den USA vergleichbare Zahlen gibt, kann dort mit der starken und weit verbreiteten Religiosität der Menschen erklärt werden. Da die britische Bevölkerung nur in geringem Maße religiös ist, kann dies den Widerstand gegen Darwins Lehre hier nicht erschöpfend erklären. Was also ist der Grund?

Die drei Demütigungen der Menschheit
Freud erklärte es in den 1920er Jahren wie folgt: „Die Menschheit musste im Laufe der Geschichte zwei große Demütigungen in Bezug auf ihre naive Eigenliebe verkraften. Die erste bestand darin, dass die Menschen erkennen mussten, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums darstellt ... Die zweite bestand darin, dass die biologische Forschung den Menschen seines exklusiven Privilegs beraubte, als etwas besonderes geschaffen worden zu sein und ihm die Abstammung von der Tierwelt zuwies“. Ein Darwin-Forscher vermutete einmal, dass es wohl noch ein paar Jahrhunderte dauern könnte, bis wir dem Mann verzeihen können.
Es gibt noch viele weitere Gründe, misstrauisch zu sein. Darwins Ideen wurden von einer ganzen Reihe von Betrügern aufgegriffen und für deren eigenen Zwecke missbraucht. Das Wort vom „Survival of the Fittest“, das am häufigsten mit Darwin in Verbindung gebracht wird, eigentlich aber seinem Zeitgenossen Herbert Spencer zugeschrieben werden muss, war im 20. Jahrhundert der Ausgangspunkt für viele schändliche Theorien, von der Eugenik bis zum Sozialdarwinismus.

Das Jubiläumsjahr hat sich also zunächst und zuerst mit dem Berg an Mythen auseinanderzusetzen, die für Darwins schlechtes Image verantwortlich sind. Ich habe mit fünf Darwin-Forschern gesprochen und alle sahen ein Hauptproblem darin, dass zuviel von ihm erwartet wurde. Er war zwar ein hervorragender Wissenschaftler, aber eben weder Philosoph noch Politik- oder Sozialtheoretiker. Er hat nie behauptet, seine Theorien könnten alles erklären, auch nicht, was es heißt, Mensch zu sein.

Besonders erstaunt wäre Darwin wohl angesichts der Tatsache, dass er im 21. Jahrhundert als Säulenheiliger des Atheismus gehandelt wird. In Bezug auf religiöse Fragen beschränkte er sich stets auf das Nötigste, teilweise wohl aus Respekt seiner gläubigen Frau gegenüber. Obwohl immer wieder behauptet wird, er sei Atheist gewesen, weisen seine Aussagen ihn lediglich als Agnostiker aus.

Dessen ungeachtet wird er bizarrer Weise für die starke Säkularisierung im 19. Jahrhundert verantwortlich gemacht. Dabei taten Religionswissenschaftler mehr, um das historische Verständnis der heiligen Schrift zu revidieren und die Möglichkeit einer wörtlichen Auslegung zu untergraben, als er dies jemals vermocht hätte. Die Arbeiten des viktorianischen Geologen Charles Lyell stellten die Schöpfungsgeschichte lange vor Darwin in Frage.

Nebensache Atheismus
Es besteht die Angst, das Jubiläum könnte von den Neuen Atheisten als perfektes Schlachtfeld für eine weitere Runde im Kampf um die Absurdität des Glaubens missbraucht werden – eine Position, die Darwin selbst sich nie zu eigen machte. Viele der Prominenten unter den Neuen Atheisten wie Richard Dawkins oder der US-Philosoph Daniel Dennett vertreten die Ansicht, der Glaube an einen Gott und die Akzeptanz von Darwins Evolutionstheorie seinen nicht miteinander vereinbar. Derartige Behauptungen erregen den Unmut vieler Wissenschaftler, Philosophen und Theologen.

„Eine Verteidigung der Evolution muss nicht notweniger Weise atheistisch argumentieren“, sagt Mark Pallen, Professor für mikrobielle Genomik in Birmingham und Autor des Rough Guide to Evolution. Bob Bloomfield vom Naturhistorischen Museum in London sagt: „Wir wollen die Bedeutung seiner Ideen für die Gegenwart in den Mittelpunkt stellen und das fruchtlose Gezänk über Glauben und Dogmen außen vor lassen.“

Einen Versuch, eben dies zu tun, stellt das Buch Darwin`s Sacred Cause von Adrian Desmond und James Moore dar, das nächste Woche in Großbritannien veröffentlicht wird. Sie argumentieren, Darwin sei von einem moralischen Anliegen getrieben gewesen – Abolitionismus, der Abschaffung der Sklaverei. Es sei ihm darum gegangen, den Nachweis zu erbringen, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, in ihrem Wesen gleich sind und dieselben Wurzeln haben, auch wenn diese tausende von Generationen zurückliegen. Er habe gegen den im Gewand der Wissenschaft daherkommenden Rassismus angehen wollen, der zur Rechtfertigung der Sklaverei betrieben wurde.
Bloomfield ist der Ansicht, Darwins Theorien könnten uns auch in ethischer Hinsicht viele Impulse geben, mit der heutigen Umweltkrise umzugehen. Der Nachweis der gemeinsamen Abstammung machte aus dem Ideal der Verwandtschaft aller Menschen eine wissenschaftliche Tatsache. Und die Menschen stehen in Beziehung zu allen anderen Dingen auf der Welt – unser Verhältnis zur Natur ist nicht das von Beherrschung sondern von intimer gegenseitiger Abhängigkeit. Mag Darwin angesichts seines Angriffs auf die menschliche Selbstüberhöhung Entsetzen hervorgerufen haben, gleichzeitig aber erweiterte er beträchtlich unser Verständnis für die bisherige Entwicklung der Welt und die Verantwortung dafür, wie es mit ihr weitergehen soll. In Anbetracht solch hoher Ziele ist es unsinnig, sich darüber zu streiten, ob die Evolution beweist, dass es keinen Gott gibt oder nicht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Madeleine Bunting | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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