Die bislang größte Menge an die Presse durchgestochener Dokumente in der Geschichte des Nahost-Konfliktes lässt den Schluss zu: Die palästinensischen Verhandlungsführer erklärten sich im Geheimen dazu bereit, mit einer Ausnahme alle israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem als israelisches Territorium anzuerkennen. Diese Option war Teil einer Reihe von Konzessionen, wie aus vertraulichen Berichten der palästinensischen Autonomiebehörde hervorgeht. Die Unterlagen dokumentieren die israelisch-palästinensisch-amerikanischen Friedensverhandlungen des zurückliegenden Jahrzehnts. Sie wurden dem arabischen Fernsehsender Al-Dschasira zugespielt und von diesem an den Guardian weitergegeben.
Die Dokumente offenbaren vor allem eines – das Ausmaß vertraulicher Zugeständnisse, zu denen sich die palästinensischen Unterhändler auch beim Rückkehrrecht der Flüchtlinge bereit fanden. Offenkundig kooperieren die israelischen Sicherheitskräfte längst mehr mit der palästinensischen Autonomiebehörde, als man sich vorstellen will. Es gibt darüber hinaus einer zentrale Rolle britischer Geheimdienste beim Entwurf eines geheimen Szenariums zur Zerschlagung der Hamas. Und man weiß nun auch, wie Politiker der Autonomiebehörde über die Angriffe der israelischen Armee auf die Hamas 2008/2009 informiert waren– vor der Gaza-Operation Gegossenes Blei.
Angst vor einem neuen Krieg
Neben der Anerkennung aller israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem mit Ausnahme von Har Homas sprechen die Dokumente gleichsam von der Bereitschaft der palästinensischen Führung, einen Teil des umstrittenen arabischen Viertels Sheikh Jarrah gegen Gebiete in einer anderen Gegend zu tauschen. Die größte Kontroverse dürfte jedoch der Vorschlag auslösen, einen gemeinsamen Rat zur Übernahme der heiligen Stätten von Haram al-Sharif (des Tempelbergs) in der Jerusalemer Altstadt einzusetzen. Ein neuralgische Thema, das mit zum Scheitern der Friedensgespräche von Camp David im Sommer 2000 beitrug, nachdem Yassir Arafat sich geweigert hatte, den Anspruch auf palästinensische Souveränität über das Gebiet um den Felsendom und die al Aqsa-Moschee aufzugeben.
Die jetzt publik gewordenen Angebote stammen aus den Jahren 2008/2009, aus der Zeit nach der noch von Präsident George W. Bush einberufenen Friedenskonferenz in Anapolis. Chefunterhändler Saeb Erekat pries seine Zugeständnisse den Dokumenten zufolge mit den Worten, man biete den Israelis das „größte Yerushalayim in der Geschichte“ an. Die israelischen Verhandlungsführer hätten das Angebot dennoch abgelehnt. Die Bemühungen der Obama-Regierung, die Friedensverhandlungen mit neuem Leben zu erfüllen, scheiterten letztlich an der Weigerung der Israelis, einen zehnmonatigen Stopp des Siedlungsbaus zu verlängern. Niemand weiß heute, wie es angesichts zunehmender Spekulationen über ein Ende der Zwei-Staaten-Lösung und der Angst vor einem neuen Krieg weitergehen wird.
Viele der etwa 1.200 veröffentlichten Dokumente, die von Offiziellen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Anwälten der von Großbritannien finanzierten PLO Negotiation Support Unit aufgesetzt wurden und ausführliche Mitschriften privater Treffen enthalten, sind unabhängig vom Guardian authentifiziert. Sie wurden überdies von Teilnehmern der Gespräche und geheimdienstlichen und diplomatischen Quellen bestätigt. All dies wird durch von Wikileaks veröffentlichte Telegramme aus dem US-Konsulat in Jerusalem und der US-Botschaft in Tel Aviv ergänzt. Allerdings haben die israelischen Teilnehmer der Gespräche eigene Aufzeichnungen angefertigt, die von den vertraulichen palästinensischen Berichten abweichen können. Das Zugeständnis der palästinensischen Verhandlungsführer aus dem Jahr 2008, Israel alle Siedlungen in Ostjerusalem zuzugestehen – inklusive das umstrittene Gilo – ist nie öffentlich gemacht worden.
Nichts ist vereinbart
Alle Siedlungen, die Israel in den seit 1967 besetzten Gebieten errichtet hat, sind nach internationalem Recht illegal. Dennoch werden die Häuser in Jerusalem von israelischer Seite immer wieder als städtische „Viertel“ beschrieben und wahrgenommen. Sämtliche israelischen Regierungen haben das Ziel verfolgt, die größten Siedlungen durch ein Friedensabkommen israelischem Staatsgebiet zuzuschlagen – Premier Ehud Barak hätte wie gesagt im Sommer 2000 dieses Ziel im Camp David beinahe erreicht.
Saeb Erekat meinte 2008 gegenüber israelischen Führern: „Dies ist das erste Mal in der palästinensisch-israelischen Geschichte, dass offiziell ein solcher Vorschlag gemacht wird.“ In Camp David gab es keine derartigen Konzessionen. Dennoch lehnten die Israelis den Vorschlag kurzerhand ab, weil der eine große Siedlung nahe der Stadt Ma’ale Adumin sowie Har Homa und verschiedene andere tiefer in der Westbank gelegene Enklaven ausklammerte. „Wir mögen diese Vorschläge nicht, weil sie unsere Forderungen nicht erfüllen,“ sagte Israels damalige Außenministerin Tzipi Livni bei den Verhandlungen. Sie wisse aber sehr wohl zu schätzen, dass es für die Palästinenser nicht einfach gewesen sei, diese Vorleistungen zu erbringen.
Wer die Dokumenten der Jahre 1999 bis 2010 aufmerksam liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren – es gab eine wachsende Verzweiflung unter den Führern der Palästinensischen Autonomiebehörde, da ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Hamas durch das Nichtzustandekommen einer Übereinkunft oder das Ausbleiben eines Siedlungsstopps immer weiter untergraben wurde. Die Papiere offenbaren nicht minder das unbeugsame Selbstbewusstsein der israelischen Unterhändler und die oftmals abschätzige Haltung beteiligter US-Politiker gegenüber den Palästinensern.
Inzwischen bezeichnet Saeb Erekat die Protokolle als „Lügen und Halbwahrheiten.“ Queira sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AP „viele Teile der Dokumente“ seien fingiert, um die Palästinenser gegen ihre Führung aufzuhetzen. Die ehemalige palästinensische Unterhändlerin Diana Buttu hingegen rief Erekat wegen der Enthüllungen zum Rücktritt auf. „Saeb muss zurücktreten. Tut er das nicht, zeigt das nur, wie abgehoben und wenig repräsentativ die Unterhändler sind.“
Sowohl palästinensische als auch israelische Offizielle betonen, dass jede Verhandlungsposition dem Prinzip „nichts ist vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist“ unterstehe und damit ohne allumfassende Übereinkunft nichtig sei.
Kommentare 5
Unterhändler tragen nicht nur Unterhemden, sondern auch Unterpositionen und Unterangebote. Es bleibt nur noch das Angebot, als Palistaat in die Verbannung zu gehen, um auf der Insel "Pala" um Anerkennung durch Israel (und deren Führung) zu betteln. (english.aljazeera.net/palestinepapers/)
Jens Berger dazu:
www.spiegelfechter.com/wordpress/4881/die-palestine-papers
Der Spiegelfechter hats mal wieder auf den Punkt gebracht, die Kommentare sind teilweise äußerst typisch.
Aber über die Boden- und Grenzfragen hinaus braut sich an zwei Punkten etwas zusammen:
1. Das Recht auf Rückkehr, das - wenn die Dokumente echt sind - größtenteils aufgegeben werden sollte.
Wer dieses Recht ignoriert, übersieht dabei, dass es weltweit etliche Millionen Palästinenser gibt, die an ihrem Wohnort keine Rechte haben - und deren Kinder auch keine gegeben werden. Für sie ist die EINZIGE Option ein wirkliches Rückkehrrecht - und nicht in ein völlig überfülltes Mini-Bantustan-Palästina.
Diese Palästinenser werden nie gefragt, dürfen die palästinensische Führung, die über ihr Schicksal entscheidet, nicht wählen. Das wird grundsätzlich völlig verschwiegen.
2. So, wie die Verhandlungen geführt worden zu sein scheinen, fragt sich, was aus den in Israel lebenden Palästinensern werden soll:
english.aljazeera.net/palestinepapers/2011/01/201112411450358613.html
Das jetzt nur ganz kurz - aber gerade da liegt noch eine Menge Sprengstoff, die weit über das hinausgeht, was bei Verhandlungen über Grenzziehungen sichtbar wird.
Ich hatte zugegebenermaßen mit nicht wenig Spannung erwartet, wie der Guardian seinen bekannten editorial stance renoviert, denn bei Licht besehen müßte man nach dem Bekanntwerden dieser Veröffentlichungen die gesamte Nahostberichterstattung des Guardian der letzten Jahre in der Pfeife rauchen:
Wherever the actual truth of this lies, it seems to me, the Guardian is stuffed. Either it’s right about the content of the documents -- in which case its whole analysis of the Middle East has been totally wrong all these years; or in its desire to destroy Israel it has fallen for an epic scam, and those writers who couldn’t contain their eagerness to put the boot into Israel in this morning’s paper are thus revealed to be idiots.
Has the Guardian stuffed itself? (spectator.co.uk, 24.01.11)
"Livni told Palestinian negotiators in 2007 that she was against international law and insisted that it could not be included in terms of reference for the talks: “I was the minister of justice”, she said. “But I am against law – international law in particular.”
www.guardian.co.uk/world/2011/jan/24/papers-palestinian-leaders-refugees-fight