„Ob ich mir Thermounterhosen kaufe?“

Engagement Jarvis Cocker ist der coolste Musiker der Welt. Wenn er sich nun für die Arktis einsetzt, wird er dann – oh Gott – zu Sting?
Er liebt das Eis: Jarvis Cocker war bereits mit einer Expedition nahe des Polarkreises unterwegs
Er liebt das Eis: Jarvis Cocker war bereits mit einer Expedition nahe des Polarkreises unterwegs

Foto: Gary Salter/ The Guardian

Jarvis Cocker blinzelt geduldig, während man ihm Bart und Haupthaar mit Salz und Zucker bespritzt. Er posiert für einen Fotografen als erfrorener Arktisforscher, blinzelt durch seine Brillengläser und tut gutmütig so, als würde er frieren. Gutmütigkeit – das ist es, was wir alle von Jarvis erwarten würden. Aber er? Behauptet, er sei ein Fiesling. „Es ist gut, dass ich es geschafft habe, so viele Menschen hinters Licht zu führen. Ich bin eigentlich kein besonders netter Mensch.“

Ich lächle nachsichtig – und glaube kein Wort. Wann er sich in letzter Zeit schlecht benommen habe, frage ich. „Als wir mit Pulp“, seiner Band, „in Brixton waren. Steve, unser Bassist, schrie mich an, weil ich auf der Bühne gemein zu unserem Gitarristen Mark war. Er sagte: ‚Du bist der einzige, der ein Mikrofon in den Händen hält. Die anderen können dir nicht antworten.’ Ich schob es auf die Steroide, die ich wegen eines Lungenproblems nehme.“

Dann sagt er dem Mann, der für das Spezial-Make-up zuständig ist und Cockers Tweed-Jackett eingesaut hat, er brauche sich deswegen keine Sorgen zu machen. Das würde wieder sauber. Seine Behauptung, er sei ein gemeiner Kerl, lässt das nicht glaubwürdiger wirken.

Doch dann lernen wir wirklich noch eine andere Seite von Jarvis Cocker kennen: Jarvis, der Umweltbotschafter. Greenpeace bereitet eine Umweltkampagne vor, die zur prägendsten unserer Generation werden soll, und Jarvis ist ihr Frontmann für Großbritannien. Wie man an Cockers Eismann-Aufmachung sehen kann, geht es dabei um die Arktis, die, weil ihr Eis schmilzt, ungewollte Aufmerksamkeit erfährt. In der Region steigen die Temperaturen schneller als irgendwo sonst und lassen die Eiskappen schmelzen. Wissenschaftler halten es für möglich, dass der Nordpol in 20 Jahren im Sommer eisfrei sein wird.

Arktis als internationaler Park

Seit das Eis schmilzt, kommen Vertreter aus Anrainer- wie Nichtanrainerstaaten wie Geier in Schneeschuhen, um die Beute unter sich aufzuteilen. Dazu gehören die potenziellen Fischgründe im aufgetauten arktischen Ozean und 90 Milliarden Barrel Öl unter der schmelzenden Eisdecke. Dass diese Menge nur ausreicht, die Welt drei Jahre lang mit Treib- und Schmiermittel zu versorgen, spielt dabei keine Rolle. Ist die Menschheit manchmal nicht zum Verlieben? Zum Verlieben blöd?

Greenpeace wird ein Moratorium für die Erforschung der Arktis fordern und dagegen protestieren, dass jemand die Arktis zu Privatbesitz erklärt. Die Forderung lautet, sie müsse Allgemeingut bleiben – ein internationaler Park unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Der Nordpol habe lange als unwirtliche Ödnis gegolten, sagt John Sauven, Vorsitzender von Greenpeace Großbritannien. Jetzt, wo das Eis schmilzt, werde er als Quelle von Bodenschätzen angesehen. Verschiedene Länder brächten ihre Seestreitkräfte in Stellung, um ihn auszuplündern. „Es handelt sich“, sagt Sauven, „um die bestimmende ökologische Auseinandersetzung unserer Zeit. Die Situation der Arktis ist dramatisch.“

Jarvis Cocker ist selbst dort gewesen. „Ich bin kein wirklicher Experte, aber als ich gehört habe, dass sie anfangen wollen, die Arktis aufzugraben, dachte ich mir: Moment mal, das ist nicht gut“, sagt er in einer völlig undramatischen Tonlage. 2008 schloss er sich daher einer Cape-Farewell-Expedition in das Gebiet nördlich des Polarkreises an. Cape Farewell ist ein vom Künstler David Buckland ins Leben gerufenes Projekt. Die Kernidee besteht darin, eine Partnerschaft zwischen kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen zu etablieren und so das öffentliche Bewusstsein für den Klimawandel zu vergrößern. Künstler wie Martha Wainwright, Ian McEwan oder eben Cocker haben in diesem Zusammenhang bereits vom Klimawandel besonders betroffene Regionen besucht; die Hoffnung von Cape Farewell ist, dass die Erfahrung ihre Arbeit beeinflusst. „David Buckland sagt nicht: ‚Okay, wir haben euch jetzt hier, wo ihr nicht entkommen könnt. Schreibt jetzt einen Song‘ oder: ‚McEwan, von dir will ich zehn Seiten‘“, sagt Cocker. Die Idee ist: Wer den Klimawandel tatsächlich gesehen hat, aus dem sprudelt dann schon von alleine etwas.

„Wir verstehen es nicht“

An einem Moment der Reise, sagt Cocker – am Abend, an dem ihr Schiff, der Forschungsdampfer Grigory Mikheev, durch eine steile Schlucht trieb –, sei etwas mit ihm geschehen. „Ich stand an Deck und hätte am liebsten losgeheult. Ich kann nicht sagen, warum. Vielleicht lag es an der spektakulären Landschaft und der völligen Abwesenheit von Menschen.“ Jedenfalls gehe es darum, dass Kräfte wie diese Gletscher Millionen Jahre lang Steine bewegt haben; sie tun das immer noch. „Und wir sollten damit aufhören, damit Schindluder zu treiben. Wir verstehen es nicht.“

Ob diese Epiphanie Auswirkungen auf sein Verhalten gehabt hat? „Ich habe mich wahrscheinlich tatsächlich ein wenig verändert“, sagt er. Er zeigt den Stoffbeutel, den er bei sich trägt, er sagt, er fahre in London öfter mit dem Fahrrad, weite Strecken lege er am liebsten mit dem emissionsarmen Eurostar zurück, etwa wenn er seinen Sohn in Paris besucht. „Aber ich möchte kein Fanatiker werden. Den Leuten werden schon genug Vorwürfe gemacht. Man muss akzeptieren, dass sie bestimmte Sachen einfach haben wollen. Man möchte ja nicht, dass es zugeht wie in Ostdeutschland, wo jeder einen Trabi fahren musste. Man kann nicht jegliche Wahlfreiheit abschaffen. Ich glaube nicht, dass man den Leuten einfach sagen kann, dass sie ihr Auto stehen lassen müssen. Schließlich kann man im eigenen Auto die Musik aufdrehen und sich in der Nase bohren.“ Ich will einwenden, dass die Leute das im Bus auch machen, da schiebt er nach: „Wenn man sie in Ruhe lässt, wollen die Leute im Grunde genommen das Richtige tun.“

Keine Lust, das übliche Spiel der Show mitzuspielen

Man kann sich nicht vorstellen, dass Jarvis zum Öko-Missionar mutieren könnte, und es wird interessant sein zu sehen, wie ihm die aufgeladene Greenpeace-Kampagne schmecken wird. Sie muss schließlich notwendigerweise starke Forderungen beinhalten. Cockers Art dagegen ist weitschweifig, recht differenziert. Man merkt das im Gespräch: Er holt oft weit aus.

Er sagt auch nicht immer, was er sagen soll. Britische Fernsehzuschauer wissen das. 2009 war Cocker Gast in der BBC-Sendung Question Time. Kritiker warfen ihm vor, nicht gut vorbereitet gewesen zu sein. „Ich war in der Sendung nicht sonderlich gut“, gibt er zu. Er sagt aber auch, er habe vor allem keine Lust gehabt, das übliche Spiel der Show mitzuspielen, in der die beiden Gäste „zum reinen Selbstzweck“ gegensätzliche Meinungen vertreten sollten.

„Ich hatte das Gefühl, ich solle eine Gegenposition zu Peter Hitchens einnehmen und jedes Mal, wenn er etwas sagt, widersprechen.“ Hitchens ist ein Journalist mit konservativen Moralvorstellungen. „Aber ich konnte vielem, was er sagte, nur zustimmen.“ Als der Moderator ihn aufgefordert habe, Hitchens Kontra zu geben, „dachte ich mir: ‚Nein. Leck mich‘ “. Wenn zwei sich streiten, halte das jeder für gutes Fernsehen. „Dabei wäre es doch großartig, wenn sich am Ende einer Diskussion alle einig wären. Im Fernsehen hat man es dann ja auch noch mit diesen Vorinterviews zu tun, wo man gefragt wird, was man sagen wird. So etwas macht mich wahnsinnig.“ Wenn man schon wisse, was herauskommt, könne man dann nicht einen Aufsatz vorlesen? „Es könnte doch sein, dass wir etwas Neues herausfinden, während wir uns unterhalten. Mir ist jedenfalls eine peinliche Pause lieber.“ In seinen eigenen Interviews in seiner BBC-Radiosendung Sunday Service gibt es diese Pausen.

Das heißt nicht, dass er keine Position bezieht. Er erklärte sich mit der Occupy-Bewegung solidarisch und geriet ein wenig in Schwierigkeiten, weil er sich 2011 an einer Demonstration gegen die Erhöhung von Studiengebühren beteiligt hatte. Für jemanden, der für die BBC arbeitet, war das wohl nicht unparteiisch genug.

Durch das Gespräch über Positionen und Haltungen bietet er mir die Gelegenheit, das Unerwähnbare zu erwähnen: Bereut er den Vorfall bei den Brit-Awards 1996, als er Michael Jacksons Auftritt störte – nun, da er sich mit der Arktis und anderen Umweltthemen beschäftigt? Jackson sang dort seinen „Earth Song“ und wollte damit unsere Aufmerksamkeit auf die Probleme des Planeten lenken. „Nun ja“, ergänzt Cocker und rollt leicht mit den Augen. „Und dabei gerierte er sich als Jesus Christus.“

„Ich rette die Welt?“ Irritierend

Er selbst wurde wegen seiner Beteiligung an der Cape-Farewell-Expedition bereits als „Indie-Sting“ bezeichnet. Klingt wie eine Beleidigung. „Ich bin sicher, Sting ist ein großartiger Typ“, sagt er und versucht es diplomatisch. „Diese Überernsthaftigkeit ist bei Musikern oder anderen Prominenten immer ein wenig problematisch. Man denkt oft, die wollten sich nur wichtig machen, nach dem Motto: ‚Ich spiele nicht nur in Transformers III mit – ich rette die Welt!‘ Ich weiß, dass das irritierend ist. Was ich sagen kann, ist, dass ich mich ein wenig für die Arktis verantwortlich fühle, weil ich schon einmal in diesem Teil der Erde war.“

John Sauven von Greenpeace zufolge wird die neue Kampagne so viel Unterstützung brauchen wie keine zuvor. Er sagt, uns blieben weniger als drei Jahre, um eine Zerstörung des Ökosystems zu verhindern. „Wenn diese Kampagne Erfolg haben sollte, verdanken wir das der Hilfe von Leuten wie Jarvis und ihrer Fähigkeit, andere zu erreichen.“ Das wirft die Frage auf, wie weit Cocker für den Planeten zu gehen bereit ist. Wird man sich an den Britpop-Chronisten des Alltagslebens eines Tages eher wegen seines Kampfes gegen Arktisplünderer erinnern als wegen des Songs „Common People“? Er denkt laut nach, was die Kampagne für ihn bedeutet. „Was denken Sie – werde ich die ganze Zeit auf einem Schiff verbringen?“, fragt er. „Vielleicht werde ich an den Bug gefesselt. Aber es wird nicht um mich oder irgendein anderes Individuum gehen – es braucht alle, damit die Dinge sich ändern. Ich werde mein Bestes geben. Vielleicht sollte ich damit anfangen, mir Thermo-Unterwäsche zu kaufen.“

Lucy Siegle schreibt für den Guardian unter anderem über Ethik im Alltag

Britpop-Chronist und feiner Beobachter des Alltagslebens

Jarvis Cocker wurde 1963 in Sheffield geboren. Berühmt wurde er als Sänger der – bereits Ende der siebziger Jahre als Arabicus Pulp gegründeten – Band Pulp, die nach einer „kreativen Pause“ von knapp zehn Jahren seit 2011 wieder Konzerte spielt. Als die Britpop-Welle junge Bands wie Oasis und Blur auf die Bildfläche spülte, Mitte der neunziger Jahre, veröffentlichte Pulp das bereits fünfte Album, „Different Class“, das große Songs wie „Common People“ und „Disco 2000“ enthielt.

Cocker veröffentlichte in den vergangenen Jahren auch einige Soloalben. Seine Texte als sozialkritisch zu bezeichnen, wäre albern, das weckt zu stark die Assoziation „Pädagogenrock“. Sie zeugen vor allem von Witz und feiner Beobachtungsgabe im Alltag und sind in unpeinlichem Sinn nicht unpolitisch. Cocker gilt nicht nur als Stilikone, er ist selbstverständlich auch eine. Er ist, grob gesagt, ein Mann, der jeden Krawattenknoten binden kann, sich aber trotzdem keinen bindet. Bei BBC 6 hat er eine eigene Radiosendung, Sunday Service (in einer Pause bis September). Sein Wunsch: den Sonntag, der sich anfühle wie jeder Werktag, wieder zu einem langweiligen Tag zu machen.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Lucy Siegle | The Guardian

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