50 zu 50

Afghanistan Die neue Strategie des US-Präsidenten ist ein unkalkulierbares Glücksspiel. Es geht um viel – auch um das politische Überleben des Mannes im Weißen Haus

Barack Obamas neue Afghanistan-Strategie ist ein schicksalsschwerer, wenn nicht sogar der entscheidende Moment seiner noch jungen Präsidentschaft. Wenn er versucht, ein Land zu besiegen, es unter Kontrolle zu bringen, zu vereinen und dann ehrenvoll zu verlassen, das in den 2.500 Jahren seiner Geschichte, die erfasst sind, der Eroberung von außen stets getrotzt hat, dann zielt er genau dort auf Erfolgserlebnisse, wo unter anderen Alexander der Große kläglich gescheitert ist.

Obwohl die Geburt der Strategie von langwierigen Debatten und gequälten Diskussionen begleitet wurde, ist sie nun eine Art Glücksspiel, dessen Erfolgsaussichten 50 zu 50 stehen. Der Preis, der im Falle eines Sieges (wenn dieser Begriff denn überhaupt zutreffend ist) entrichtet werden muss, wird hoch sein. Für viele in Afghanistan, Europa und den USA ist er bereits jetzt viel zu hoch. Der Preis im Falle einer Niederlage lässt sich überhaupt nicht kalkulieren. Das gilt sowohl für das afghanische Volk, als auch für die instabile pakistanische Zivilregierung, die zögerliche NATO-Allianz, den Kampf auf Leben und Tod gegen den islamischen Extremismus und Obamas eigenes politisches Überleben.

Vielleicht hält die Strategie aus eben diesen Gründen für jeden etwas bereit, nicht zuletzt für die feindlichen Taliban. Während sie einerseits ihre Strategie ausweiten, läuten die USA und ihre Verbündeten andererseits ihren Abzug ein. Während sie einerseits die Größe der kämpfenden Truppen drastisch aufstocken, sprechen sie andererseits noch lauter über die „Afghanisierung“ und eine Einigung mit den sogenannten gemäßigten Kräften. Während sie einerseits Präsident Hamid Karzais Regierung dazu drängen, sich für eine Stärkung des afghanischen Nationalstaates einzusetzen, streben sie andererseits die Dezentralisierung der Macht an und wollen sie auf die traditionellen Stammesgefüge in den Provinzen und Bezirken verlagern.

Heimtückischer Sprengsatz

Um es mit den Worten eines Beraters im Weißen Haus zu sagen: Die sorgfältig austarierte Strategie, mit ihren unzähligen Facetten, bleibt ein „potentielles Minenfeld“. Wenn sich die Schlacht in Afghanistan in den kommenden Monaten rasend weiterentwickelt, könnte sie, gerade so wie ein heimtückischer, provisorischer Sprengsatz, dem Präsidenten das Genick brechen. Der Krieg ist jetzt Obamas Krieg. Und er könnte sein prominentestes Opfer werden.

Wird seine Strategie aufgehen? Der Startschuss ist gefallen; das Rennen um die Umsetzung des Plans ist in vollem Gang. An der militärischen Front werden bis zu 9.000 US-Marines in den nächsten Tagen die Vorbereitungen auf ihren bevorstehenden Einsatz in Kandahar und Helmand abschließen, wo britische und kanadische Truppen in erbitterte Kämpfe verwickelt sind. „Die ersten Truppen, die wir losschicken, werden die Marines sein“, erklärte ihr Kommandant General James Conway am Wochenende. „Wir haben uns in Erwartung einer Entscheidung vorausschauend vorbereitet. Uns stehen ziemlich heftige Gefechte bevor.“

Die Entsendung wird die Zahl der US-Truppen im Süden beinahe verdoppeln und ist eine willkommene Unterstützung für die britischen Streitkräfte. Eines der ersten Ziele wird vermutlich die Taliban-Hochburg Marjeh sein, ein Zentrum des Opiumhandels in der Provinz Helmand. Außerdem werden die USA etwa 1.000 Militärausbilder in den Süden entsenden.

Druck auf Pakistan

Zusätzliche Streitkräfte werden erwartungsgemäß auch in die Provinzen Paktia und Paktika im Osten des Landes und in die Provinz Khost entsandt. Khost ist eine der Operationsbasen des Haqqani-Klans, dessen Einfluss über die afghanisch-pakistanische Grenze bis hinein nach Waziristan reicht. Die USA werden außerdem den Druck auf die Regierung in Islamabad erhöhen, damit diese ihre umstrittene Binnen-Offensive gegen die pakistanischen Taliban in den Stammesgebieten gleichzeitig ausweitet.

Ein anderer Schwerpunkt der Strategie ist der Schutz der afghanischen Städte, der Orte, an denen die Zivilbevölkerung zusammenkommt, der Straßen und des Kommunikationsnetzes. Diese Taktik, die bereits die sowjetische Besatzungsmacht in den Achtzigern verfolgte, wurde von General Stanley McChrystal, dem Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte, unlängst wiederbelebt. Um diesen Schutz zu gewährleisten, wird damit gerechnet, dass die Truppen rund um Kandahar und andere Städte schnell aufgestockt werden. Erst vor kurzem hatte der britische Generalmajor Nick Carter, der neue Befehlshaber im südlichen Afghanistan, erläutert, wie die Truppen, die im Moment in den ländlichen Gegenden stationiert sind, als eine Art Schutzschild rund um Kandahar konzentriert werden könnten.

Derweil soll die Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung, der Bildung und der Sicherheit verstärkt werden, um „normale“ städtische Lebensbedingungen zu schaffen, die von dem Aufstand nicht berührt werden. Sie wird als logische Weiterentwicklung der aktuellen „clear and hold“-Strategie („halten und säubern“) gesehen.

"Killer-Razzien" gehen weiter

Gleichzeitig sollen die zielgerichteten „Killer-Razzien“ gegen Al-Qaida und die Taliban in den Bergen und auf dem Land mit Spezialeinheiten, unbemannten Predator-Dronen, die Raketen abfeuern und immer mehr afghanischen Einheiten, zunehmen. Sie sollen die ungeschützten Patrouillen in den ländlichen Gegenden, die in diesem Jahr so viele britische Opfer gefordert haben, nach Möglichkeit ersetzen können.

Andere entscheidende Aspekte der Strategie der Alliierten sind die schneller Ausbildung und der Einsatz von afghanischen Streitkräften und Polizeieinheiten, deren Zahl sich bis Ende 2010 verdoppeln soll; direkte Gespräche mit den Anführern der Taliban in Quetta; die Entwicklung kommunaler Verwaltungen in mehr als 400 afghanischen Provinzen und Bezirken und der anhaltende Druck auf Karzai, um eine fähige nationale Regierung und ein hartes Vorgehen gegen die Korruption zu gewährleisten.

Nicht alle diese Punkte werden sich schnell genug verwirklichen lassen, weder teilweise noch überhaupt. Obama setzt wie ein Spieler darauf, dass sich wenigstens ein Teil davon auszahlen wird. Große Hoffnungen werden in die erhöhten finanziellen und sonstigen Anreize gesetzt, die dazu führen sollen, dass die Bürger- und Stammesmilizen, ganz nach dem Vorbild des sunnitischen Erweckungsrates im Irak in den Jahre 2006 und 2007, den Aufständischen die Gefolgschaft verweigern werden. Sollte dieser Prozess in Gang kommen und die „Afghanisierung“ des Konflikts mit Erfolg beschleunigt werden, dann wäre es tatsächlich möglich, dass die etappenweise Übergabe der Kontrolle in den Provinzen, wie Gordon Brown sie sich vorstellt, Ende 2010 beginnen kann. So muss der Ausweg aussehen.

Die Aufgabe ist zu groß

Und doch ist das ganze ein unkalkulierbares Glücksspiel. Obama läuft die Zeit davon, sowohl innenpolitisch als auch im Hinblick auf den Rückhalt in der Bevölkerung. Es ist davon auszugehen, dass ihm weniger als ein Jahr Zeit bleiben wird, dann muss er entscheidende Fortschritte vorweisen. Währenddessen steigen die Kosten unermüdlich. Pakistan, das Gegenstand zahlreicher Spekulationen über einen zusätzlichen Militärschlag ist, liefert weiterhin Grund zur Sorge. Dasselbe gilt für das Durchhaltevermögen der NATO-Verbündeten, gleichwohl die USA sie bei der Außenministerkonferenz in Brüssel diese Woche hart in die Mangel nehmen werden.

Vor allem aber muss Obama eine afghanische Bevölkerung für sich gewinnen, die durch die Fehler, die der Westen seit 2001 gemacht hat, desillusioniert ist und die empört darüber ist, dass Karzais erschummelter Wahlsieg anerkannt wird. Keiner, der von außen kam, hat dieses Ziel jemals erreicht. Die Aufgabe ist zu groß – auch für einen Alexander von heute.

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Simon Tisdall, The Guardian | The Guardian

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